Der Sühnungstag
Kommentar zu 3. Mose 16

Asasel oder das Los des Volkes

Der Sühnungstag

Wir wollen unsere Aufmerksamkeit nun auf die Anweisungen lenken, die Gott hinsichtlich des Bockes gibt, der weggeschickt wird. Dieser Gegenstand wird etwas deutlicher werden, wenn wir uns zum allgemeinen Vergleich die Kraft des Loses des HERRN, also des ersten Bockes, wieder ins Gedächtnis rufen. Denn es gab, wie wir gesehen haben, zwei Böcke zu Gunsten Israels. Unbestreitbar stellten sie zusammen das Sündopfer dar (Vers 5). Und beide wurden vor dem HERRN dargebracht (Vers 7). Der erste Bock ist aber seinem Ziel nach der wichtigere von beiden. Wir sehen ihn nicht als für das Volk, sondern als für den HERRN. Er war offensichtlich und eindeutig für Gott. Das muss besonders beachtet werden; denn wenn das Herz erweckt ist, ist es in der ständigen Gefahr, nur an eine Erleichterung für seine plötzlich empfundene Not zu denken. Man ist allein erfüllt von dem Gedanken an ein Hilfsmittel für das Elend, das der Geist Gottes die Seele erkennen lässt, für jenen totalen Untergang durch die Sünde, durch den die Seele so belastet wird und weshalb sie mit Tränen und seufzend zu Gott um Gnade ruft.

Nun greift der erste Bock oder das Los des HERRN eine ganz andere Notwendigkeit auf – seine Herrlichkeit, die durch die Sünde angetastet und verletzt worden ist. Das Los war unverzichtbar und vorrangig, wenn eine Seele wirklich befreit werden sollte. Bevor es auf irgendeiner gerechten Grundlage den Ausgangspunkt zur Erlösung von Sündern geben konnte, musste Gott hinsichtlich der Sünde verherrlicht werden, und hier hat das Los des HERRN seinen Platz. Deshalb hat Gott auf Grund des Blutes, das innerhalb des Vorhangs getragen wurde und das auf den Versöhnungsdeckel und davor gesprengt wurde, seine tiefe Befriedigung in dem unendlichen Werk seines Sohnes, unseres Herrn Jesus. Denn sein Werk hat die Ungerechtigkeit des Menschen durch seine eigene unendliche, bis zum Äußersten reichende und um jeden Preis geschehene Hingabe gegenüber Gottes Natur und Herrlichkeit ersetzt. Gott fand in jenem Blut seine Ruhe, das von göttlicher Liebe und vollkommenem Leiden für die Sünde sprach. Das Räucherwerk war mehr der liebliche Geruch seiner persönlichen Gnade im Gericht.

Aber der Gehorsam wurde in Schmach und Leiden bis zum Tod im Gericht über die Sünde vollendet; und es war ein solcher Tod, wie ihn keiner außer dem Sohn Gottes schmecken konnte. Das Werk wurde vollbracht, sodass, was die Sünde betrifft, jedes Hindernis weggenommen ist. Und Gott ist gerecht, wenn Er die Botschaft seiner Gnade an die ganze Schöpfung unter dem Himmel verkünden lässt. Wir sehen, dass dies solange nicht offenbart werden konnte, wie das Gesetz bestand. Das Gesetz bezog sich notwendigerweise auf Israel allein. Sie waren sein Volk, sie allein. Alle anderen Nationen waren ohne Gesetz und waren unrein oder, um den alten Vergleich zu gebrauchen, „Hunde“, wie groß die Barmherzigkeit Gottes auch sein mochte. Gott war allezeit überströmend in Gnade und war Liebe und Licht in sich selbst. Doch wie auch immer Gottes Natur und seine Ratschlüsse sein mochten, es konnte doch, solange die Schranke des Gesetzes vor Ihm war und diese noch nicht auf gerechte Weise hinweg getan war, jene Gnade noch nicht voll zum Ausdruck kommen, die im Tod unseres Herrn Jesus jedes Hindernis zwischen Gottes Liebe und dem Menschen in seiner Sünde entfernte.

Wir müssen bedenken, dass Israel die ganze Zeit, während der große Sühnungstag bei ihnen gefeiert wurde, unter der Kraft des Gesetzes stand. Es hätte das Gesetz kraftlos gemacht, wenn die Gnade, die einen Heiden, wenn er glaubt, genauso behandelt wie einen Juden, offenbart gewesen wäre. Das Gesetz ist tatsächlich das System, das auf der Unterscheidung zwischen dem auserwählten Samen Abrahams und den Nationen besteht. Dass dies jetzt vorbei ist, ist eine wesentliche Wahrheit des Evangeliums und der Versammlung Gottes; und beide, das Evangelium und die Versammlung, sind die Frucht, nicht des Bildes, sondern des Gegenbildes, Christi. Der große Sühnungstag, den Israel einmal im Jahr beging, erhielt den Unterschied aufrecht, aber die Gnade und Wahrheit, die durch Jesus kam und an seinem Kreuz hervorleuchtete, und das Licht der Herrlichkeit beseitigten jeden Schatten dieser Art. Das erklärt vollständig die Tatsache, dass wir in dem Bild nichts über die Heiden hören. Gleichzeitig können wir wieder beobachten, wie wenig bei dem ersten Bock von Israel gesagt wird. Der Grund dafür ist klar. Es ging im höchsten Maß um Gott; Er musste deshalb verherrlicht werden; seine Natur, sein Licht und seine Liebe mussten befriedigt werden, ebenso wie auch seine Majestät und Wahrheit in dem Sühnungswerk.

Genau das war das Ziel bei dem ersten Bock, soweit ein Bild das verdeutlichen konnte. Es war das Los des HERRN. Aber war das alles, was das Sühnungswerk einschließt? Weit gefehlt. Das, was viel näher und mehr und unmittelbarer den Sünder betrifft und betrachtet, wird uns in dem zweiten Bock dargestellt; und von diesem haben wir gerade gelesen.

„Und hat er die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Zusammenkunft und des Altars vollendet …“ Dies steht im Zusammenhang mit dem ersten Bock. So war es auch mit dem Stier, abgesehen davon, dass dort der besondere Gedanke der Versöhnung für das priesterliche Haus eine Rolle spielte. Sowohl bei dem ersten Bock als auch bei dem Stier gab es nicht nur die Befriedigung Gottes hinsichtlich seiner eigenen Herrlichkeit im Verhältnis zu denen, die sündig waren, sondern auch die Sühnung der himmlischen Örter, die durch das Heiligtum und das Zelt der Zusammenkunft mit dem Altar dargestellt wurden.

Die Auslegung bleibt keineswegs unserer Fantasie überlassen. Im ersten Kapitel des Kolosserbriefes finden wir die Wahrheit, die dies alles erklärt: „Um durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen – indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes – durch ihn“. Was ist mit „alle Dinge“ gemeint? Personen auf der Erde oder im Himmel? Weder noch. Die Schöpfung als Ganzes ist hier mit „alle Dinge“ gemeint, „es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln“. Um zu beweisen, dass das die Bedeutung ist, braucht man nur weiter zu lesen: „und euch … hat er versöhnt“. Nichts kann genauer sein. Das Versöhnen von „allen Dingen“ und nicht „von uns“ allein ist mit dem Kreuz unseres Herrn Jesus Christus verbunden. Da hören wir von Gottes großem Ratschluss für die Zukunft, wenn Frieden gemacht wurde durch das Blut seines Kreuzes, „um durch ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen“. Als nächstes folgt dann die Anwendung vom versöhnenden Werk Christi auf die, welche jetzt glauben.

Es geht hier auch um die Reihenfolge: „Und hat er die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Zusammenkunft und des Altars vollendet, so soll er den lebendigen Bock herzubringen. Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebendigen Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“. Hier wird ein sehr lebhaftes Bild von dem gegeben, was die Seele, wenn sie erweckt ist, als eine unerträgliche Last empfindet. Der Hohepriester wird hier gesehen und gehört, wie er sich ständig und allein mit dem betrübten Herzen und belasteten Gewissen Israels beschäftigt. Für alles, was die Seele bedrücken konnte, trifft Gott nach seiner reichen Barmherzigkeit Vorkehrungen. „Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebendigen Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“. Es ist gut, diese Worte zu wiederholen. Kann etwas, was so sehr ein bedrücktes Gewissen belastet, in geeigneteren Worten zum Ausdruck gebracht werden? Wie berührt es uns zutiefst, dass Gott so stark seinen Wunsch bezeugt, dass sie nicht mit dieser vernichtenden Last auf ihrer Seele beladen sein sollen: „Und Aaron … bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten etc.“.

Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass es bei dem ersten Bock kein Auflegen der Hände gab und zu diesem Zeitpunkt auch kein Bekenntnis irgendwelcher Sünden. Trotzdem übertrifft das, was da getan wurde, an Bedeutung das, was jetzt geschieht, denn es gibt nichts, was so sehr zu der Wurzel der Sünde durchdringt als Gottes Urteil über sie im Tod. Auch bezeugt nichts deutlicher die Entfernung der Beschmutzung durch die Sünde als die Tatsache, dass das Blut auf und vor den Deckel gesprengt wurde. Dies machte deutlich, dass Gott in dem befriedigt war, was die Sünde verdiente, und gleichzeitig bezeugte, dass, wenn die Sünde nicht aus der Gegenwart Gottes entrinnen kann, Er Vorsorge getroffen hat, dass das Blut, das von jeder Sünde reinigt, dort eindringt. Deshalb ist das, was vor Gott bleibt, nicht die Sünde, sondern das Blut, welches das volle Sühnungswerk für die Sünde vollbringt. Doch die Sünder waren noch draußen. Es ging überhaupt nicht darum, das Blut auf sie zu sprengen. Hierin liegt ein ernsthaftes Missverständnis, und es ist wirklich ein folgenschwerer Irrtum hinsichtlich des Sühnungswerkes.

Die Menschen denken bei dem Werk unseres Herrn Jesus nur an den Sünder. Aber das ist nicht richtig; der vorrangige Aspekt bei dem Sühnungswerk ist auf Gott gerichtet. Die Sünde wird vor Ihm gerichtet. Es wird auch an den Sünder gedacht, aber alles an seinem Platz; und wenn er vor unsere Augen gestellt wird, haben wir ein sehr ausführliches Bekenntnis. Gibt es irgendetwas, das eine tiefer gehende, reinigendere Wirkung hat als das Bekenntnis? Die römische Kirche weiß, wie sie sich das menschlich zunutze machen kann, denn je schwächer der Glaube des einzelnen ist, umso größer ist der Trost, den er aus der Beichte seiner Sünde in das Ohr eines Mitmenschen schöpft. Gott bedeutet in solch einem Fall wenig oder nichts; doch das verhärtete Gewissen des Menschen empfindet große Erleichterung aus der Annahme, dass der Priester, dem er beichtet, stellvertretend an der Stelle von Gott steht und dass er berechtigt ist, in seinem Namen dem Menschen die Absolution zu erteilen.

Welche Wahrheit im Bekenntnis liegt, wird uns hier in der wichtigsten Form vor die Augen gestellt. Es soll nicht im Geringsten geleugnet werden, dass das Bekenntnis von der Seele aus geschieht. Wir wissen aus dem ersten Johannesbrief, dass, „wenn wir unsere Sünden bekennen, (…) er treu und gerecht (ist), dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“. Die „Reinigung von aller Ungerechtigkeit“ ist moralisch gesehen eine wichtige Wahrheit. Der Wunsch, irgendetwas vor Gott zu verbergen, ist ein Unrecht. Es gibt niemals ein Gott zugefügtes Unrecht, das keinen Schaden für die Seele mit sich bringt, die vom Bösen nicht befreit wird. Aber was öffnet nun das Herz und bewirkt, dass dem Bekenntnis Vertrauen entgegengebracht wird? Die Gewissheit, dass ein anderer die ganze Last unserer Sünden in all ihrer Größe auf sich genommen hat. Es besteht kein Zweifel daran, wer dies ist. Jesus ist der Einzige, der um alle Sünden wusste, sie fühlte und erkannte. Wir reden nicht nur von seinem Tod als Sühnung und auch nicht nur von unserem Gewissen. Denn viel an echter und demütigender Betrübnis besteht nur in dem Gefühl, dass unser Selbstgericht so oberflächlich ist. Dies konnte der betrübten Seele also keine Ruhe geben. Wie segensvoll war es deshalb, ein absolut vollständiges Bekenntnis von einem zu haben, der so befähigt war wie der Hohepriester!

In der Sprache des Neuen Testamentes ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen der Mensch Jesus Christus. Wenn Er nicht Gott wäre, dann hätte das wirklich wenig Bedeutung; aber da Er Gott ist, ist es eine unendlich wichtige und tröstende Wahrheit, dass Er auch der verantwortliche Mensch war, der jedes Geheimnis von jedem Menschen kannte und alle Sünden und Ungerechtigkeiten jedes Gläubigen vor Gott in derselben Vollkommenheit bekannte, wie Er im Opfer dafür litt. Er wurde Mensch, damit es einen angemessenen Stellvertreter für unsere Sünden geben könnte, die vor Gott dargelegt, empfunden und verabscheut wurden. Derselbe, der, um zu richten, die Herzen und Nieren von allen erforschen muss, nimmt hier in Gnade „Sünden bis zur Unzahl“ und unsere Ungerechtigkeiten auf sich, als wenn es die seinen wären, was es ihm unmöglich macht, zu Gott aufzuschauen. Hier wird uns durch den Hohenpriester kein priesterliches Werk im Heiligtum dargestellt, sondern der Heilige als unser Stellvertreter in absoluter Vollkommenheit des Bekenntnisses. Er ist es, dessen Hände auf das Haupt des Bockes gelegt werden. Das Blut wurde vergossen und als Grundlage in die Gegenwart Gottes gebracht; doch die Sünden wurden nicht weniger, sondern umso schonungsloser bekannt. Gott zeigte so im Bild die Fülle des Werkes Christi für Israel, denn Israel tritt deutlich hervor, wenn wir den zweiten Bock vor uns haben. Dann und dort werden die Sünden in ihrem ganzen Ausmaß und in der Verschiedenheit der Schuld bekannt.

Derselbe Grundsatz ist in dem zu finden, was unser Herr zu der Sünderin im Haus Simons, des Pharisäers, sagte. Die Gnade übergeht die Sünden der Erlösten nicht im Geringsten. Das war unmöglich bei einer Erlösung nach Gottes Willen. Christus entschuldigt sie nicht, welcher Art die Fallen in ihrem Leben von Torheit auch gewesen sein mögen. Sie hatte sich nicht immer so verhalten, wie sie es letzthin tat; doch war sie lange eine große Sünderin gewesen, so wie es die waren, welche sie verachteten. Aber sie war jetzt – wie schade ist es, dass nur so wenige es sind – zu den Füßen Jesu. Dort befand sie sich, ohne ein Wort zu sprechen; aber alles, was sie tat und was sie fühlte, lag vollkommen offen vor seinen Augen, wenn sie auch hinter Ihm stand. Er brauchte sie nicht vor sich zu haben, alles stand für Ihn im Licht; und auch wenn kein Wort gesagt wurde, so waren doch ihre Wege, Gedanken und Gefühle Ihm, der das Leben jeder Seele kennt, vollständig bekannt. Von Ihm allein erwartete sie die Gnade, die sie brauchte. Deshalb sagte Er: „... ihre vielen Sünden sind vergeben“. Doch ganz gewiss wurden ihre Sünden nicht beschönigt.

Es war nicht genug zu sagen: „Sie sollen bald alle durch das Sühnungsblut weggetan werden“, die Sünden wurden nicht abgeschwächt, sondern sie erschienen umso ernster aufgrund der Gnade, die in Christus das Blut gab, das allein alles reinigen und hinweg tun kann. Sie werden alle einzeln in ihrer ganzen Verderbtheit empfunden. Sie wurden auf das Haupt des lebendigen Bockes gelegt; denn das war die Form, die Gott vorschrieb, um Israel ein ausreichendes Zeugnis dafür zu geben, dass ihre Sünden weggetan wurden. Das Bild machte deutlich, dass sie weggetan wurden, um nie wieder aufzutauchen.

Ohne Zweifel wurde unter dem Gesetz die Ewigkeit nicht deutlich offenbart. Aber was jährlich für die Juden geschah, gilt ewig für den Christen. Es wird uns nicht überlassen, in dieser Sache durch Überlegungen Schlussfolgerungen zu ziehen, sondern wir haben die genaue und deutliche Offenbarung Gottes im Hebräerbrief (Heb 10,1.2). Gott sagt an dieser Stelle von den Gläubigen, die einmal gereinigt sind, dass sie „kein Gewissen mehr von Sünden“ haben.

Habt ihr, meine lieben Freunde, solch eine Reinigung durch das Blut Christi, die euch kein Gewissen mehr von Sünden gibt? Wie selten ist es, dass man ein Kind Gottes findet, das von allen Lasten oder Zweifeln befreit ist! Bei den natürlichen Menschen gibt es kein schrecklicheres Zeichen von Verhärtung als das, dass er kein Gewissen von Sünden hat. Das lebendig machende Werk des Heiligen Geistes weckt das tiefste Bewusstsein von Sünden vor Gott. Aber die Wirkung des Werkes Christi ist die, dass die Seele, während das Gefühl für die Sünde im höchsten Maß geweckt wird, von aller Furcht oder Angst auf Grund des Gerichtes am Kreuz, das unser Herr schon getragen hat, befreit wird. Der Glaube ruht auf dem, was Gottes Wort in Bezug auf die persönliche Schuld eines jeden Menschen sagt. Die Seele, die an Christus glaubt, hat zuerst ein tiefes und göttlich gegebenes Bewusstsein ihrer Sünden; aber sie glaubt auch, was Gott am Kreuz Christi bewirkt hat, um Sünden auszulöschen und Frieden mit sich selbst zu geben. So wird die Seele gereinigt, dass sie „kein Gewissen mehr von Sünden“ hat. Wenn man Zweifel daran hat, dass sie ausgelöscht sind, entehrt man das Werk Christi und die Gnade Gottes.

Man beachte in diesem Fall, dass es keine Unklarheit gibt. Die Anwendung hinsichtlich des lebendigen Bockes ist sehr deutlich. Wir hören, wie über ihm alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle Übertretungen nach allen ihren Sünden bekannt werden. Es ist kein halbes Werk. Es heißt nicht: bis hierher und nicht weiter; nicht 999 Sünden von 1000 oder 9999 von 10000. Es soll uns ferne liegen, das auf die leichte Schulter zu nehmen, was die Natur Gottes verabscheut, an der wir jetzt teilhaben, wie der Apostel Petrus uns wissen lässt. Wer aus Gott geboren ist, sündigt nicht, so sagt es Johannes. Aber da ist zum einen die Tatsache, dass wir Sünde haben und dass wir gesündigt haben. Jede Anstrengung zu leugnen, dass wir Sünde in uns (1. Joh 1,8) und gesündigt (1. Joh 1,10) haben, oder Entschuldigungen dafür zu finden, ist anstößig für Gott und moralisch verderblich. Auf der anderen Seite hat Gott Christus eingeführt, um die Sünde aus dem Weltall endgültig zu entfernen, so wie Er es jetzt in Bezug auf jeden Gläubigen tut. Aber das Opfer (das ein Bild für das Opfer Christi war) war der Weg Abels durch Glauben. Der Weg Kains war, die Früchte der Erde zu opfern, weil er gegenüber dem Fluch Gottes ganz gleichgültig war, als ob Gott ebenso vergesslich gegenüber der Sünde wäre wie der Opfernde selbst. Kein Wunder, dass ein solcher bald tödlichen Hass gegenüber dem offenbarte, der angenommen wurde, während er abgewiesen wurde. Kein Hass geht so tief wie der gegen Gottes Licht und Gottes Liebe.

Ach! Es ist immer wieder dieselbe Geschichte bei den Menschen, dass sie, wenn sie merken, dass Gott sie und ihren Gottesdienst nicht annehmen kann, sich in Verzweiflung abwenden und versuchen, sich in den Zielen und Hoffnungen und Freuden dieser Welt zu verlieren. Das war auch „der Weg Kains“. Auf der anderen Seite habt ihr, wenn ihr erweckt worden seid, eure Sünden und eure Sündhaftigkeit zu empfinden, „kein Gewissen mehr von Sünden“? Das stellt der Apostel Paulus als ein christliches Vorrecht von höchster Bedeutung im Gegensatz zu einem Anbeter des Alten Testamentes dar, der sich auf seine jährlichen Opfer stützte. Ihre Wirkung war zeitlich begrenzt; demzufolge mussten sie wiederholt werden, wenn ein Jahr vorbei war. Sie konnten weder Gott noch dem Menschen vollkommen Genüge leisten. Kein angemessenes Opfer hatte vor Ihm die Sünde wegnehmen können; ein unvollkommenes Opfer konnte die Herzunahenden nicht vollkommen machen. Die Anbeter im Sinne des Neuen Testamentes sind dagegen ein für alle Mal göttlich gereinigt, und sie haben „kein Gewissen mehr von Sünden“.

Das Einzige, das Gott und den Gläubigen befriedigen kann, ist eine Grundlage der Gerechtigkeit, wo der Christ vollkommen gereinigt wird. Es ist jetzt nicht die Rede davon, dass er mit Christus gestorben  und auferstanden ist. Dieser Teil der Wahrheit kommt im Hebräerbrief nicht zum Ausdruck. Noch viel weniger ist die Rede davon, dass die Gläubigen Glieder Christi sind. Ein viel grundlegenderes Bedürfnis wird durch das Opfer Christi befriedigt, das keiner ohne Verlust und Gefahr übersehen kann, ohne jetzt von dem frischen und tiefen Interesse zu sprechen, das sich in Bezug darauf im Alten Testament offenbart. Gemäß Hebräer 2,11 sind wir „alle von einem“; aber es wird uns dort nirgendwo gesagt, dass wir ein Geist mit dem Herrn sind. Der Leib Christi und die Geistestaufe werden hier nicht offenbart. Nirgendwo entdecken wir die Offenbarung, dass wir eins mit Christus sind – Glieder des Leibes, dessen Haupt Er droben ist. Es hätte auch wirklich gar nicht zu der Thematik des Hebräerbriefes gepasst, wenn diese Wahrheit hier zur Sprache gekommen wäre, denn der Geist beschäftigt uns hier mit den göttlichen Gedanken im Hinblick auf die Opfer und das Priestertum. Das sind die beiden Säulen des Hebräerbriefs, und die Grundlage ist die persönliche Herrlichkeit unseres Herrn als Sohn Gottes und Sohn des Menschen in einer Person. Anstatt also zu lernen, dass wir eins mit dem Verherrlichten sind, wird uns hier in aller Deutlichkeit gezeigt, dass Er für unsere Sünden gestorben ist und dass Er jetzt droben vor dem Angesicht Gottes für uns erscheint. „Für uns“ und „Haupt des Leibes“ sind zwei vollkommen verschiedene Teile der Wahrheit. Es hätte zu völliger Verwirrung geführt, wenn beide Teile in dem gleichen Brief vermischt worden wären.

Wir zweifeln nicht daran, das es derselbe Schreiber war, der von Gott inspiriert wurde, beide Teile bekannt zu machen; denn wir müssen uns energisch von den unsicheren Theorien, seien sie älterer oder neuerer Natur, distanzieren, dass es Barnabas oder Titus oder Silas oder irgendjemand sonst außer dem großen Apostel Paulus war, der den Brief an die Hebräer schrieb. Es geht nicht bloß um Tradition, die niemals sicher ist; sondern die Heilige Schrift (2. Pet 3) lässt das hier erkennen. Wenn dieser Brief auch im Stil ganz anders ist, weil er sich an Judenchristen wendet, so trägt er doch unter der Oberfläche die typischen Merkmale von Paulus in seiner Tiefe und Höhe und seiner umfassenden Beweisführung. Zum Beispiel sehen wir von Anfang an Christus im Himmel droben, ausgestattet mit allen Rechten auf Grund seines Werkes auf der Erde. Dort sitzt Er zur Rechten der Majestät in der Höhe. Er ist nicht nur in den Himmel gegangen, wie Petrus sagt, sondern Er sitzt auch dort, wie der ganze Hebräerbrief zeigt. So wurde Paulus bekehrt. Er sah nur Christus im Himmel. Darum nennt er die gute Botschaft das Evangelium der Herrlichkeit Christi. So wollte Gott seinen Sohn in Paulus offenbaren, der lernte, dass derjenige, der seine Heiligen verfolgte, Ihn selbst verfolgte. Der Hebräerbrief trägt ebenso stark wie jeder andere seiner Briefe seinen Stempel, wenn auch in einer bemerkenswert anderen Form. Der Apostel der Unbeschnittenen schrieb an die Beschneidung als inspirierter Lehrer.

Doch kommen wir zu der großen Wahrheit vor uns zurück. Was wir weiter aus dem Hebräerbrief entnehmen, ist, dass Gott dem Christen die bestimmte Erkenntnis geben wollte, dass alle seine Sünden so vollständig hinweg getan sind, dass er jetzt schon die Freimütigkeit haben kann, Gott zu nahen, so wie Er sich offenbart hat. Wie konnte das Zeugnis von diesem vollkommenen Werk besser dargestellt werden als in dem Bild des lebendigen Tieres – des zweiten Bockes, der mit all den Ungerechtigkeiten und Übertretungen und Sünden, die auf sein Haupt bekannt wurden, belastet wurde und von einem bereitstehendem Mann in die Wüste geschickt wurde?

Man muss hier jeden Gedanken an die Auferstehung fallen lassen. Es ist wohl bekannt, dass einige dazu neigen, in diesem Bild die Auferstehung zu sehen. Es scheint ein angenehmer Gedanke zu sein, dass wir, so wie bei den beiden Vögeln bei der Reinigung des Aussätzigen (3. Mo 14), in dem ersten Bock den Tod sehen und in dem darauf folgenden lebendigen Bock die Auferstehung. Aber wenn man die Sache etwas näher betrachtet, sieht man, dass diese Interpretation nicht aufrechterhalten werden kann. Christus stand von den Toten auf mit der Vorausschau auf seine Himmelfahrt, während der lebendige Bock hier in die Wüste gesandt wird. Aber die Wüste kann keine Szene der Herrlichkeit darstellen, denn der Himmel ist alles andere als ein Land, das nicht bewohnt ist. Nein, die Auferstehung hat hier gar nichts zu suchen; Gott gibt uns hierin ein kraftvolles Bild für die Sünden, die bekannt wurden und dann dorthin weggeschickt wurden, wo sie nie wieder gefunden werden konnten.

Ohne Zweifel wird im Neuen Testament die Auferstehung Christi als der segensvolle Beweis betrachtet, dass unsere Sünden vergeben sind. So wird uns gesagt: „Der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“ (Röm 4,25). Aber wir müssen uns mit dem Bild zufrieden geben, das Gott uns hier vor die Augen stellt. Wir dürfen keine Wahrheiten verbinden, die in Wirklichkeit voneinander getrennt sind. Es genügt völlig zu sagen, dass wir als Fortsetzung des Loses des HERRN hier das Los des Volkes haben, und dass in diesem Fall die Sünden, die durch den Hohenpriester bekannt und auf den Kopf des Asasel gelegt werden, durch sein bedeutsames Handeln hinweg getan sind, sodass sie nie mehr erscheinen. Wenn das wirklich das ist, worauf hier die Betonung gelegt wird, dann kann man nicht leugnen, dass es für die Seelen von tiefster Bedeutung ist.

Jetzt kommen wir zu einem wichtigen Unterschied zwischen den beiden Böcken. Der erste Bock war, wie wir gesehen haben, nicht ausdrücklich begrenzt wie der zweite; und die Tragweite des Gegenbildes ist sicherlich unendlich. Wir lesen nicht allein, dass der erste Bock geschlachtet wurde und dass das Blut ins Heiligste getragen wurde, sondern uns wird auch mitgeteilt, dass es den heiligen Ort, das Zelt der Zusammenkunft und den Altar versöhnte. Die Anwendung des Blutes geht weit über den Bereich des Menschen hinaus. Genauso wird im Neuen Testament das Blut Christi nicht auf sein Volk allein begrenzt, oder auf die, für die es jetzt Gültigkeit hat. Seine Wirksamkeit ist so grenzenlos für alle, die Gottes Ruf Folge leisten und an Christus glauben.

Aber die Annahme, dass sein Blut nur für die Auserwählten Gültigkeit hat, ist ein ernster Irrtum. Nicht dass ich Zweifel an Gottes auserwählender Liebe hätte. Sie ist ebenso sicher wie irgendeine andere Wahrheit der Offenbarung, und sie ist eine Quelle reichen Trostes für die Familie des Glaubens; sie dämpft den Stolz des Menschen und verherrlicht den Gott aller Gnade. Man kann deshalb gerne zugeben, dass die Auserwählung in dem zweiten Bock zu sehen ist, wenn solch ein Ausdruck gestattet ist. Denn dort kommt die Einschränkung, aber der erste Bock ist dem Bild nach in seinem Umfang unbegrenzt. Deshalb gründet sich auf ihm der Ausgang des Evangeliums zu der ganzen Schöpfung unter dem Himmel. Was kann weniger begrenzt sein, wenn eine andere Wahrheit geschützt wird? Man kann sich für die unendliche Weite des Evangeliums nichts Verheerenderes vorstellen, als die Ansicht, dass es sich nur an die Auserwählten richtet. Der Herr befahl, dass das Evangelium der ganzen Schöpfung gepredigt werden sollte. Deshalb tut man gut daran, nach seinem Wort zu handeln, und braucht um die Ehre Gottes keine Angst zu haben. Seid versichert, dass Gott ein Lösegeld gefunden hat und dass Er voll befriedigt ist. Stellt euch nicht für einen Augenblick vor, dass ihr in der Gefahr seid, über das hinauszugehen, was das Blut Christi beinhaltet und was Gott von seinem unaussprechlichen Opfer hält. Wenn tausend Welten zu retten wären, wenn es mehr Sünder gäbe als in Wirklichkeit da sind, die Gottes frohe Botschaft hören wollten, so liegt die Kraft in dem Blut Jesu, die jedem Sünder jeder Welt gerecht werden würde. Das ist der unbegrenzte Wert, den Gott in dem Tod seines Sohnes findet.

Wenn Gott nicht mehr tun würde als das Evangelium kundzutun, so würde doch niemand hören und Frieden finden können. Man kann von dem Evangelium getroffen werden, man kann das Wort sogleich mit Freude aufnehmen. Aber wenn das Wort nicht tiefer greift als bis zu den Gefühlen, so hat es keinen Sinn. Die Seele fordert mehr als das, und der durch Gnade Gläubige ist der Gegenstand eines tieferen Werkes. Die Wahrheit durchbohrt das Gewissen unter der Hand des Geistes Gottes. Der Gläubige wird so in einem echten Selbstgericht und mit dem Empfinden der Gnade Gottes in der Person und dem Werk Christi zu Gott gebracht, und so wird er von allem gerechtfertigt. Deshalb ist man nicht berechtigt, zu einem Unbekehrten zu sagen: „Deine Sünden sind ausgetilgt, und du bist von allem gerechtfertigt.“ Ein Diener des Wortes Gottes geht zu weit, wenn er einem Ungläubigen sagt, dass er und alle Welt durch das Werk Christi gerettet seien, sodass sie nur noch glauben müssen. Im Gegenteil – bis man an Gott um seines Sohnes willen glaubt, ist man noch in seinen Sünden. „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (Apg 16,31).

Wenn man über Gottes Evangelium hinausgeht, predigt man ein falsches Evangelium nach eigener Prägung. Man predigt kühner, als man es sollte, ohne durch das Wort Gottes dazu berechtigt zu sein. Dass das Blut Christi jede Seele, die in Not ist, zu reinigen vermag, ist sicherlich wahr. Aber man hat keine Berechtigung, einer Seele zu sagen, dass ihre Sünden hinweg getan sind, wenn noch kein Glaube an Christus besteht. Wenn der Mensch an das Evangelium glaubt, dann hat man die Berechtigung, ihm zu sagen, dass auf Grund der Wahrheit, die der zweite Bock darstellt, Christus seine Sünden an seinem eigenen Leib auf dem Holz getragen hat und dass sie für immer hinweg getan sind. Das Werk der Sühnung wird bei dem ersten Bock sichtbar. Wenn die Sünden bekannt und weggeschickt werden, dann ist da der Trost mit der Erkenntnis, dass die ganze schwere Last weg ist, um nie mehr wieder hervorzukommen. Das kann man nicht jeder Seele sagen. Hier hat die Begrenzung auf Israel ihre Bedeutung. Bei dem zweiten Bock ist ganz deutlich das Volk gemeint. Im ersteren Fall war es das Los des HERRN; im zweiten Fall ist es das Los des Volkes. Mit dem „Volk“ ist nicht jedermann gemeint, sondern (im Rahmen des dritten Buches Mose) das auserwählte Volk und dieses Volk allein. Aber warum sollen wir wie ein Kalvinist versuchen, den Gott der Gnade zu begrenzen? Möchtest du die frohe Botschaft Gottes schmälern?

Wenn du an das Evangelium glaubst, bist du ohne Zweifel einer von Gottes Auserwählten, eines von seinen Kindern, das „Abba Vater“ ruft. Nun weißt du aus seinem Wort heraus, dass du der Gegenstand der Liebe Gottes warst, bevor die Welt geschaffen wurde. Aber du hattest kein Recht, ein Wort darüber für dich in Anspruch zu nehmen, bevor du an seinen Sohn glaubtest. Bis dahin war alles außerhalb deines Bereichs. Tatsache ist, dass du ein Kind des Zorns warst wie jeder andere. Aber wenn die Seele Christus bekennt, wenn das Blut in seiner sühnenden Kraft anerkannt wird, dann hast du einen gerechten Anspruch darauf, von Gott zu hören, dass „deine vielen Sünden dir vergeben sind“. Dann kann die volle Wahrheit ohne Zögern auf die Seele angewandt werden, die glaubt und Buße tut. Denn es gibt niemals eine göttlich gewirkte Buße ohne einen göttlich gegebenen Glauben, und auch keinen göttlich gegebenen Glauben ohne eine entsprechende Buße. Sei immer bereit, eine Seele zu trösten, wenn das eine oder andere davon sichtbar wird. Denn in einigen Fällen ist die Seele vielmehr mit der Freude erfüllt, Jesus als den Heiland zu haben, als dass sie sich mit dem Selbstgericht beschäftigt. In anderen Fällen ist sie von der Angst über ihre Sünden vor Gott erfüllt, so dass ihr das Gefühl für die vergebende Liebe verschleiert wird. Das sollte nicht sein, denn das Evangelium ist eindeutig. Doch was kann heilsamer für die Seele sein, als durch ein gründliches Selbstgericht im Licht Gottes zu gehen? Sei nicht ungeduldig mit solch einem Versuchten und dränge ihn nicht zu sehr. Ziehe ihn nicht vorzeitig von diesen nutzvollen Übungen des Gewissens weg, um auf Christus und das Kreuz zu blicken. Er soll sich ruhig dem überwältigenden Gefühl seiner eigenen Schuld beugen, während er lernt, was die Gnade Gottes in dem Herrn Jesus bewirkt hat. Aber schwäche nicht jenes tiefe Werk schonungslosen Selbstgerichts vor Gott ab. Du kannst jetzt zuversichtlich im Namen des Herrn sagen: „Deine Sünden sind vollständig hinweg getan“. Das ist für jeden Gläubigen genau die Lehre des Asasel.

Lasst uns wiederholen, dass wir hier nicht die strahlende Wahrheit des durch sein Blut bewirkten Werkes der Sühnung haben, das die Gnade an die ganze Welt aussendet – das Werk, das in Ewigkeit die Herrlichkeit Gottes befriedigt hat, wo Sünde Ihm Unehre bereitet hatte, und das Ihm die Rechtfertigung gibt, den ganzen Segen, der in seinem Herzen ist, auszuschütten. Hier sehen wir das Zeugnis dessen, was für die Befreiung der Seele unbedingt nötig war. Doch der zweite Bock wäre unwirksam und vergeblich ohne den ersten. Wenn man Gott nicht zuerst mit dem Blut, das das Sühnungswerk vollbringt, naht, dann ist es eine bloße Täuschung, aus Asasel auch nur den geringsten Trost zu schöpfen, dass unsere Sünden hinweg getan sind.

Aber das Neue Testament redet in dieser Beziehung sehr deutlich. Lasst uns einen Augenblick einige Schriftstellen zur Illustration betrachten. Die erste (um die Reihenfolge einzuhalten) ist Matthäus 1,21: „Du sollst seinen Namen Jesus heißen; denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden.“ „Sein Volk erretten“ bedeutet nicht, jedermann zu retten. Mit „seinem Volk“ sind nicht die aus allen Nationen gemeint. Es wird gezeigt, dass Jesus der göttliche Messias ist. Das Volk des HERRN sind die Personen, die Er von ihren Sünden erretten will; und Er will nicht bloß über sie herrschen, so wie ein Jude es gedacht haben könnte. Seine Herrlichkeit ist göttlich; Er ist der wahrhaftige Emmanuel, was „Gott mit uns“ heißt. Ja, wenn möglich, ist Er mehr als Emmanuel, Er ist der HERR. Er sollte deshalb Jesus heißen, was den unaussprechlichen Namen des HERRN in sich schließt: „Denn er wird sein Volk erretten von ihren Sünden“. So ist alles bestimmt. Der Heiland vollführt Gottes gnädigen Ratschluss.

Im Matthäusevangelium finden wir im weiteren Verlauf nicht bloß Worte über den Herrn, sondern auch von Ihm. Einige Leute haben den Eindruck, dass, wenn wir die eigenen Aussprüche unseres geliebten Herrn haben, mehr in diesen Worten stecken als in irgendwelchen anderen Mitteilungen der Schrift, wie sehr diese auch dieselbe Wahrheit darstellen mögen. Es liegt in der Tat eine Majestät und Tiefe in den Äußerungen unseres Heilandes, die ganz einmalig und charakteristisch für Ihn ist, aber die Schrift besitzt in allen ihren Teilen wahrhaft und genau dieselbe Autorität. In dem Augenblick, wo man verschiedene Glaubwürdigkeitsstufen zulässt, untergräbt man ihre Autorität, indem man Ungewissheit einführt. Und Ungewissheit im Hinblick auf Gottes Wort ist tödlich. Wie dem auch sei, in Matthäus 20,28 steht: „So wie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“. Es heißt hier nicht: „für alle“, sondern „für viele“.

Tatsächlich ist unser Herr in einem bestimmten Sinn ein Lösegeld für alle; und der Apostel spricht davon in 1. Timotheus 2,6: „Der sich selbst gab als Lösegeld für alle, wovon das Zeugnis zu seiner Zeit verkündigt werden sollte“. Aber es besteht ein feiner Unterschied zwischen den beiden Schriftstellen. Wenn es, wie im Matthäusevangelium, ein Lösegeld für viele ist, so ist dies klar umgrenzt. Das „für“ bedeutet „anstelle von“ (ἀντὶ) vielen; das ist genau Stellvertretung. Wenn es sich, wie in 1. Timotheus 2 auf alle bezieht, dann bedeutet es einfach „zu Gunsten von“ (ὑπὲρ) allen. „Für“ hat nicht immer denselben Sinn in der Schrift. Es ist umso notwendiger, diese Bemerkung zu machen, weil so viele dazu neigen, anzunehmen, dass, wenn „für“ einen bestimmten Sinn an einer bestimmten Stelle hat, es auch dasselbe an einer anderen Stelle bedeuten müsse. Nehmen wir jetzt Römer 4,25: Er ist „unserer Übertretungen wegen hingegeben worden“ und als nächstes „unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“. Das „wegen“ bedeutet, wenn es auch im Griechischen eine Verstärkung desselben Wortes ist, nicht in beiden Satzteilen dasselbe. „Unserer Übertretungen wegen“ drückt den Grund aus, warum Er dahingegeben worden ist; aber seine Auferweckung geschah um unserer Rechtfertigung willen, nicht weil wir gerechtfertigt wären, was der Wahrheit und besonders den Worten, die unmittelbar danach in Römer 5,1 stehen, widersprechen würde.

Es ist möglich, dass dies den Vorurteilen einiger Leute einen Stoß versetzt; aber lasst mich versuchen, euch zu überzeugen (wenn ihr bereit seid, euch überzeugen zu lassen), dass das, was gesagt worden ist, wahr ist. Wenn das Vorhergehende nicht richtig wäre, würde die Konsequenz sein, dass ein Mensch gerechtfertigt ist, bevor er glaubt, was aber falsch ist. Durch Glauben wird jemand gerechtfertigt, und nicht bevor er glaubt. Denkt nur an die unvermeidlichen Folgen, wenn das Letztere möglich wäre. Man ist ein Kind Gottes, wenn man noch ein Kind des Zorns ist! Man ist unter Schuld und Verdammnis, während man gerechtfertigt ist! Kann man sich irgendetwas Abscheulicheres und Ungeheuerlicheres vorstellen als dieses, und das wohl noch unter Berufung auf die Schrift? Niemand außer dem Gläubigen ist gerechtfertigt. Bevor er glaubte, war er weder abgewaschen noch geheiligt noch gerechtfertigt. Es geht hier nicht um Gottes Ratschluss, sondern um den Glauben des Menschen. Ohne Zweifel gab es einen göttlichen Ratschluss, bevor der Mensch oder die Welt geschaffen war; aber was hat das mit dem Zeitpunkt zu tun, wann ein Mensch gerechtfertigt wird? Wie absurd ist es, wenn man annimmt, dass ein Mensch gerechtfertigt ist, bevor er geboren ist! Dass Gott Absichten der Gnade mit ihm hat, ist eine ganz andere Wahrheit; aber um gerechtfertigt zu werden, muss er wiedergeboren werden und dem Evangelium glauben und muss Christus auf Grund des Wortes Gottes annehmen. Ein Mensch kann nicht gerechtfertigt sein, ohne Ihn zu kennen. Die Rechtfertigung ist ein Zustand der Immunität, in den eine Person durch den Glauben kommt. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1).

Es ist anzuerkennen, dass die Rechtfertigung eine entsprechende Grundlage haben muss oder (um die Sprache der Theologie zu benutzen) auf einer Ursache ruhen muss, die gebührend Anerkennung verdient. Aber die vorausgehende Grundlage vor Gott darf nicht mit dem Mittel oder Grundsatz verwechselt werden, wodurch die Seele in diesen Zustand gebracht wird. So bestimmt die Schrift, dass ein Mensch nicht gerechtfertigt ist, bevor er an Christus glaubt und folglich Frieden mit Gott hat. Friede mit Ihm ist ein Zustand der Seele, den der Mensch nicht haben kann, ohne zu wissen, dass er ihn hat. Es ist eine gefährliche und für die Seele verderbliche Sache, einem Menschen zu sagen, dass er Frieden mit Gott hat, wenn er ihn nicht genießt. Friede ist der Segen, den die Seele hat, wenn sie durch den Glauben an Jesus allen Kampf gegen Gott aufgibt. Wenn die Seele nicht nur den Heiland aufnimmt, sondern auch das Sühnungswerk, das der Heiland bewirkt hat, dann stützt sie sich vor Gott auf Ihn. Dann, und nicht vorher, ist sie durch Glauben gerechtfertigt und hat Frieden mit Gott zum Lob Christi. Nicht zum Lob seines Glaubens, wenn der Glaube auch notwendig ist.

Dasselbe sehen wir, wenn wir den 1. Korintherbrief aufschlagen. Wir lesen in Kapitel 15, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften (1. Kor 15,3). Dies ist eine große Wahrheit, die einer ängstlichen oder wahrhaft suchenden Seele vor die Augen gestellt werden kann. Aber man kann sie nur vage und allgemein auf einen Ungläubigen anwenden. Man kann frei sagen, dass Er den Tod für alle (vielleicht sogar für alles) geschmeckt hat (Heb 2,9). Wenn Er nicht als ein Opfer für die Sünde gestorben wäre, wenn Er sein Blut nicht als Sühnung vergossen hätte, würde es kein Evangelium für eine schuldige Welt geben können. Aber wenn die Seele an Gott glaubt und an die Wirksamkeit des Todes Christi, dann wird die Last der Schuld weggenommen; denn das ist die sicherste Garantie Gottes für jeden, der glaubt. Wo Glaube ist, können wir die Gewissheit, die er der Seele gibt, gar nicht überschätzen. Nach 1. Korinther 15 wenden wir uns jetzt zu dem nächsten Brief und lesen in Galater 2,20, dass Christus „mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“. Es ist unmöglich, dies persönlicher auszudrücken. Es gilt nicht nur die allgemeine Wahrheit, dass Gott die Welt so geliebt hat, „dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16). Die glaubende Seele darf die Liebe des Christus persönlich für sich in Anspruch nehmen: „... der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“. Ist man berechtigt, dies einem Ungläubigen zu sagen? Keine Schriftstelle rechtfertigt oder gestattet solch eine Freiheit.

Jetzt wollen wir uns noch einmal ganz kurz das dritte Kapitel des Römerbriefes anschauen: „Den Gott dargestellt hat als ein Sühnmittel durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,25.26). Hieraus geht ganz deutlich hervor, dass es keine Rechtfertigung gibt, solange der Glaube an Jesus noch nicht da ist. Der Glaube an Gottes Botschaft muss vorhanden sein, um gerechtfertigt zu werden.

Und immer noch geht die Botschaft aus „an alle“; denn in Römer 3,22 heißt es: „Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus gegen alle“. Aber in dem Augenblick, in dem man zu der Anwendung dessen kommt, heißt es: „und auf alle, die glauben“. Diese werden gerechtfertigt; aber das Wort der Gnade geht aus zu jedem. So werden die beiden Wahrheiten in bemerkenswerter Weise durch das ganze Neue Testament hindurch bezeugt. Da ist die allumfassende Verkündigung auf Grund des kostbaren Blutes Christi; und da ist die positive Gewissheit der Rechtfertigung, wo immer es Glauben an Ihn gibt. Es wird uns in Römer 5,8 gesagt: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist. Viel mehr nun, da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch ihn gerettet werden vom Zorn“.

Übrigens können wir feststellen, dass die Schrift auf dreierlei Weise von der Rechtfertigung als Notwendigkeit für den Menschen spricht, der von Natur aus ungerecht ist:

  1. gerechtfertigt durch seine Gnade (Tit 3,7), wenn wir von der Quelle sprechen;
  2. gerechtfertigt durch sein Blut (Röm 5,9), wenn wir die Ursache in dem Werk unseres Herrn Jesus Christus suchen;
  3. gerechtfertigt aus Glauben (Röm 5,1), wenn wir nach der Art und Weise fragen, wie die Seele persönlich in den Genuss dieses Segens gelangt.

Ihr habt möglicherweise davon gehört, dass es Leute gibt, die behaupten, dass der Glaube die Summe und das Wesen aller christlichen Tugenden sei! Das heißt eigentlich, das Evangelium Gottes für nichtig zu erklären. Der Glaube bedeutet, dass die Seele das göttliche Zeugnis annimmt. Der, welcher glaubt, stimmt zu, dass Gott wahrhaftig ist. Wenn Gott Jesus als seinen Sohn bezeugt, dann nimmt der Glaubende das von Herzen an. Es ist die Botschaft für Schuldige und Verlorene – wie kann der Glaube dann die Summe und das Wesen aller christlichen Tugenden sein, wenn das Evangelium ausdrücklich für jede arme Seele als verlorener Sünder gilt? Als wir noch Sünder waren, starb Christus für uns. Nehmen wir noch ein stärkeres Wort: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Röm 4,5). Ist das die Summe und das Wesen christlicher Tugenden? Es ist genau das Gegenteil von solchem Unglauben. Glauben bedeutet aber nicht allein, dass man an Gott glaubt oder sein Zeugnis annimmt; er beinhaltet auch das Vertrauen auf Ihn und auf seine Gnade. Wenn man 1. Petrus 1,21 hinzuzieht, so wird dort der Glaube durch Christus an Gott selbst betont.

Ach, was auf diese Weise zum Ausdruck gebracht wird, ist die Lehre von Menschen, die das Evangelium gehört haben, aber nicht verstehen. Ihr Irrglaube oder vielmehr Unglaube liegt darin, dass wir in der Tat unsere eigenen Erretter mit Hilfe des Heiligen Geistes würden. Die Erlösung ist ihnen unbekannt, wenn sie das auch selbst nicht vermuten werden, denn äußerlich begegnen sie Christus mit Ehrerbietung, wobei einige noch darüber hinausgehen und sogar das Zeichen des Kreuzes zu verehren scheinen. Sie glauben, dass Christus starb, um jeden Menschen, besonders aber die Glaubenden, auf den Weg des Heils zu führen, wenn auch ohne Taufe keiner im Allgemeinen erlöst werden könne. In der Praxis kommt es dann dazu, dass sie Vorschriften und moralisch gesprochen alle christlichen Tugenden einführen. So berauben sie den Herrn vollständig der Frucht seiner Erlösung, da sie dem Verlorenen jede Möglichkeit des Friedens mit Gott nehmen. Wie könnte irgendein aufrichtiger Mensch zu Gott sagen: „Lass mich jetzt Frieden mit dir haben, denn ich habe die Summe und das Wesen aller christlichen Tugenden“? Der Heilige Geist hat uns gerade bewiesen, dass die Seele vor Gott nichts Gutes aufzuweisen hat; und deshalb ist sie gezwungen, sich an seine souveräne Gnade in Christus zu klammern. Die erwähnte Lehre macht das direkte Wirken Gottes im Hinblick auf das Lebendigmachen von Seelen und auf die Erlösung zunichte. Dennoch sind dies die Empfindungen frommer Menschen, die dabei aber durch menschliche Tradition verblendet sind. Sie lesen die Bibel nur durch diesen täuschenden Nebel, wenn sie sich nicht zu einem geringen Maß gegen Rationalisten verteidigen müssen. Ihre Unwissenheit in punkto Wahrheit ist betrüblich.

Wenn man menschliche Dinge zwischen die Seele und Gott stellt, wird das geistliche Verständnis verdunkelt. Wie gefährlich ist das in jenem ernsten Augenblick, in dem eine Seele zum ersten Mal in Gottes wunderbares Licht tritt, wo der Heiland in Ewigkeit offenbart wird.

Aber wenn wir weitergehen, können wir dieselbe Wahrheit in den beiden Briefen an die Epheser und Kolosser sehen, und zwar sehr genau und einleuchtend, wobei jeder Brief ein etwas anderes Gepräge hat. Beispielsweise lesen wir in Epheser 1,7: „in dem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen“. Wenn auch Erlösung und Sühnungswerk zwei verschiedene Dinge sind, so sind sie doch nicht voneinander zu trennen. Man kann nicht das Sühnungswerk sehen ohne die Erlösung oder die Erlösung ohne das Sühnungswerk. Deshalb erscheint es legitim, die Kraft dieser Schriftstellen auf die Sache anzuwenden. Da alles auf dem Blut Christi beruht, kann man es nicht ohne Glauben genießen. „Wir“, die „die Erlösung haben“, sind diejenigen, die glauben und die in einem vorhergehenden Vers als die Treuen in Christus bezeichnet werden.

Jetzt wollen wir noch einer sehr deutlichen Schriftstelle im 1. Petrusbrief unsere Aufmerksamkeit schenken. Ich lasse absichtlich den Hebräerbrief für einen Augenblick beiseite. In 1. Petrus 2,21–24 haben wir etwas, was sich ganz klar auf Christus bezieht, der den Schatten des großen Sühnungstages erfüllt. „Auch Christus hat für euch gelitten, euch ein Beispiel hinterlassend, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt; der keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden, der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet; der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat“. Es heißt nicht „auf das Holz“. Viele Übersetzer geben es so an; aber das ist eine unwissende und vollständige Vernachlässigung der Opfersprache im Alten Testament. In der Septuaginta werden in diesem Zusammenhang zwei Formen verwendet, die immer klar voneinander unterschieden werden. Wenn es um „auf“ mit Akkusativ oder um „nach“ geht, wird eine ganz andere Präposition gebraucht. Dort, wo die Form vorkommt, die hier zu finden ist, bedeutet sie unveränderlich „auf“ mit Dativ und nicht „nach“. Es mag sein, dass das in anderen Zusammenhängen nicht immer der Fall ist; aber in der Opfersprache ist die Unterscheidung deutlich und wird immer eingehalten. Nun ist es klar, dass sich hier der Apostel Petrus auf die Opfersprache des Alten Testamentes bezieht. Sein ganzer Brief ist reich an Andeutungen ähnlicher Art. Wenn die Welt uns sagt, dass Petrus ein ungelehrter Mann war, so sollen doch Gläubige nicht vergessen, dass der Heilige Geist ihn inspirierte. Es mag so keine glänzende Schau menschlichen Denkens oder menschlicher Ästhetik geben und keine Bemühung, die goldenen Wahrheiten, die er zu verkündigen hatte, auszuschmücken; aber die Sprache für all dies ist göttlich korrekt. Jeder, der sich unbefangen damit beschäftigt, sollte das auch schon beim ersten Blick auf diesen Abschnitt verstehen. Der Gläubige sollte sich dessen ganz sicher sein.

Es wird leider deutlich, dass all diesen Anstrengungen, die Schrift zu verdunkeln, ein Mangel an Glauben an die wahre Inspiration des Wortes Gottes und an die vollkommene Wirksamkeit des Werkes Christi zugrunde liegt. Aber lasst mich auf einen anderen Punkt Bezug nehmen, der zeigt, wie unbegründet der Gedanke ist, dass unser Herr die Sünden sein ganzes Leben lang trug. Der in der eben genannten Stelle verwendete griechische Ausdruck ἀνήνεγκεν für die Vergangenheitsform von „tragen“ teilt nicht etwas Ständiges mit, sondern eine vorübergehende Handlung. Dies wird durch die hier gebrauchte griechische Zeitform des Aorists ausgedrückt. Die Berücksichtigung des Urtextes macht also deutlich, dass hier das gemeint ist, was am Kreuz stattfand, und gewiss nicht das, was vorher oder nachher geschah. Christus trug unsere Sünden nur in dieser kurzen Zeitspanne an seinem Leib. Die Form des Wortes schließt alles aus, was davor begann, und beinhaltet die Tatsache, dass das Tragen der Sünden am Kreuz seine Vollendung fand, wo es auch seinen Anfang nahm. Deshalb ist der Ausdruck „auf das Kreuz“ falsch, vielleicht nicht in der Form des Wortes selbst, aber in seinem Gebrauch im Hinblick auf den genannten Zusammenhang und auf die Opfer.

Wir können etwas anderes hinzufügen. Als unser Herr ein Sündenträger wurde, wurde Er von übernatürlicher Finsternis umgeben. Es ist allgemein bekannt, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen keine Finsternis zu dem Zeitpunkt geherrscht haben kann. Es war damals nicht bloß eine natürliche Finsternis, es war eine übernatürliche. Es waren noch andere übernatürliche Zeichen, die sie begleiteten. Der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten. Die Gräber öffneten sich. Die Sonne verdunkelte sich, und die Dunkelheit, wie wir wissen, war absolut einmalig. Zu dem Zeitpunkt und unter diesen Umständen wurde Christus zur Sünde für uns gemacht. Wenn Christus unsere Sünden sein ganzes Leben lang getragen hätte, hätten die ganze Zeit solche geheimnisvollen Zeichen auftreten können. Wenn Christus vorher zur Sünde gemacht worden wäre, hätte Er während der ganzen Zeit von Gott verlassen sein müssen. Aber das Verlassensein von Gott bezieht sich ganz klar auf diesen Zeitpunkt, und nur auf diesen. Die übernatürliche Finsternis, das Verlassensein von Gott und all die anderen wunderbaren Zeichen kennzeichneten das Vorhandensein eines unvergleichlichen und unvorstellbaren Höhepunktes, der alles zuvor Dagewesene übertraf. Ist es angesichts der Aussagen der Schrift zu viel gesagt, dass es in alle Ewigkeit niemals wieder solch einen Höhepunkt geben wird? Wie segensvoll ist es zu wissen, dass diese Dinge alle darauf hinweisen, dass Christus für uns zur Sünde gemacht wurde. Ohne Zweifel war es Gottes Handeln zu seiner eigenen Ehre, wenn wir einmal von der Bosheit der Geschöpfe wegsehen. Das Herz ist nicht zu beneiden, das solche Dinge mit dem Verstand beiseite schieben will, anstatt in der Wahrheit zu wachsen, dass das, was Christus an jenem Tag erlitt, die wichtigste Tatsache für Gott und den Menschen, die es jemals gab oder geben kann, darstellt.

Wie ungeheuer ist der Wandel und wie segensvoll ist der Sieg des Guten über das Böse, wenn eine Seele nicht bloß im Blick auf das tiefe und schreckliche Unrecht, das dem Sohn Gottes zugefügt wurde, erweckt wird, sondern auch hinsichtlich seiner und des Vaters unaussprechlichen Gnade. Denn Er vollbrachte unendlich mehr, als die Schöpfung tun oder erleiden konnte, damit die Sünde gerichtet, hinweg getan und vergeben werden konnte und damit Gott sogar im Hinblick auf das verherrlicht werden konnte, was in sich selbst für seine Natur höchst hassenswert ist. Das Gewissen in uns, die wir glauben, fühlt, dass Gott gerechtfertigt werden sollte. Aber wenn wir nur um seine moralische Herrlichkeit bedacht sein können, so hat Gott doch umso mehr sein Herz darauf gerichtet, den in der Sünde verlorenen Menschen zu segnen. Darum hat Er am Kreuz Christi Frieden gemacht und hat es uns verschafft, die Erlösung durch sein Blut zu haben. Dabei erhob Er sich in der Majestät seiner Liebe über unseren Hass, als dieser sich auf abscheulichste Weise gegen seinen Sohn richtete, der sich bis zum Äußersten demütigte, um uns aus unserer elenden Selbstsucht, unseren rebellischen Werken und der Vorahnung des gerechten Zorns und Gerichts zu retten. Er lässt uns deshalb wissen, dass derselbe Tod unseres Herrn Jesus Christus auf der einen Seite seiner Ehre als Richter über die Sünde vollkommen Genüge getan hat und auf der anderen Seite durch sein Blut unsere Sünden auslöschte. Überall sonst ist dies unvereinbar, aber in der Wirklichkeit des Todes Christi vereinigen sich diese beiden Tatsachen. Einzig und allein seine Person war in der Lage, das Problem der Sünde zu lösen – sowohl zum Segen für den Sünder als auch zu Gottes Ehre und im Hinblick auf seine Liebe.

Der Asasel spricht von dem Fortsenden der Sünden des Volkes, was sich auf das Sündopfer des großen Sühnungstages gründet. Es war das Bild, das Gott in seiner Gnade als Ergänzung zu dem geopferten Bock für die Entfernung aller Sünden aus den belasteten Seelen seines Volkes schenkte. Gott, der hinsichtlich der Sünde in dem vergossenen Blut Christi am Kreuz seine Ruhe fand, wollte hiermit zu erkennen geben, dass schuldige Sünder, die auf Ihn, der ihre Sünden bekannte und am Kreuz trug, blickten, von aller Furcht vor dem Gericht befreit werden konnten.

Es ist beinahe überflüssig zu sagen, dass dieses Thema von größter Bedeutung für die Seele ist. Wenn jetzt jemand da ist, der auf Ihn blickt und dennoch von seinen Sünden gequält wird, dann möge der Herr geben, dass er Gottes geschriebenes Zeugnis von dem Kreuz, dem Blut und dem Sterben Christi deutlich erkennen kann. Es geht nicht allein um das, was man durch den Unglauben gegenüber der Schrift verliert; sondern es geht auch um die Frage, ob man dem Sühnungswerk unseres Herrn Jesus Christus wirklich Ehre bereitet? Wie stark bezeugt der Heilige Geist die Kraft des Todes Christi (Heb 10,15). Ihr seid nicht berufen, die bloße Tatsache seines Todes zu erwägen, sondern vielmehr Gottes Erklärung für und an den Menschen, welchen Wert dieser Tod in seinen Augen besitzt, wodurch Gott die Macht des Werkes Christi für eure Sünden offenbart. Es ist die Reinigung und der Friede, den Gott dem Gläubigen durch Christus gibt. Er möchte, dass ihr die feste Gewissheit habt, dass alles, was gegen euch war, so vollständig weggetan ist, dass Gott sich nie mehr daran erinnern wird.

Einige meiner Leser werden sich der Lehre erinnern, die sich auf den Stier gründet, und sie werden sich sicher wundern, dass auf den Asasel derselbe Inhalt angewandt zu werden scheint. Lasst uns für einige Augenblicke sehen, wie die Wahrheit uns mitgeteilt wird. Wir alle fangen so an, dass wir draußen stehen, genau wie Israel. Wir, die wir glauben, waren nicht weniger voll Sünde und Ungerechtigkeit. Der Stier wird gesehen, wenn wir zu der Erkenntnis kommen, dass wir die Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum haben und so als Priester dorthin nahen können, wo Gott ist. Diese besitzen wir noch lange nicht, wenn wir zum ersten Mal erweckt werden (wie echt diese Erweckung auch sein mag). Die Seele empfindet dann, dass sie sich außerhalb des Heiligtums befindet, und sie schreit nach Gnade, während sie anerkennt, dass sie selbst gerechterweise der Gegenstand des göttlichen Gerichtes ist. Das ist der Zustand, auf den sich die beiden Böcke beziehen. Wir benötigen nicht nur das Blut, weil es Gott auf der einen Seite befriedigt, sondern wir brauchen auf der anderen Seite auch die Vergebung unserer Sünden, um die Gewissheit zu haben, dass die Sünden weggetan sind.

Aber werden wir hier allein gelassen? Nein. Christus ist in das Allerheiligste gegangen. Warten wir jetzt, wie Israel, darauf, dass Christus herauskommt? Das Bild gilt streng genommen nur für sie. Der zweite Bock kann erst dann weggeschickt werden, wenn der Hohepriester aus dem Heiligtum herauskommt – zur unaussprechlichen Erleichterung des Volkes, das ja auf keine Weise hineingehen kann. Wenn irgendjemand auf die buchstäbliche Erfüllung des Asasel drängt, so muss es Israel sein. Sie sind jetzt draußen, und sie werden bis zu jenem Tag draußen sein. Aber der Herr Jesus wird das himmlische Heiligtum verlassen und wird mit Macht, Herrlichkeit und Segen kommen. Sind wir jetzt als Christen in solch einer Stellung? Gewiss nicht, wenn wir die volle Wirksamkeit seines Blutes anerkennen. Das Evangelium bringt uns viel mehr als den Trost des zweiten Bockes für das draußen stehende Volk. Wir sagen dem Vater Dank, der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht (Kol 1,12). Durch Christus haben wir beide, Juden und Heiden, die glauben, den Zugang durch einen Geist zu dem Vater. Sogar die, welche einst fern waren, sind durch das Blut des Christus nahe geworden (Eph 2,13.18).

Der Heilige Geist, der schon aus dem Heiligtum herausgekommen ist, macht uns dies kund, während Christus noch darin ist. Wir können also darauf warten, dass Christus kommt – nicht um die Vergebung der Sünden zu verkündigen, sondern um unseren Leib zu verwandeln zur Gleichförmigkeit mit seinem eigenen Leib und um die Versammlung sich selbst verherrlicht darzustellen. Das ist unbestreitbar das Christentum und die christliche Hoffnung. Durch den Heiligen Geist, der jetzt gekommen ist, haben wir Zugang zum Heiligtum, wo Christus ist. Wenn Christus den Himmel verlässt und erscheint, um sein Volk zu segnen, wird der Heilige Geist zur gleichen Zeit und zum zweiten Mal auf alles Fleisch ausgeschüttet werden. Der Segen des Christentums ist der, dass wir Christus kennen, während Er im Himmel ist. Hier kann das Bild von dem Stier in seiner ganzen Kraft auf uns angewandt werden, obwohl man als armer Sünder immer da anfängt, wo Israel endet, nämlich bei den beiden Böcken.

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