Der Sühnungstag
Kommentar zu 3. Mose 16

Die beiden Böcke

Der Sühnungstag

Wenn wir den Stier für einen Augenblick beiseite lassen, so erfordert der Unterschied zwischen den beiden Ziegenböcken unsere volle Aufmerksamkeit. Jeder kann aus der Schrift heraus erkennen, dass ein ausdrücklicher Unterschied zwischen ihnen besteht. Es ist vergeblich anzunehmen, dass uns Gott damit keine bestimmte Wahrheit vermitteln wollte. Beachten wir, dass sie durch das Los bestimmt wurden - die Wahl lag also ausschließlich in der Hand des HERRN. Das war in Bezug auf die Opfer ganz außergewöhnlich. In den Opfern des lieblichen Geruchs lag die Auswahl des Opfertieres unter Einhaltung bestimmter Bedingungen bei dem Opfernden. Bei dem Sünd- oder Schuldopfer wurde überhaupt kein Spielraum gelassen; es wurde ein konkreter Befehl gegeben, dass dieses oder jenes Tier abhängig von den jeweiligen Umständen geopfert werden sollte. In anderen Fällen wird die Situation der Armen beim Opfern in gnädiger Weise berücksichtigt. Auf der einen Seite wurde Armut berücksichtigt, auf der anderen Seite hatten die, welche gut bemittelt waren und ein weites Herz besaßen, genug Gelegenheit dies unter Beweis zu stellen. Aber in diesem Fall wurde die Wahl speziell von dem HERRN getroffen.

Zwei Ziegenböcke, keine anderen Tiere, mussten von den Kindern Israel gebracht werden. Sogar der Hohepriester selbst war nicht berechtigt auszuwählen, welcher von ihnen dem HERRN zufallen sollte und welcher dem Volk. Das wurde absolut dem HERRN überlassen. Der Grund dafür mag sein, dass im ganzen Ritual Israels kein Opfer dem Wesen nach so in Beziehung zu Gott stand wie die Opfer, die am großen Sühnungstag gebracht wurden. Er befasste sich mit der Sünde, und dementsprechend entscheidet hier in dieser Sache - der HERR allein. Der Hohepriester selbst ist der einzige Mensch, dem es gestattet wird, zu erscheinen. An anderen Tagen begleiteten ihn die Söhne seines Hauses, während die untergeordneten Priester den ihnen angemessenen Platz einnahmen. An diesem Tag handelt er, er allein. Die Bedeutung dieser Dinge in Bezug auf den Herrn Jesus tritt klar zu Tage. Dementsprechend erscheint der Hohepriester nicht mit seinen offiziellen Gewändern bekleidet, sondern in einem Gewand, das von unbefleckter Gerechtigkeit sprach, in den heiligen Kleidern. Dies war auch nicht die Kleidung eines gewöhnlichen Priesters; ein Priester wurde durch das Tragen eines Ephods gekennzeichnet. Der Hohepriester zeichnete sich durch ein kostbares Gewand aus, das Verzierungen von Gold, Silber und Edelsteinen besaß. Aber nur die „heiligen Kleider aus Leinen“ wurden für diese besondere Aufgabe getragen, bei der der Hohepriester eine ganz außergewöhnliche Funktion hatte.

Aaron war der Hohepriester, aber hier sieht man ihn in einer ganz besonderen Stellung - einen Hoherpriester nicht in seinem Dienst als Fürsprecher, sondern in einem stellvertretenden Dienst als Sündenträger. Er nahm so diese Stellung für Israel ein, und nicht für das Volk allein, sondern auch für seine Söhne und für sich selbst. Es ist deshalb klar, dass der Platz, den er einnimmt, ein ganz anderer ist als sein gewöhnlicher Platz im Heiligtum Gottes. In keiner Weise wird uns in dem Bild dieses großen Tages Mittlerschaft vorgestellt, sondern vielmehr legt diese eine gerechte Grundlage dafür.

Wir sehen hier keinen Märtyrer, auch keine Einsmachung aus Mitgefühl, wozu einige das Sühnungswerk herabziehen möchten. Auch war da nicht im Geringsten nur die Rede von moralischer Herrschaft oder einer reinen Offenbarung der Liebe oder der absoluten Vergebung. Alle diese Merkmale mögen sich vielleicht in einem gerechten Maß und im wahren Licht im Tod unseres Herrn Jesus finden. Er war wirklich der heiligste Märtyrer und unvergleichlich in seinem Tod. Und darin erfüllte Er Gottes moralische Herrschaft, wie das niemals der Fall war oder sein konnte außer bei seiner eigenen Person und unter Gottes eigener Hand. Sein Gehorsam in Liebe war absolut vollkommen. Und doch war Er versucht worden, wie kein anderer Mensch jemals. Keine Versuchung, wie der Mensch sie erlebt, war Ihm erspart geblieben; aber es wird niemals gesagt, dass der Herr nicht weit mehr versucht wurde als alle anderen. Oder meinst du, dass jemand so versucht worden ist wie der Herr während der 40 Tage?

Die drei letzten Versuchungen unseres Herrn mögen im Maß und im Geist durch nicht wenige seiner Nachfolger erfahren werden, da sie die einzigen Einzelheiten darüber sind, die uns mitgeteilt werden. Aber was wissen wir von den 40 Tagen? Warum gibt es darüber keine Einzelheiten? Weil niemand mehr in solch eine Lage kommen wird. Einerseits kann jemand das teilweise als Betrüger nachahmen, und wir haben sicher schon etwas Derartiges gehört. Auf der anderen Seite lesen wir von Mose, dass er 40 Tage auf dem Berg gestärkt wurde, und von Elia, dass er 40 Tage auf der Erde in der Kraft der Speise, die Gott ihm gegeben hatte, wandelte. Doch wie verschieden sind diese Erlebnisse von seinen, indem Er ganz allein dem Feind in der Wüste widerstand, nur in der Gesellschaft von wilden Tieren war, bis am Ende Engel kamen, um Ihm zu dienen. Der Heilige Gottes widerstand triumphierend, aber bei diesem Widerstand litt Er bis zum Äußersten.

Ist das so bei dem, was die Menschen „Versuchung“ nennen? Wie traurig stimmt es uns zu wissen, dass wir allzu oft nachgegeben haben, anstatt zu widerstehen, und dass wir es uns selbst angenehm gemacht haben, anstatt zu leiden! Wir „kommen in Versuchung“, wie Petrus, anstatt zu wachen und zu beten, wie wir es tun sollten. Unser Herr hat gelitten, als Er versucht wurde (Heb 2,18). Das Böse hatte keinen Zugang zu Ihm; doch die geistlichen Gefühle seiner heiligen Natur wurden durch die Versuchung gequält, die Satan an Ihn herantrug. Aber es war in Ihm kein Anknüpfungspunkt für die Versuchung von außen; und die Pläne Satans, der nichts in Ihm fand, wurden vollständig vereitelt. Hatte diese Versuchung einen Sinn? Sie trug dazu bei, unseren gelobten Herrn fähig zu machen, der Hohepriester zu sein, der Mitleiden hat. Er lernte Gehorsam an dem, was Er litt (Heb 5,8). Bevor Er ein Mensch auf der Erde wurde, wusste Er, was befehlen war. Als Er im Himmel verherrlicht war, blieb Er ein Mensch, der auf noch mitfühlendere und stärkere Weise in der Lage war, mit den Versuchten und in Anfechtung Gebrachten Mitleid zu haben, als wenn Er nicht hier auf der Erde versucht worden wäre. Denn wir wollen nicht annehmen, dass die Liebe geringer ist, weil er von den Toten auferstanden ist. Wir erhalten die Gewissheit, dass Er immer lebt, um für seine Heiligen einzutreten. Sein Mitleiden strömt immer frei und voll von oben. So stellt es uns der Heilige Geist im Brief an die Hebräer und anderswo dar.

Aber am großen Sühnungstag ging es nicht um Mitleiden mit den Geheiligten, sondern um eine gnädige Vertretung der Menschen, um das Gericht über die Sünde aus Gottes Hand zu nehmen. Was für die Sünde nötig ist, ist nicht Mitleiden, sondern Leiden. Ein Christ sollte für den Fall, dass er sündigte, nicht ohne eine gesegnete Hilfe sein; denn „wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden“ (1. Joh 2,1); darin liegt die Antwort auf die tiefste aller Nöte. Die Sünde hatte Schmach auf Gott geworfen und hatte seinem Willen, seiner Natur und seiner Majestät Gewalt angetan. Gott musste deshalb in jeder Hinsicht im Blick auf die Sünde gerechtfertigt werden. Er war als Vater in dem Leben seines Sohnes, unseres Herrn Jesus, hier auf der Erde verherrlicht worden. Da fand Er den einzigen Menschen, der nicht nur vollkommen und immer alle seine Gebote hielt, sondern auch seinem Willen und seiner Liebe in einem Gehorsam und einer Abhängigkeit entsprach, die niemals unter Kummer und Leiden versagten. Aber eine neue Frage erhob sich: Würde sich der Heilige Gottes so erniedrigen, um zur Sünde gemacht zu werden? Würde Er sein Haupt unter jener untragbaren Last beugen? Würde Er zur Ehre Gottes die Sünde in ihrem ganzen Umfang und ihrer Verhasstheit und in ihren schrecklichen, unaussprechlichen Folgen für Ihn selbst tragen? Würde Er sich selbst um jeden Preis aufgeben, um durch sein eigenes Opfer die Sünde wegzutun?

Das Gericht über die Sünde bedeutet Verlassensein von Gott. Würde Jesus jenen Kelch trinken? Nur Er, der für die Sünden leiden wollte, konnte das auf sich nehmen; denn in Ihm war wirklich keine Sünde! Ein Mensch, der auch nur von der geringsten Sünde befleckt wäre, müsste für seine eigenen Sünden leiden. Es war deshalb eine unabdingbare Voraussetzung für das Sühnungswerk, dass das Opfer ohne Flecken oder Tadel war. Wo war der Mensch, der für Sünden leiden konnte, ohne dass von seiner eigenen Schuld die Rede war? Der Mensch war herausgefordert worden, Jesus der Sünde zu überführen. Gott hatte von seinem Wohlgefallen an Ihm Zeugnis abgelegt. Jesus allein konnte sühnend leiden; und das ist das, was Er tat und was das Handeln des Hohenpriesters an jenem Tag versinnbildlichte. Ohne Zweifel ist jedes Bild ganz unzureichend, um unseren Herrn darzustellen. Er war sowohl der Hohepriester, der opferte, als auch das Opfertier, das geopfert wurde. Die Schrift stellt klar beides in Ihm dar. Der Brief an die Hebräer bezeugt unbestreitbar die Wahrheit im vollen Maße. Man könnte sich auch gleichfalls auf das Zeugnis beziehen, das im 1. Johannesbrief gegeben wird (1. Joh 2,2; 4,10): Er ist die Sühnung (ἱλασμός) für unsere Sünden. Hier haben wir das Wort, das die Beziehung unseres Herrn zum großen Sühnungstag als das Opfertier beschreibt. Darüber hinaus erklärt Römer 3, dass Gott Ihn zu einem Sühnungsmittel (ἱλαστήριον) oder „Gnadenstuhl“ gemacht hat. Auch wenn dies noch nicht alles ist, ist es kein Wunder, dass die Schrift sagt, dass „Christus alles ist“.

Dementsprechend sollte der Bock, auf den das Los des HERRN fiel, zweifellos den Erfordernissen seines Wesens entsprechen. Aus diesem Grund wurde das Blut nicht vor den Menschen gebracht, der die sühnende Kraft davon brauchte, sondern zu Gott, wo Er ist. Dieselbe Wahrheit finden wir im Wesentlichen in der Passahnacht. Als das erste Passah eingesetzt wurde, wurde das Blut nicht innerhalb sondern außerhalb der Tür gestrichen: das kostbare Blut sollte nicht der Mensch ansehen, um aus seinem Anblick Trost zu gewinnen. Er war berechtigt, reichen Trost daraus zu schöpfen, aber nicht durch seinen Anblick. Das Blut war ausdrücklich nur außerhalb. Die israelitische Familie sollte sich ebenso ausdrücklich innerhalb des Raumes aufhalten. „Sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen“ (2. Mo 12,13), hatte der HERR gesagt. Israel sollte das Fleisch in Sicherheit essen, aber nicht ohne bittere Kräuter.

So ist der wahre, tiefe und sehr bedeutende Wesenszug der Sühnung immer der, dass das Blut Gott dargebracht wird. Ohne Zweifel ist es für den Menschen; aber die wesentliche Wahrheit ist, dass es vor Gott gebracht wird. Der Glaube ruht deshalb auf seiner Wertschätzung des Blutes und nicht der eigenen. Wenn der Hohepriester den Bock nimmt, auf den das Los des HERRN gefallen war, sehen wir darin die Grundlage, auf der ganz Israel ruht, wobei kein Wort davon gesagt wird, dass die Hände auf den Kopf des Tieres gelegt werden und Israels Sünden darauf bekannt werden sollen. Es ist nicht bestätigt, dass der Hohepriester das nicht tat, wenn auch die Juden sagen, dass er es tat; aber wir brauchen jüdische Tradition nicht mehr beachten als das, was die Menschen heute sagen. In der Schrift haben wir unsere Quelle und deshalb von Gott, Dem wir dafür danken, wenn wir tatsächlich den Wert und die Sicherheit des Vertrauens auf das, was Er sagt, kennen. Wehe dem Menschen, der versucht für Gott ohne dessen Wort zu sprechen! Das Schweigen Gottes muss genauso respektiert werden wie sein Reden. Was Er sich herablässt uns mitzuteilen, hat natürlich seinen obersten Platz; ehrfürchtiger Glaube nimmt jedoch davon Abstand, die Lücken, die Gott lässt, auszufüllen. Wir können sicher sein, dass Er alle Bedürfnisse derer, denen Er seine Offenbarung als ein unschätzbares Geschenk gab, kannte und dafür Vorsorge traf.

Der Opfernde legte seine Hand auf ein Brandopfer, wenn er eines darbrachte: es war sein Vorrecht; aber hier herrscht Schweigen darüber. Warum? Ist das unerklärlich? Keineswegs, die Hand wurde zur Identifikation darauf gelegt. Bei einem gewöhnlichen Sündopfer wurde dadurch die bekannte Sünde auf das Opfertier übertragen, beim Brandopfer das angenommene Opfer auf den Opfernden. Hier geht es allein um die Ehre des HERRN, seine verletzte Majestät musste gerechtfertigt werden. Die Reinigung des sündigen Volkes wurde noch am selben Tag im vollen Maß durchgeführt; aber durch Asasel, den zweiten Bock. Der erste Bock ist völlig und unauslöschlich von der Wahrheit geprägt, dass nicht der Mensch, nicht Israel, sondern Gottes Ehre im Vordergrund steht. Es muss darauf geachtet werden, dass sie in allem den ersten Platz einnimmt.

Im Sühnungswerk muss Gott verherrlicht werden. Es gibt nichts Sicheres, Festes oder Gerechtes ohne dies. Die Schrift lässt nicht zu, dass das Bedürfnis des Geschöpfes der moralischen Herrlichkeit Gottes vorangeht. Es gab das sehr ausgedehnte und vollständige Bekenntnis auf den zweiten Bock, aber es findet sich diesbezüglich kein Wort hinsichtlich des ersten Bocks. Das Bekenntnis ist dort richtig und notwendig, wo die Sünden des Menschen im Blickpunkt stehen. Es entspricht Gottes Willen, um den Menschen gerechten Trost zu geben. Es ist der richtige Ausdruck des Selbstgerichts vor Gott, damit er die Vergebung erlangt. Aber es gibt einen weit tieferen Anspruch, und es muss ihn geben - dass Gottes Heiligkeit und Ehre zuerst und vor allem anderen im Sühnungswerk gesichert werden. Es gibt keine angemessene Grundlage, ohne dass seiner Herrlichkeit und seinem Wesen entsprochen wird; wie und wo wurde das bewirkt? In einem Opfer für die Sünde, das zu Ihm von Christus redet, der sich ohne Vorbehalt seiner Herrlichkeit im Opfertod weihte und sich absolut aufgab, um all die Folgen der Sünde im göttlichen schonungslosen Gericht zu tragen.

Wenn der Mensch auch der Gegenstand des größten Mitleids ist, so verschwindet er hier doch ganz. Christus als der im Gericht Leidende steht allein vor Gott. Ach! Der Mensch hat es nicht gerne, wenn er ausgeschlossen wird. Der erste Mensch ist in seinen eigenen Augen sehr, sehr wichtig, und er wird noch empfindlicher, wenn er aufgeweckt wird und begreift, dass er Vergebung nötig hat. Er tut sich schwer zu verstehen, dass sich nicht alles um ihn dreht. Er braucht die Vergebung dringend und tief greifend. Warum sollte er nicht die Antwort auf seine eigenen schwerwiegenden Bedürfnisse  in dem ersten Bock finden? Gott hat es anders gewollt, und Er ist weise und heilig. Gott hat als erstes von allen Rechten festgesetzt, was in dem Sühnungswerk zu seiner Ehre sein soll. Und Er tat das in der klarsten und überzeugendsten Weise, wenn es auch törichte Menschen gibt, die sich einbilden, dass sie die Dinge Gottes besser verstehen können als Gott selbst, und so bereit sind, von der Schrift etwas wegzunehmen oder ihr etwas hinzuzufügen. Sogar von dem Schattenbild, nicht nur von dem Ebenbild selbst, hat Gott menschliche Eitelkeit und Vermessenheit ausgeschlossen. Er hat denen, die vor seinem Wort zittern, bezeugt, dass zwar die Fülle seines Segens für den Menschen bereitsteht, aber dass dies nur durch das geschehen kann, was uns der erste Bock sagt, und nicht der zweite allein. Beide müssen beachtet werden, und zwar in Gottes Reihenfolge. Es gibt keinen anderen Weg, um den Segen zu bekommen; die Seele empfängt diesen durch den Glauben, dass Gott im Tod Christi verherrlicht worden ist. Und damit dies so sein kann, beugt sich der Mensch, und Gott handelt mit dem Opfertier, das sein Stellvertreter bringt. Aaron war hier das Bild, aber das Gegenbild war tatsächlich der Sohn des Menschen.

Wie treffend wird das darin deutlich, dass die einzige Gelegenheit, bei der die Schrift bezeugt, dass unser Herr Jesus „Mein Gott“ sagte, am Kreuz war. Als Er hier auf der Erde war, sagte Er gewöhnlich „Vater“. Er dachte, fühlte, redete, handelte immer nur in vollkommener Gemeinschaft mit dem Vater. Kein Wunder, dass der Vater in dem Sohn verherrlicht wurde. Aber jetzt folgt eine vollständige Änderung, und der Herr bereitet uns darauf vor, indem Er sagt: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und“ - der Vater? Nein - „Gott ist verherrlicht in ihm“ (Joh 13,31). Dass das kein Zufall ist, wird ohne Zweifel aus den darauf folgenden Worten deutlich. „Wenn Gott“ - nicht der Vater, sondern Gott - „verherrlicht ist in ihm, wird auch Gott ihn verherrlichen in sich selbst, und sogleich wird er ihn verherrlichen“ (Joh 13,32). Es ging darum, dass Er zur Sünde gemacht wurde, und Gott ist als Gott, und nicht als Vater, der Richter über die Sünde. Wir wissen alle, dass die Theologen von unserem „versöhnten Vater“ reden (und ich erkenne an, dass sie die Wahrheit des Sühnungswerkes meinen, wo ich voll mit ihnen übereinstimme); aber kein Mensch kann solch eine Ausdrucksweise aus der Schrift rechtfertigen. Gott braucht das Sühnungswerk. Die Sünde ist hassenswert und unerträglich für seine Natur. Wenn sie gesühnt wird, kann das nur durch ein göttliches und schonungsloses Gericht an einem angemessenen Opfer geschehen.

Das Wort „Vater“ stellt uns eine ganz andere Ordnung von Tatsachen, Wahrheiten, Gedanken und Gefühlen vor die Augen. Da ist seine Beziehung der Liebe zu dem Sohn und jetzt durch Gnade zu der Glaubensfamilie (denn wir bleiben hier nicht bei seiner allgemeinen Vaterschaft stehen, wie in Eph 3,15; 4,6). Von daher die wachsame und heilige Züchtigung, wie bei einem Vater gegenüber seinen Kindern. Aber wo es um das volle Gericht über die Sünde geht, müssen alle Überlegungen von der gnädigen Gemeinschaft und der sich daraus ergebenden Frucht ganz ausgeschlossen werden. Gott ist der Richter über die Sünde; und da kann es nicht die geringste Milderung geben. Die Sünde verdient keine Schonung. Barmherzigkeit ist hier ganz fehl am Platz. Die Sünde muss gebührend bestraft werden. Sie muss ganz weggeschafft werden, und die Wahrheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes muss um jeden Preis in der Ausübung seines Gerichtes über die Sünde befriedigt werden. Am Kreuz Christi brach nicht ein winziger freundlicher Lichtstrahl von dem Vater durch die Finsternis, die Ihn umgab, der keine Sünde kannte und dort für uns zur Sünde gemacht wurde. Doch niemals war seine Vollkommenheit in Gottes Augen so kostbar, als zu der Zeit, wo Er unsere Sünden trug und ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Das zeigt uns, wie vollständig die Veränderung der Stellung unseres Herrn am Kreuz war. War Er nicht der ewige Sohn? Das war unveränderlich. Er konnte nicht aufhören, der Sohn im Schoß des Vaters zu sein, ebenso wie der Vater nicht aufhören konnte, sein Vater zu sein. Wenn das möglich gewesen und geschehen wäre, wäre sein Sühnungswerk für Gott und für den Menschen vergeblich gewesen; aber es konnte nicht anders sein, als es ist. War Er nicht Gott? Er, der Gott ist, kann niemals aufhören, Gott zu sein; ebenso wie ein Mensch niemals Gott werden kann. Solche Dinge sind Träume menschlicher Eitelkeit und profaner Torheit. Er, der sich herabgelassen hatte, Mensch zu werden, war jetzt am Kreuz zur Sünde gemacht. Und wer machte Ihn zur Sünde? Gott allein; der Mensch dachte niemals an solch ein Wunder. Gott, der Richter über die Sünde, gab seinen geliebten Sohn hin, damit Dieser in Gnade Mensch werden konnte, nicht bloß um die vollkommene Abhängigkeit und den Gehorsam während der „Tage seines Fleisches“ in Gemeinschaft mit dem Vater zu zeigen, sondern vor allem, um bis zum Äußersten all das zu erleiden, was Gott in seinem schonungslosen Gericht über die Sünde am Kreuz auferlegen konnte.

Deshalb umgab die unnatürliche Finsternis unseren Herrn, als Er so in diesem Augenblick litt. Er hörte bei weitem nicht auf, der Sohn zu sein, denn Er sagte „Vater“ am Kreuz, nicht nur bevor Er „mein Gott“ ausrief, sondern auch nachher, um ausdrücklich zu zeigen, dass die Gemeinschaft nicht einen Augenblick aufhörte. Doch sagte Er „mein Gott“, als Er wirklich das Schlachtopfer für die Sünde war; und das war keine leere Form. Wenn irgendetwas  wirklich sein konnte, seitdem die Welt begann, dann war es sein Tragen der Sünde. Wie alles in dem Leben unseres Herrn echt gewesen war, so musste es auch in seinem Leiden und Sterben für die Sünde sein, und so war es auch. Wie segensvoll ist das für uns! Damit der Segen ebenso gerecht wie vollkommen sein konnte, stand das Los des HERRN an erster Stelle und nicht das Los für das Volk. Das ist die Bedeutung des ersten Bockes. Sein christlicher Grundsatz ist die Sühnung.

Wenn wir zu dem zweiten Bock kommen, sehen wir, dass die Stellvertretung hier nicht weniger deutlich ist. Dadurch bekommen wir einen rechten Begriff von dem großen Sühnungstag, dessen Wahrheit voll im Neuen Testament offenbart ist. Es gibt eine aktive Gruppe von Menschen, die sich selbst „Denker“ nennen und die beide Wahrheiten leugnen möchten. Sie möchten das alles zu der Offenbarung gnädiger Gefühle bei unserem Herrn herabziehen, zu einer Offenbarung der Liebe im Märtyrertum oder zu einem ähnlichen Abweichen von Gottes Handeln mit der Sünde am Kreuz. Das ist der alte Irrtum, der lange vor Socinus bestand, in einem neuen Gewand und bei Menschen, die davor zurückschrecken, sich als Gnostiker und Socinianer zu bekennen. Solche Theorien sprechen von Kurzsichtigkeit und sind auf verhängnisvolle Weise dem entgegengesetzt, was Gott im Tod unseres Herrn Jesus bewirkte. Sie widersprechen gleichzeitig dem Bild und der Wahrheit; aber das Neue Testament allein gibt das volle Licht Gottes.

Ein Bild passt, wie ein Gleichnis, nicht in allen Punkten. Was bei beiden gegeben ist, ist nur eine treffende Analogie (im Gegensatz und in der Übereinstimmung) eines großen Grundsatzes, aber niemals die vollständige Wahrheit (oder das Ebenbild, wie es in Heb 10,1 heißt). Ein Bild ist entweder ein Mensch, oder, was noch niedriger steht als ein Mensch, ein Bock, Widder, Rind, Vogel etc. Und ein Gleichnis redet von einem Sämann, einer Hochzeitsfeier, einem Baum oder einem anderen passenden Vergleich. Aber diese Bilder, die ja aus dem Bereich der Schöpfung stammen, sind notwendigerweise begrenzt; was wir bei unserem Herrn Jesus haben ist unendlich. Wenn unser Herr Jesus nur um Haaresbreite geringer gewesen wäre als Gott der Vater, hätte Er nicht ein angemessenes Opfer für die Sünde vor Gott, dem Richter, sein können. Auch hätte Er den Menschen Gott nicht voll offenbaren können. Nur Gott konnte vollkommen dem gerecht werden, was Gott fordert. Dass der Sohn das tat, und zwar im Menschen und als Mensch, war Teil seiner Vollkommenheit. Fragst du: Wie kann Gott Gott Genugtuung geben? Wenn jeder verstehen kann, dass der Mensch einem Mitmenschen Genugtuung geben kann, warum sollte man das nicht in Bezug auf Gott glauben? Dass es in der Gottheit die Einheit gibt, leugnet keiner, der Christ ist; daneben glaubt er voll und ganz an die drei Personen in der Gottheit, an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist (Mt 28,19).

Auch kann die Wahrheit dadurch nicht im Geringsten abgeschwächt werden. Derjenige, der in der Gottheit nicht mehr sieht als drei Aspekte einer Person, ist kein Christ, sondern ein Betrüger und ein Antichrist. Er bekennt nicht den völlig offenbarten und wahrhaftigen Gott. Er bekennt nicht, dass die Gottheit nicht nur drei Wesensmerkmale, sondern drei Personen hat. Und diese sind so voneinander verschieden, dass der Vater den Sohn senden konnte und dass der Heilige Geist auf den Sohn in der Gegenwart des Vaters und im Bewusstsein des Sohnes herabkommen konnte, dass es sogar äußerlich für die Menschen sichtbar war. Das ist die erste und ungeheure Tatsache, die in den Evangelien genannt wird, ein klares Zeugnis für die „Dreieinheit“. Was für ein Mitgefühl kann man mit denen haben, die solch eine Tatsache übersehen und über den Ausdruck stolpern? Warum klebt man so am Buchstaben und ist so ängstlich darauf bedacht, ein Wort loszuwerden, das nun einmal nicht in der Bibel steht. Die Dreieinheit ist in der Bibel eindeutig wieder zu finden; diese Wahrheit wird nicht nur im Neuen Testament offen gelegt, sondern sie durchdringt auch die ganze Bibel vom ersten Kapitel bis zum letzten (in einer mehr verschleierten Form, wie im Alten Testament im Allgemeinen). Man kann das erste Kapitel von 1. Mose jetzt nicht mit Einsicht lesen, ohne zu sehen, dass in der Gottheit mehr Personen sind als eine. Selbst der erste Vers des ersten Kapitels enthält eine eindeutige, wenn auch stufenweise Vorbereitung, um dies bekanntzumachen, was man zumindest dann erkennt, wenn man von dieser Wahrheit weiß.

Fragst du, wie dies sein kann? „Im Anfang schuf Gott“. Vielleicht ist es noch nicht allgemein bekannt, aber es ist trotzdem wahr, dass im hebräischen Urtext „Gott“ im Plural steht, was natürlich auf mehr als eine Person hinweist. Doch das Verb „schaffen“ steht im Singular - eine Form, die nur in Verbindung mit dem lebendigen Gott gebraucht wird, und nicht, wenn von heidnischen Göttern die Rede ist. Bei den Göttern der Nationen steht das Verb im Plural. Bei dem wahrhaftigen Gott wird das Verb oft im Singular gebraucht, obwohl das Subjekt im Plural steht. Fälle wie 1. Mose 20,13, wo auch das Verb im Plural vorkommt, beweisen, dass Gott (Elohim) als eine wirkliche Mehrzahl bekannt war. Konnte uns irgendetwas besser auf die Offenbarung der Einheit der Natur und der Mehrzahl der Personen vorbereiten? Es muss allerdings gesagt werden, dass keiner im Alten Testament die drei Personen so sehen konnte, wie sie später offenbart wurden. Sogar der Gläubige musste auf das Neue Testament warten, um das volle Licht und die volle Wahrheit zu erlangen. Aber als Licht und Wahrheit in Christus und durch den Geist kamen, musste diese besondere Form des Namens Gottes denen auffallen, die auf jedes Wort der Heiligen Schrift achten. Menschen, die leichtfertig über die Inspiration denken, können ohne Zweifel die Kraft eines Wortes anzweifeln, weil ihre Ansichten ungläubig und verderblich sind. Denn solche schwächen notwendigerweise die Inspiration, so wie Gott sie offenbart hat und wie sein Geist darüber denkt, ab und untergraben sie. Kein Irrtum hat mehr Folgen, als wenn man die Inspiration auf Gottes Gedanken im Allgemeinen beschränkt und wenn man sie für sein geschriebenes Wort ablehnt.

Unter dem Gesetz war Gott noch nicht offenbart; im Gegenteil, Er war hinter dem Vorhang verborgen. Gott wohnte, wie Er dort sagt, in Finsternis. Ist das jetzt auch der Fall? Als Gott seinen eigenen Sohn sandte, war das nicht mehr so, wie Johannes bezeugt. Anstatt in der Finsternis zu wohnen, kam das wahre Licht in der Person Christi. Aber die Finsternis hat es nicht erfasst; dennoch leuchtete es, als Christus hier war, so wie es noch mehr durch den zerrissenen Vorhang leuchtete, als Er starb und auferstand. Alles, was dahinter verborgen lag - Weihrauch, Priester, Schattenbilder, Opfer, Schlachtopfer und der Deckel selbst mit den ganzen verschiedenen Stufen des Zugangs zu Gott - das alles fand im Tod Christi sein Ende. Das levitische System ist wirklich vergangen, damit der Geist, die Wahrheit, die unter diesem allem verborgen lag, und alles weitere, was noch in Gott verborgen war, bekannt gemacht werden könnte. In dem fleischgewordenen Sohn war Gott zum Menschen gekommen; doch jetzt lag der Weg für den Menschen durch den Tod offen, um im Glauben zu Gott zu kommen. Und das sieht der Gläubige, und er weiß, dass dies das Wesen und das besondere Vorrecht des Evangeliums ist. Denn es ist die unmissverständliche Wahrheit Christi, dass Gott zum Menschen gekommen war in der Person seines Sohnes (Emmanuel); aber die offenbarte Wirkung des Sühnungswerkes Christi ist die, dass jetzt der Weg ins Heiligtum frei ist. Der Vorhang des Tempels zerriss von oben bis unten.

Auch wenn der große Sühnungstag als Bild hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, so stellt er doch kein geringes Zeugnis von der Wahrheit dar. Das Blut des ersten Bockes wurde in das Allerheiligste getragen. Das war kein Sinnbild von dem buchstäblichen Hineintragen des Blutes von Christus, als Christus am Kreuz starb. Christi Blut hineintragen! Der buchstäbliche Gedanke ist nur im Bild enthalten. Es gab damals keinen anderen Weg, als das vergossene Blut hineinzutragen, und keiner außer dem Hohenpriester konnte das tun. Aber es ist eine seltsame Lehre, wenn man sich einbildet, dass Jesus solch eine Handlung vollziehen musste, um sein Blut vor dem Thron im Himmel verfügbar zu machen. Die Wahrheit ist die, dass in dem Augenblick, wo das Blut vergossen wurde, die Wirkung seines Sühnungswerkes droben unbegrenzt empfunden wurde, bevor Er dort als der große Hohepriester persönlich eintrat. Der Vorhang des Tempels zerriss, nicht von unten nach oben, wie es bei einem Einfluss von unten der Fall gewesen wäre, sondern von oben nach unten. Gott wurde in dem Sühnungswerk Christi verherrlicht und gab die Auswirkung, welche die Sühnung in seinen eigenen Augen hatte, in diesem Augenblick kund, so wie Er später veranlasste, dass die großen Folgen davon in dem Evangelium seiner Gnade verkündigt wurden.

Nehmen wir an, ein Jude hätte durch den zerrissenen Vorhang hindurchgeschaut. Was wäre dort zu sehen gewesen? Das Blut auf und vor dem Deckel. Das einmal „auf“ den Deckel gesprengte Blut war für Gott genug. Aber der Mensch bedarf des äußersten Mittels, um sich seiner Annahme völlig bewusst zu sein, und Gott gewährt ihm in seiner Gnade diese Zusicherung. Siebenmal wurde das Blut „vor“ den Deckel gesprengt, was dem Menschen den vollständigen Beweis davon lieferte, dass er sich Gott sicher nahen kann. Für Gott war ein einmaliges Sprengen genug. Es stellte das Sühnungsblut seines Sohnes dar, der so vollkommen den Platz des Opfertieres für die Sünde angenommen hatte, dass Er am Kreuz ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46).

Ach, wie traurig, dass einige diese wunderbaren Worte des sühnenden Schlachtopfers als eine Entschuldigung für ihren eigenen Unglauben missbrauchen und es wagen, ihre Finsternis mit seiner zu vergleichen. Es ist falsch, dass Gott jemals seine Heiligen verließ. Ist solch ein Unglaube entschuldbar? Sicherlich zeigt er die größte Unwissenheit gegenüber dem Evangelium. Aber es ist auch eine bedauernswerte Ehrfurchtslosigkeit, unsere „Stunden der Finsternis“ mit dem zu vergleichen, was den Sündenträger damals und damals allein umgab. Man kann das Neue Testament und das Alte Testament vollständig durchsuchen, und man wird nirgendwo eine Entschuldigung für die Finsternis des Zweifels finden. Wer seine Seele mit Zweifeln zermartert, mag ein Gläubiger sein; aber er ist ein Gläubiger, der seinen Glauben durch seine innere, wenn nicht auch äußere Untreue entehrt. Kann man sich vorstellen, dass Gott sein Wort jemandem gibt, damit dieser darüber zweifelt? Ist nicht der Zweifel eines Gotteskindes schlimmer und schmachvoller als der eines Ungläubigen?

Betrachte die Dinge, so wie Gott sie sieht; bedenke, was Zweifeln für Ihn bedeutet und was für eine Beleidigung es für seine Wahrheit und Liebe in Christus darstellt! Sage nicht das, was ein Kind vorbringt, nachdem es etwas Schlechtes oder Böses getan hat: „Mutter, das habe ich nicht gewollt“. Niemand beschuldigt das Kind einer bösen Absicht. Aber warum befasst man sich mit dem, was nicht berührt werden sollte? So ist es bei denen, die erst kleine Kinder im Glauben und im geistlichen Verständnis sind und Gott und sich selbst ebenso wenig kennen. Es fehlt ihnen das einfache Ruhen in seinem Sohn und seinem Wort. Hat Gott uns nicht in überreichem Maße Grund gegeben auf Ihn zu vertrauen? Was kann der Wahrheit, die jetzt vor uns ist, gleichkommen - der Sohn Gottes nimmt die ganzen Folgen der Sünde aus der Hand Gottes auf sich? Was! War das nicht, damit Gott in dem Sohn des Menschen, der zur Sünde gemacht wurde, verherrlicht werden könnte? Sicher, das mag der abstrakteste und absoluteste Inhalt des Sühnungswerkes sein; aber was ist die segensreiche Folge für die Seele, die sich im Glauben vor Gott beugt? Nicht nur, dass der Gläubige durch Gnade gerettet wird, sondern auch, dass das Evangelium zu jedem Geschöpf unter dem Himmel ausgehen kann. Was nimmt das Evangelium als seine eigene Grundlage? Dass der Herr Jesus die Sühnung für unsere Sünden ist; und nicht für unsere allein, sondern auch für die ganze Welt (1. Joh 2,2).

Er ist die Sühnung für unsere Sünden“. Wer ist mit „unsere“ gemeint? Die Familie Gottes, wirst du antworten; denn das ist das „wir“, das wir normalerweise in der Schrift lesen: nicht, wie bekannt ist, das einzige „wir“ dort, aber ohne Zweifel das vorherrschende und am meisten gebrauchte. Denn „wir“ als allgemeine Regel - wenn nicht andere Umstände vorherrschen, die deutlich herausgestellt sind - bedeutet gewöhnlich die Familie des Glaubens, so in Ausdrücken wie „wir wissen“, „wir glauben“ etc. Weiß jeder oder glaubt jeder? Gewiss nicht; aber die Gläubigen oder die Christen. So ist in diesem Fall Christus „die Sühnung für unsere Sünden“.

Aber ist das alles? Gott sei Dank, Er ist auch die Sühnung „für die ganze Welt“, nicht für die Sünden der ganzen Welt. Wenn Christus die Sühnung für die Sünden der ganzen Welt gewesen wäre, so wie Er die Sühnung für die Sünden der Gläubigen ist, dann müsste die ganze Welt gerettet sein. Wenn die Sünden weggetan sind, was bleibt dann zum Gericht über? Es ist nicht so. Da ist ein sehr deutlicher Unterschied festzustellen. Was darf denn der Prediger des Evangeliums verkündigen? Ewiges Leben in Christus und ewige Erlösung durch sein Blut. Er gibt ewiges Leben; und sein Werk ist nicht weniger gültig vor Gott. Aber für wen ist beides? Für alle, die Buße tun und an das Evangelium glauben. Nicht ein bisschen mehr lässt Gott zu. Es ist die offenbarte Antwort in ihrer Einfachheit, Klarheit und Fülle. Der Mensch ist nicht berechtigt, einem Ungläubigen zu sagen: „Christus hat deine Sünden an seinem eigenen Leib auf dem Holz getragen“; doch wenn man glaubt, gibt Gottes Wort uns die Gewissheit darüber.

Die Schrift hält es mit dem Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung sehr genau. In einer der folgenden Betrachtungen haben wir mehr Gelegenheit, die Stellvertretung genauer anzusehen; im Augenblick genügt es, im Vorübergehen die besondere Wahrheit von beiden herauszustellen. Die Sühnung, die ja das Werk Christi vor Gott ist, bezieht sich nicht nur auf das, was Gott gegenüber seinem Volk ist, sondern auch auf das, was Er gegenüber Sündern ist, wo immer und was immer sie sein mögen. Möchtest du Gott begrenzen, so wie die Juden es taten? Er wird es nicht zulassen. Das Werk der Sühnung Christi, das unendlich vor Gott ist, öffnet als Folge die Tür zu Gottes Liebe, die ausgeht, um jedes Geschöpf auf der Erde zu suchen. Ohne Zweifel ist das Bild hier oder anderswo nicht in der Lage, solche Liebe wie diese völlig darzustellen. Kein Jude konnte sie deshalb richtig verstehen, und Gott offenbarte sie vorher auch nicht. Der Grund für die Zurückhaltung war der, dass das Gesetz im Weg stand. Doch sehen wir jetzt eine kleine Bestätigung in der Tatsache, dass nichts gesagt oder getan werden konnte, was die Wirksamkeit des Loses des HERRN begrenzen konnte, wie wir es bei dem Los des Volkes finden. Ein nicht unbedeutender Unterschied bei dem ersten lag in dem Fehlen des ausdrücklichen Bekenntnisses der Sünden Israels und des Händeauflegens durch Aaron. Das Volk mochte darin einen Strom des Segens für sich allein sehen; aber in Gottes Gedanken lag viel mehr. Seine Natur, sein Wort, seine Majestät und sein Wesen wurden in dem geschlachteten Opfertier für die Sünde befriedigt. Die Wirkung des Gegenbildes ist, dass Gott jetzt Freude daran hat, seine frohe Botschaft an die ganze Schöpfung zu senden. Doch bleibt die Tatsache bestehen, dass einige, die das Evangelium hören, gerettet werden, und einige nicht. Sünder, die es hören, sind umso schuldiger, wenn sie nicht glauben, und müssen ewig verloren gehen.

Sind denn die Geretteten besser als die Nichtgeretteten? Glaubst du, dass deine Vortrefflichkeit der Grund dafür ist, warum du in der Gunst Gottes stehst? Gestatte mir an dir zu zweifeln, wenn dies dein Einwand ist. Du wirst keine Schriftstelle finden, die das unterstützt, sondern die Schrift verdammt dich. Wir dürfen nicht einen Augenblick vergessen, dass sich zwischen einer aus Gott geborenen Seele und jeder anderen, die nicht aus Gott geboren ist, ein sehr deutlicher Unterschied zeigt. Aber verdienst du durch deine höhere Tugend das Leben Christi und die Vergebung deiner Sünden? Das widerspricht deutlich seinem Wort und macht das Werk Christi zunichte. Überdenke nur die Wirkung solch eines Gedankens. Wenn er wahr wäre, müsste sich Gottes Gunst in dem Augenblick von jedem Gläubigen abwenden, in dem er nicht voll dem Charakter Christi entspräche. Außerdem würde die Fürsprache Christi ebenfalls am Ende sein. Ist etwas davon wahr? Gibt es die Rechtfertigung aus Werken? Oder unterliegt der Zugang zu Gottes Gegenwart und Gnade Schwankungen? Wechselt das Heil wie der Wolkenhimmel? Ist nicht die Nähe des Gläubigen fest und konstant? Gemäß der Aussage des Hebräerbriefs ist der Zugang des Gläubigen zu Gott ebenso wenig unterbrochen wie die Wirksamkeit des Werkes Christi für seine Sünden. Aber du sagst: Gott züchtigt. Gewiss. So züchtigst du dein Kind, wenn dieses es nötig hat. Aber liebst du es darum weniger oder ist es darum weniger dein Kind? Im Gegenteil, gerade weil du sein Vater bist und weil du es sehr lieb hast, erziehst du es.

Es ist etwas wunderbar Segensvolles zu wissen, dass es Gott gefallen hat, uns, die wir glauben, mit nichts als lauter Gnade zu umgeben. Wenn es nicht so wäre, würden wir sogar nach der Vergebung unserer Sünden immer wieder verloren gehen. Doch das Heil ist ein Zustand, der dem Gläubigen während seines ganzen Lebens anhaftet; und wie wird dies deutlich gemacht? Da ist nicht nur die Sühnung, um dem Wesen Gottes Befriedigung zu geben, damit Er in Christus der ganzen Schöpfung seine Liebe verkündigen kann; sondern da ist auch Stellvertretung, um eine absolute Reinigung von allen Sünden bei jedem Gläubigen zu sichern. Diese beiden Dinge stehen absichtlich nebeneinander, um angemessen den Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung zu zeigen, was zusammen das Sühnungswerk bildet, das durch die beiden Böcke dargestellt wird.

Es besteht die fortlaufende Tendenz in den verschiedenen Gruppen, sogar bei den Gläubigen in der Christenheit, die eine oder andere dieser beiden Wahrheiten zu ignorieren. Nehmen wir zum Beispiel die, welche eifrig darauf bedacht sind, dass das Evangelium zu der ganzen Schöpfung ausgeht. Es ist bekannt, dass die meisten von ihnen Gottes besondere Gnade für die Auserwählten ablehnen. Sie übersehen oder schmälern bewusst jenen positiven Unterschied von Seiten Gottes gegenüber seinen Kindern. Sie glauben, dass es ein Mensch während seines Pilgerlaufs erleben kann, dass er heute ein Kind Gottes ist und morgen nicht. Das macht die Stellvertretung zunichte. Sie glauben an die Sühnung, und damit haben sie recht, und sie sind ganz und gar berechtigt, das Evangelium ohne Vorbehalte der ganzen Schöpfung zu predigen, wie unser Herr es ja aufgetragen hat. Aber wie schwächt ihre Einseitigkeit das, was die Heiligen wirklich besitzen! Sie müssen die reiche Entfaltung göttlicher Liebe in der festen Gemeinschaft des Glaubens, wie Gott sie in den apostolischen Briefen im Allgemeinen offenbart hat, auf ein Minimum herabsetzen, wenn sie versuchen, von diesem Gesichtspunkt aus an die Unbekehrten zu appellieren. Oder sie schwächen das ab, was für Gottes Kinder gedacht ist, wenn sie auf gefährliche Weise ihre Vorrechte auf die Ungläubigen ausdehnen.

Aber lasst uns jetzt einen Augenblick die andere Seite betrachten, die behauptet, dass alles, was Gott getan hat und offenbart, nur im Hinblick auf die Auserwählten geschehen ist, dass alles, was Er in Christus Jesus bewirkt hat, nur für die Versammlung da ist und dass Er sich nicht um die Welt kümmert, außer um sie am letzten Tag zu richten. Das mag etwas grob ausgedrückt sein; aber ich stelle solch eine traurige Engstirnigkeit hinsichtlich des Menschen und solche Verunehrung Gottes und seines Sohnes nicht in so schön zurechtgemachten Ausdrücken dar, wie jene es wünschen möchten, die so schlechte und ungesunde Gedankengänge lieben. Aber es ist wahr, dass eine beachtliche Gruppe um uns her nur die Auserwählten als das Ziel Gottes ansieht. Ihre Lehre nimmt nur den zweiten Bock oder das Los des Volkes in Anspruch. Sie sehen die ungeheure Wichtigkeit der Stellvertretung, aber das Los des HERRN hat bei ihnen keinen so klaren Platz.

Wie kam es, dass diese beiden gegensätzlichen religiösen Gruppen nicht beide Böcke sahen? Das Wort Gottes offenbart beide. Warum halten diejenigen, die mit Recht darauf drängen, dass die Botschaft von Gottes Gnade frei der ganzen Schöpfung gepredigt wird, nicht auch die Sicherheit der Gläubigen fest? O, wie wird die Liebe Christi zu der Versammlung verkannt! Das ist das unvermeidbare Ergebnis, wenn man einen Teil der Wahrheit aufgreift und ihn gegen den anderen ausspielt. So sehen wir hier, wie wichtig es ist, nicht bloß eine Wahrheit festzuhalten, sondern die ganze Wahrheit. Hier sind ganz klar zwei Böcke. Der Bock der Sühnung soll im vollsten Maß zur Ehre Gottes dienen, selbst da, wo die Sünde vor Ihm steht. Was war bei der Erfüllung dieses Bildes die Folge? Christus wurde von Gott verlassen, damit der Gläubige niemals verlassen werden musste. Er trug das Gericht über die Sünde, damit die Ehre Gottes unerschütterlich in Gerechtigkeit aufgerichtet werden könnte. So kann die Gnade jetzt in der freiesten Weise zu der ganzen Schöpfung hier auf der Erde ausgehen, was auch geschieht.

Aber da besteht viel mehr. Abgesehen davon, dass die Schleusen geöffnet werden, damit die göttliche Liebe frei überall hinströmen kann, finden wir auch noch eine andere Richtung der Wahrheit: die vollste und schönste Fürsorge, damit die, welche seine Kinder sind, in Frieden und Segen bewahrt werden können. Sie waren ebenso wie andere schuldig oder gleichgültig gegenüber Gott gewesen. Sie waren Kinder des Zorns und dienten Satan ebenso viel wie die Schlimmsten von denen, die das Evangelium ablehnen. Und nun sieh, wie Gott für ihre Sünden Vorsorge getroffen hat, wenn jetzt der Bock der Stellvertretung kommt. „Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“ (3. Mo 16,21). Es scheinen fast die Worte zu fehlen, um die Vorkehrung der Gnade auszudrücken, wie Gott dem Volk Erleichterung verschaffen wollte, was auch ihre Sünde und ihre Ungerechtigkeit sein mochte. Gott sorgte nicht nur dafür, dass seine eigene Herrlichkeit und Natur gesehen wurde, sondern Er gab auch Kenntnis von dem Heil durch die Vergebung ihrer Sünden. Die Sünden werden alle bloßgelegt, um hinweg getan zu werden.

Sogar das Bild macht deutlich, dass wir diese beiden unterschiedlichen Wahrheiten brauchen, um die Ausgeglichenheit der Wahrheit Gottes zu bewahren. Es ist etwas Segensvolles zu wissen, dass die Gnade Gottes zu der ganzen Schöpfung ausgeht, aber nicht auf Kosten der Sicherheit derer, die glauben. Nur so wird die Wahrheit von dem festen Fels, auf dem die Auserwählten stehen, offenbar gemacht. Ihre Errettung ist ebenso sicher wie die Botschaft der Gnade frei ist. Wenn man den Unterschied zwischen den beiden Böcken verwischt und sie sozusagen in einen Topf wirft - den toten und den lebendigen Bock - und jeden Unterschied zwischen ihnen leugnet, was wird dann die Folge davon sein? Entweder du gibst dich einfach dem Evangelium hin, das Gott zu jedem Sünder unter dem Himmel sendet, oder du verschließt dich, indem du nur an die Auserwählten und ihre Errettung denkst. Das Schlimmste ist, dass man sich in beiden Fällen in Kurzsichtigkeit einen Gott vorstellt, der ebenso ist wie man selbst. Es ist klar, dass diese beiden Dinge außerordentlich wichtig sind, wenn man nicht jedes für sich sieht. Als Teile der Wahrheit wurden sie auf bewundernswerte Weise zusammengehalten; sie bilden Gottes Wahrheit. Es ist völlig wahr, dass Gott bei dem ersten Bock seine Majestät und seinen gerechten Anspruch gesichert hat, um seine Botschaft von der Liebe zu der ganzen Schöpfung auszusenden. Andererseits hat Er bei dem zweiten Bock ebenso vollkommen für die Gewissheit seines Volkes gesorgt, dass alle ihre Sünden, Übertretungen und Ungerechtigkeiten vollständig weggetragen werden. Könnte die Wahrheit des Sühnungswerkes wunderbarer durch Bilder vorgeschattet werden?

Nur lasst uns die Ordnung der Gegenstände so weit wie möglich erhalten. Deshalb muss man die Art und Weise herausstellen, wie die segensvolle Wahrheit der Sühnung das Bild von den beiden Böcken übertrifft. Es mag für einige hart erscheinen, solch eine Möglichkeit einzuräumen. Aber es wird gezeigt werden, dass ein Fortschreiten in der Wahrheit verbunden mit dem „Stier“ besteht. Dieser hat seine eigene Besonderheit für die, welche der Gegenstand dieses großen Opfers sind; und seine vollkommene Antwort und Auflösung finden wir im Neuen Testament. Aber ich hoffe, dass der allgemeine Unterschied zwischen den beiden Böcken ausreichend geklärt worden und die Notwendigkeit für beide deutlich geworden ist.

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