Betrachtung über den Brief an die Römer

Kapitel 5

Wir sind also gerechtfertigt durch den Glauben. Damit findet die Lehre von dem Werke Christi, so weit es sich um Sein Blut und um das Wegtun unserer Sünden durch Sein Blutvergießen handelt, gewissermaßen ihren Abschluss. Die Auferstehung Christi ist der Beweis, daß Gott dieses Werk angenommen hat als Genugtuung für unsere Sünden, und zwar zu Seiner eigenen Herrlichkeit. Welch ein gesegneter Gedanke! Die Gerechtigkeit Gottes ruht in dem Wert des Werkes Christi! Diese Gerechtigkeit hat sich darin geoffenbart, daß Er Seinen Sohn aus den Toten auferweckt und uns um Seinetwillen gerechtfertigt hat; unsere Sünden sind vergeben, wir sind reingewaschen in Seinem Blut. Nichts haben wir zu unserer Rechtfertigung beigetragen, nichts können wir dazu beitragen; wir sind allein gerechtfertigt durch das Werk Christi. Unsere Sünden sind der einzige Anteil, den wir an dem Leiden Christi haben, durch das wir vor dem Angesicht Gottes gereinigt worden sind. Der Wert dieses Werkes ist uns durch den Glauben, der jedoch dem nichts hinzufügen kann, zuteil geworden. Dieses Werk ist für uns der höchste Beweggrund, Ihm zu dienen und Ihn immer und unaufhörlich zu loben; aber auch dadurch fügen wir dem Werke Christi vor dem Angesicht Gottes nichts hinzu, es ist vollendet, und nicht allein das, sondern auch angenommen, als völlig genügend anerkannt vor Gott. Wie köstlich ist es, zu wissen, daß alle unsere Sünden hinweggetan sind durch Gott Selbst, und zwar gemäß Seiner eigenen Gerechtigkeit, indem Er Christum um des Werkes willen, das Er für uns vollbracht hat, auferweckt hat, ein ewig gültiger Beweis, daß Gott dieses Werk angenommen hat als Seiner Herrlichkeit völlig genügend. Dies würde genug sein für unsere Rechtfertigung; aber Gott hat noch mehr getan: Er hat Christum zu Seiner Rechten erhöht; dort sitzt Er jetzt als Mensch zur Rechten Gottes, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt sind. Durch ein Opfer hat Er, hinsichtlich des Gewissens, für immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden. Wenn sie durch dieses Opfer nicht zur Vollkommenheit gebracht sind, so können sie es nie werden, und ebenso wenig können ihre Sünden je hinweggenommen werden. Denn ohne Blutvergießen ist keine Vergebung, und Christus kann Sein Blut nicht noch einmal für uns vergießen; das Werk ist geschehen, oder es kann überhaupt nicht geschehen.

Der erste Abschnitt des fünften Kapitels (V. 1—11) fasst alle Züge dieser unendlichen Gnade Gottes zusammen. Betrachten wir kurz den Inhalt dieser köstlichen Verse. Das Werk ist vollbracht; der Glaube weiß, daß es von Gott angenommen ist, indem Er Christum auferweckt und zu Seiner eigenen Rechten gesetzt hat. Es bleibt nichts zwischen dem wiedergeborenen, geheiligten Menschen und Gott, als nur der Wert des Werkes Christi und die Annahme Seiner Person. Das Blut Christi ist immer vor den Augen Gottes, und Er Selbst erscheint in der Gegenwart Gottes für uns. Das gibt uns für die Gegenwart die köstlichsten Vorrechte, und für die Zukunft die Hoffnung der Herrlichkeit, die wir bei ihm genießen werden. Doch wir wollen nicht über unser Kapitel hinausgehen, sondern uns auf die Betrachtung der Vollkommenheit der Gnade Gottes, die darin so wunderbar entwickelt ist, beschränken. Wir finden hier das, was Gott für uns ist, während unsere Stellung vor Ihm in Christo erst später behandelt wird.

Die ersten elf Verse enthalten also die Entwicklung der Gnade und der Wege Gottes in Gnade; sie sprechen zuerst von dem, was die Gnade gibt, und dann von den Erfahrungen der Begnadigten. Indem Christus für unsere Sünden dahingegeben und zu unserer Rechtfertigung auferweckt worden ist, sind wir durch den Glauben gerechtfertigt worden. Es ist eine vollendete Rechtfertigung; unsere Sünden sind ausgelöscht, unser Gewissen ist gereinigt, und da der Wert dieses Werkes unwandelbar und immer vor den Augen Gottes ist, ist unsere Rechtfertigung gültig für ewig. Infolgedessen besitzen wir einen beständigen Frieden mit Gott. Keine Sünde kann uns zugerechnet werden, denn unsere Sünden sind alle schon getragen, so daß wir kein Bewusstsein mehr von Sünden haben können. Wohl sind wir uns des Vorhandenseins der Sünde im Fleische bewusst; aber von den Sünden, die Christus schon für uns getragen hat, kann nicht mehr die Rede sein. Wohl können wir uns demütigen, wenn wir durch irgendeinen Anlass daran erinnert werden, daß wir der hässlichen Früchte der Sünde schuldig waren und diese Last auf den geliebten Heiland gebracht haben; aber wir können nicht in der Gegenwart Gottes, wo sich Christus und Sein Blut für immerdar befinden, in Frage stellen, ob alles vergeben ist. Es ist wichtig, daß ich den Zustand meiner Seele nicht verwechsle mit dem Wert eines außer mir vollbrachten Werkes, eines Werkes, an dessen Vollbringung ich nicht teilgehabt habe, es sei denn durch meine Sünden. Wenn aber meine Sünden dort auf Christum gelegt waren, dann können sie jetzt nicht mehr vor Gott sein — Christus hat sie im Himmel nicht mehr auf Sich. Befinde ich mich vor Gott, so finde ich da einerseits nur eine unendliche, unveränderliche Liebe, weil Christus dort ist, und andererseits nur eine vollkommene göttliche Gerechtigkeit in Ihm, ebenfalls weil Er dort ist. Unendliche Liebe, vollkommene und göttliche Gerechtigkeit und unveränderliche Gnade sind dem Gläubigen zuteil geworden in Christo vor Gott.

Dies führt uns in der Betrachtung der Früchte der Gnade einen Schritt weiter. Nicht allein sind unsere Sünden durch die Gnade hinweggetan, so daß wir Frieden mit Gott haben, sondern wir können auch genießen von der Gnade Gottes, die den Frieden gestiftet hat — von einer Gnade, die jetzt beständig in dem Herzen Gottes für uns ist. Die Gnade hat nicht allein durch das Werk Christi alle Hindernisse beseitigt, sondern sie bleibt auch immer unveränderlich in dem Herzen Gottes. Sein Auge ruht auf uns mit derselben Liebe, wie es auf Christo ruht. Durch Christum haben wir Frieden, durch Ihn auch Zugang durch den Glauben zu der Gnade und Gunst, in der wir in Ihm vor Gott stehen. Diese Gunst genießen wir in der Gegenwart Gottes. Nicht allein rechtfertigt uns der himmlische Richter, sondern ein himmlischer Vater nimmt uns auf; ein lichtvolles, gnädiges Antlitz voll väterlicher Liebe erleuchtet und erfreut unsere Seele und erquickt unser Herz, so daß wir mit einem völlig ruhigen Herzen in Seiner Gegenwart sind und in Seinen Pfaden wandeln; wir haben das köstliche Bewusstsein, daß wir in der Gunst Gottes stehen. Was unsere Sünden betrifft, so sind alle hinweggetan; was unseren gegenwärtigen Zustand vor Gott betrifft, so ist alles Liebe und Gunst, in der hellen Klarheit Seines Angesichts; was die Zukunft betrifft, so wartet unser die Herrlichkeit, sie ist unser Teil, wenn wir sie auch jetzt noch nicht genießen. Friede, göttliche Gunst, die Herrlichkeit in Hoffnung, das ist das Teil des Glaubenden, die gesegnete Frucht der Liebe Gottes. Man könnte nun sagen: Es ist also alles vorhanden für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und doch hat der Apostel noch etwas hinzuzufügen. Weil die Herrlichkeit für uns noch in der Zukunft liegt, haben wir noch einen Weg zu machen, um sie zu erreichen. Und Gott vergisst uns auch auf diesem Wege nicht. Der Apostel sagt deshalb: „Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale“. Die Wüste ist der Ort, wo die Erfahrungen der Erlösten in betreff ihres wirklichen Zustandes und der Regierungswege Gottes gemacht werden. Die Erlösung ist vollbracht; wir sind zu Gott gekommen, wie geschrieben steht: „. . . Wie ich euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe“ (2. Mo 19, 4). Dies ist eine im Ratschluß Gottes vorherbestimmte und jetzt vollendete Tatsache. Die Herrlichkeit ist ein Teil des Ratschlusses Gottes, und auch dieser Teil muß für die Gerechtfertigten erfüllt werden. Die Wüste bildet keinen Teil dieses Ratschlusses, aber sie ist der Ort, wo wir Seine Wege mit uns kennen lernen. Allerdings ging der Räuber am Kreuz mit Christo an demselben Tag noch ins Paradies ein, um dort bei Ihm zu wohnen. Sein Zustand war passend für eine solche Stellung. Wenn er die Folgen seiner Missetaten von seiten der Menschen tragen musste, so ertrug Christus für ihn von seiten Gottes alles, was er vor Ihm schuldig war, und der gerechtfertigte Sünder folgte Ihm an dem selben Tag noch nach in die Wohnungen der Seligkeit. Er hatte also keinen weiten Weg der Erfahrungen zu machen. Im allgemeinen aber durchpilgert der Gläubige eine Welt, wo Schwierigkeiten und Versuchungen ihm entgegentreten und ihn von allen Seiten umringen. Christus ist vor uns durch diese Welt gegangen, und wir sind berufen, in Seinen Fußtapfen zu wandeln. Dadurch aber wird unser Zustand geprüft. Die Erlösung kommt dabei nicht in Frage; denn eben sie ist es, die uns in die Wüste gebracht hat. Wir sind aber schuldig, unserer Berufung und der Stellung gemäß, in welche die Erlösung uns versetzt hat, zu wandeln, würdig des Gottes, der uns zu Seinem eigenen Königtum und zu Seiner eigenen Herrlichkeit berufen hat. Die Trübsale prüfen die Seele, inwieweit der Eigenwille wirksam ist; sie machen die Wirkung der Sünde in uns offenbar, so daß wir sie entdecken. Wir werden von Gott erforscht. Einerseits lernen wir dadurch erkennen, was wir sind, andererseits aber auch, was Gott für uns ist in Seiner Treue und täglichen Fürsorge. Wir werden von der Welt entwöhnt, und unsere Augen werden mehr befähigt, das, was himmlisch ist, wahrzunehmen und zu schätzen. So wird die Hoffnung, die schon im Herzen ist, viel lebendiger und klarer. In diesem Sinn können wir alle Trübsale betrachten, weil wir den Schlüssel zu allem besitzen: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist“. Die Fürsorge Gottes in dieser Beziehung ist wunderbar. „Er zieht Seine Augen von dem Gerechten nicht ab“. Er denkt an alles bei Seinen Kindern, an ihren Charakter, ihre Umstände, ihre Versuchungen; Er tut alles, was nötig ist, um sie zum glückseligen Ende ihrer Pilgerschaft zu bringen. Die Füße der Israeliten waren nach vierzigjähriger Wanderschaft nicht geschwollen und ihre Kleider nicht abgenutzt. Er läßt alles zusammenwirken zum Besten derer, die Ihn lieben.

Doch noch einige andere, sehr wichtige Punkte haben wir hier zu beachten. Zum ersten Mal finden wir an dieser Stelle den Heiligen Geist erwähnt. Die Ausgießung des Geistes in das Herz ist etwas ganz anderes, als die neue Geburt. Man muß allerdings von neuem geboren werden, um den Heiligen Geist empfangen zu können; aber der Sünder hat noch mehr nötig, als die neue Geburt. In dieser Stelle wird der Heilige Geist betrachtet als das den Gläubigen gegebene Siegel des Wertes des Blutes Christi und der vollkommenen Reinigung, deren sie durch die Anwendung dieses Blutes teilhaftig geworden sind. Gewaschen von ihren Sünden, werden sie die Wohnung des Heiligen Geistes. Er ist die Salbung, das Siegel der Gläubigen und das Pfand der Herrlichkeit. Durch Ihn rufen sie: „Abba, Vater!“ (Gal 4, 6), durch Ihn wissen sie, daß sie in Christo sind und Christus in ihnen (Joh 14, 16-20), und hier an dieser Stelle wird uns mitgeteilt, daß durch Ihn auch die Liebe Gottes ausgegossen ist in ihre Herzen. Die Anordnung Gottes über die Reinigung des Aussätzigen (3. Mo 14) liefert uns ein treffendes Vorbild von dem, was in der gegenwärtigen Zeit mit dem Gläubigen geschieht. Der Aussätzige wurde zunächst mit Wasser gewaschen, dann mit Blut besprengt und schließlich mit Öl gesalbt. So wird auch jetzt ein Mensch zuerst bekehrt, dann teilhaftig der vollkommenen Reinigung, die durch das Blut Christi bewirkt ist, und schließlich empfängt er die Versiegelung des Heiligen Geistes. Durch Ihn haben wir die vollkommene Versicherung, daß wir an der vollbrachten Erlösung teilhaben, kraft unseres gesegneten Verhältnisses zu Gott und zu Christo, und Er ist das Pfand der zukünftigen Herrlichkeit. Alles aber ist die Folge der Besprengung mit dem Blute Christi.

So ist Gott von uns gekannt, wir sind teilhaftig geworden der göttlichen Natur, wir haben unsere Erlösung und Rechtfertigung verstanden und machen die Erfahrung von Seiner Treue. Er offenbart Sich unseren Seelen und offenbart uns auch die Herrlichkeit, die vor uns liegt. Wir wissen, daß wir in Ihm sind, und daß Gott in uns wohnt. So rühmen wir uns nicht allein dessen, was Er uns gegeben hat, nicht allein unserer Errettung, sondern auch Gottes Selbst. Ein dankbares Kind ist nicht nur darüber glücklich, daß es viel von seinem Vater empfangen hat, sondern sein Herz erfreut sich auch darin, daß sein Vater ein solcher ist, wie ihn seine liebevollen Wege geoffenbart haben; es ist glücklich, weil sein Vater für sein Herz alles ist, was es liebt; es erfreut sich in persönlicher Erfahrung in seinem Vater und rühmt sich seiner. Welch ein Vorrecht, uns Gottes Selbst rühmen zu können! Das macht die Freude und den Genuss der Gnade groß. Der höchste Charakter unserer ewigen Freude wird dadurch schon hienieden verwirklicht, und diese Freude ist begleitet von einem tiefen Frieden. Was Gott in Sich Selbst ist, ist der unendliche, aber gegenwärtige Gegenstand für eine Natur, die fähig ist, Ihn zu genießen, indem der Heilige Geist Ihn in der Seele offenbart.

Hiermit ist der erste Teil des Briefes und, man kann sagen, die Lehre des ganzen Briefes beendigt. Was jetzt noch folgt, ist unsere Stellung in Christo und die Erfahrungen, die in der Seele gemacht werden, um in diese Stellung einzutreten. Dann folgen Ermahnungen für die Befreiten. Unsere Stellung ist nicht im Fleische, sondern im Geiste, oder in Christo. Um aber wahrhaft befreit zu werden, müssen wir lernen, was das Fleisch ist, und zwar durch die Erfahrung; dann, und nur dann, werden wir aus dem gesetzlichen Zustand der Seele in den geistlichen in Christo hinübergehen, kraft des Todes und des Lebens Jesu Christi. Doch wir werden später noch einmal hierauf zurückkommen. Zunächst müssen wir die Stellung selbst, oder vielmehr die zwei Stellungen, und die darauf bezügliche Lehre betrachten. Es ist wichtig, hier zu bemerken, daß es sich bei dieser Befreiung um Erfahrung handelt, durch die sie allein gekannt werden kann. Mit der Vergebung der Sünden ist es anders. Wohl ist es wahr, daß Gott uns in allem belehren muß; aber zu glauben, daß etwas außer mir getan oder geschehen ist, ist etwas ganz anderes als etwas von mir selbst zu glauben, was ich praktisch nicht in mir verwirklicht finde. Das Werk Christi auf dem Kreuz, wodurch ich Vergebung und, insofern es sich um Vergebung handelt, Frieden erlange, ist außer mir vollbracht worden, und ich bin berufen, zu glauben, daß Gott es als Genugtuung für meine Sünden angenommen hat. Daß ich dies glaube, ist wohl das Werk Gottes in meinem Herzen, aber die Sache an und für sich ist einfach. Ein Kind, das bestraft werden soll, versteht ganz gut, was es heißt, Vergebung zu erhalten. Aber wenn man mir sagt: Wenn du glaubst, so bist du tot für die Sünde, so erwidere ich, und zwar gerade dann, wenn ich ernst und aufrichtig bin: Das ist nicht wahr, denn ich fühle ihre Wirksamkeit in meinem Herzen. Diese Frage nun — unser Zustand — wird im zweiten Teil des Römerbriefes behandelt. Sind wir im Fleische oder im Geiste? Sind wir in Christo und ist Christus in uns, sind wir also der Sünde gestorben, oder sind wir bloße Kinder Adams, so daß die Sünde ihre Kraft in uns ausübt, selbst wenn wir es nicht wollen?

Die Behandlung dieser Frage beginnt mit dem zwölften Vers des fünften Kapitels. Der Apostel spricht nicht mehr von dem, was wir getan haben, wie im ersten Teil des Briefes, sondern von dem, was wir sind, und zwar infolge der Sünde Adams. Durch den Ungehorsam des Einen sind die Vielen, d. h. alle, die durch ihre Geburt mit ihm als ihrem Urvater in Verbindung stehen, zu Sündern gemacht worden. „Gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod und also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben“ (V. 12). Dieser Satz wird erst in Vers 18 fortgesetzt. Die Verse 13—17 bilden einen Zwischensatz, dessen Zweck ist, zu zeigen, in welchem Verhältnis das Gesetz zu dieser Frage steht, und zu beweisen, daß der Mensch, ohne ein Gesetz von Gott empfangen zu haben, unter dem Joch der Sünde steht und dem Gericht verfallen ist. Der Beweis, daß die Sünde über alle Menschen herrscht, ist der Tod. Adam war unter einem Gesetz; es war ihm verboten, von der Frucht eines gewissen Baumes zu essen. Die Juden standen, wie wir alle wissen, als Volk unter dem Gesetz Moses. Wenn also Adam das ursprüngliche Gesetz, und die Juden die Gebote Gottes nicht beobachtet hatten, so waren sie in bestimmter Weise in dem Punkt schuldig, worin sie ungehorsam gewesen waren. Sie hatten das getan, was das Gesetz verboten hatte. Vers 14 bezieht sich auf das, was in Hosea 6, 7 von Israel gesagt ist: „Sie haben den Bund übertreten wie Adam“. Adam wie Israel standen mit Gott in Verbindung durch ein bestimmtes Gesetz. Mit den Heiden war es anders; sie besaßen kein Gesetz. Wohl hatten sie das Gewissen und die Pflicht, Gott gehorsam zu sein. Aber man konnte nicht sagen, daß sie in diesem oder jenem Punkt einen gekannten Befehl Gottes übertreten hätten, weil es keinen gab. Es war für sie kein Gesetz vorhanden, und so konnte man das, was sie getan hatten, ihnen nicht als Übertretung zurechnen. Aber die Sünde war da; das Gewissen nahm alles wahr, was gegen seine Stimme getan wurde, und der Tod herrschte über sie. Die Herrschaft des Todes bewies also das Vorhandensein der Sünde, deren Folge er war. Jeder, auch wenn er nicht unter Gesetz stand, hatte sein Gewissen verunreinigt, und der Tod war der beständige Beweis davon, daß Sünde vorhanden war. Die Nationen, die kein Gesetz hatten, starben genau so, wie die Juden.

Sollte sich denn die Wirksamkeit der Gnade auf den engen Kreis des Judentums beschränken, weil die Juden allein die Verheißungen und alle Vorrechte einer Offenbarung, besonders das Wort Gottes, besaßen? Im Gegenteil. Das Christentum war die Offenbarung Gottes selbst, nicht allein des Willens Gottes in bezug auf die Menschen; deshalb dehnte sich diese Offenbarung notwendigerweise weit über die Grenzen des Judentums aus. Im Christentum gibt es kein einem einzelnen Volke gegebenes Gesetz; dem Volke Israel war ein Gesetz gegeben worden, das lehrte, was der Mensch sein sollte, aber es offenbarte Gott nicht. Wohl war es von Verheißungen begleitet, aber von Verheißungen, die noch nicht erfüllt waren; zugleich verbot es dem Menschen den Zugang zu Gott. Das Christentum aber gab eine Offenbarung Gottes nach der Liebe, in der Person des Sohnes; es verkündigte eine vollkommene Erlösung durch Seinen Tod, eine vollkommene, gegenwärtige Rechtfertigung durch den Glauben, kraft dieses Todes. Es bezeugte, daß der Vorhang, der den Zugang zu Gott verbot, zerrissen ist, so daß der Zugang vollkommen frei geworden und der Gläubige mit Freimütigkeit auf diesem neuen und lebendigen Wege herzunahen kann. So ist die ewige Segnung nicht in dem ersten sündhaften Menschen, noch durch das Gesetz. Denn dieses konnte, indem es auf jenen angewendet wurde, nicht anders, als ihn verdammen, weil es die vollkommene göttliche Richtschnur für das Verhalten eines Menschen bildete, und es stellte, da der Mensch ein Sünder war, alle, die unter Gesetz standen, unter den Fluch. Die Segnung Gottes ist in dem letzten Adam, dem zweiten, und zwar verherrlichten Menschen, nachdem Er vorher für uns zur Sünde gemacht worden war; in Ihm, welcher der Kraft Satans begegnete und Sich dem Tode unterwarf, obgleich Er von ihm nicht behalten werden konnte, welcher Sich dem Fluch und dem Verlassensein von Gott in Seiner Seele unterzog und von Gott, Der durch Sein Werk vollkommen verherrlicht wurde, aus den Toten auferweckt und als Mensch zu Seiner Rechten gesetzt worden ist. Ein Gott, Der Sich in solcher Weise geoffenbart hatte, konnte nicht Gott der Juden allein sein.

In den Versen 15—17 zeigt der Apostel, daß die Gnade die Sünde noch weit übertrifft. Wenn (V. 15) die Folgen der Sünde Adams nicht allein auf ihn beschränkt blieben, sondern sich auch auf seine Nachkommen erstreckte, so gehen noch vielmehr die Folgen des Werkes Christi auf diejenigen über, die Sein sind. Nach Vers 16 sind durch die Sünde Adams alle seine Nachkommen verloren, aber die Gnade, die freie Gabe, ist nicht allein für den verlorenen Zustand, sondern auch für viele Übertretungen gültig. Die Überschwänglichkeit der Gnade tritt besonders glänzend in Vers 17 hervor, in dem wir lesen: „Denn wenn durch die Übertretung des Einen der Tod durch den Einen geherrscht hat, so werden vielmehr die“ — man sollte denken, es müsse der Nachsatz lauten: so wird vielmehr das Leben herrschen; aber nein, sondern — „die, welche die Überschwänglichkeit der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den Einen, Jesum Christum“.

Mit Vers 17 schließt der Zwischensatz, und der Apostel nimmt in Vers 18 den in Vers 12 unterbrochenen Gedankengang wieder auf. Die Folgen des Sündenfalls Adams beziehen sich auf alle Menschen; ebenso bezieht sich durch das Werk Christi die freie Gabe auf alle Menschen. Das Evangelium kann also auf alle angewendet werden; es richtet sich an die ganze Welt, an alle Sünder. In Vers 19 haben wir die tatsächliche Anwendung. Durch den Ungehorsam eines Menschen befinden sich die Vielen, die mit ihm in Verbindung sind, d. h. alle Menschen, in dem Zustand dieses Einen, d. h. in einem sündhaften Zustand. Durch den Gehorsam eines Menschen befinden sich alle, die mit ihm in Verbindung sind, d. h. alle Christen, in der Stellung dieses Einen, d. h. .in der Stellung der Gerechtigkeit vor Gott. Adam war das Vorbild des zukünftigen Menschen. In dem einen sind wir verloren gegangen, in dem anderen sind alle, die mit ihm verbunden sind, errettet, gerecht vor Gott. Die Schuld eines Menschen hängt davon ab, was er getan hat, sein wirklicher Zustand dagegen von dem, was der eine Adam getan hat. Adam und Christus sind die Häupter von zwei Geschlechtern; der eine ist das Haupt eines sündhaften, der andere das Haupt eines vor Gott gerechten Geschlechts, und hier sind das Leben und die Stellung unzertrennlich. Das Gesetz trat als Nebensache zwischen den ersten und zweiten Adam. Die Wurzel des gefallenen menschlichen Geschlechts war Adam, der erste Mensch. Das Haupt und die Lebenswurzel des gesegneten, erretteten Geschlechts ist Christus. „Das Gesetz aber kam daneben ein“, als der Maßstab dafür, wie es bei der gefallenen Menschheit hätte sein sollen, aber nie wirklich geworden ist. Das Gesetz war nie das Mittel des Lebens oder der Errettung, sondern die Regel davon, was der Mensch hier hätte sein sollen, verbunden mit einer Verheißung des Lebens: „wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben“ (vgl. Gal 3, 12); aber es gebot einem sündhaften Menschen, nicht zu sündigen! Sein Zweck war, wie der Apostel hier sagt, die Übertretung überströmend zu machen — nicht die Sünde, denn Gott kann nichts tun, um die Sünde zu vermehren; aber Er konnte eine Regel geben, als die Sünde schon da war, um ihre Früchte ans Licht treten zu lassen. Obgleich also das Gesetz die vollkommene Regel für den Wandel eines Kindes Adams bildete, so war es doch tatsächlich stets eine Nebensache. Der Mensch war schon ein verlorener Sünder, und das Gesetz stellte die Frucht des faulen, verderbten Baumes ans Licht. Später werden wir finden, daß es noch mehr als dieses tat. An dieser Stelle aber wird uns nur gesagt, daß es die Übertretung überströmend machte. Wir erblicken wirklich die Wege Gottes im ersten wie im zweiten Adam. Der Mensch war ein Sünder, ein verlorener Sünder, Christus ein Erretter.

Als Beweis dafür, was der Mensch war, war das Gesetz nützlich, weil es die Gerechtigkeit von dem Menschen forderte nach dem Maß seiner Verantwortlichkeit. Der Zweck des Gesetzes nach der Regierung Gottes war, den eigenen Willen des Menschen im Ungehorsam, in den Übertretungen offenbar zu machen, weil es ohne Gesetz keine Übertretung gibt. Das setzt aber, wie es auch im Gesetz selbst zu sehen ist, die Sünde voraus. Das Gericht Gottes wird ausgeübt nach der Verantwortlichkeit des Menschen, nach dem, was er getan hat, sei es ohne Gesetz oder unter dem Gesetz. Sein verlorener Zustand ist eine andere Sache. Verloren gegangen ist er in Adam; den Beweis dafür liefert die Welt in schrecklicher Weise, und genau so unsere eigenen Herzen, wenn wir sie kennen. Der Ungehorsam des Einen hat allein den Zustand gebracht. Dieser Zustand ist nicht ein zukünftiges Gericht, sondern eine gegenwärtige Tatsache: wir sind in die Stellung von Sündern gesetzt. Die ganze Familie ist durch ihren Stammvater mit ihm in demselben Zustand: von Gott getrennt, ja vertrieben, in Feindschaft gegen Ihn, aus Seiner Gegenwart ausgeschlossen und auch ohne Verlangen, in sie einzutreten. Der Mensch zieht Vergnügungen, Geld, Eitelkeit, weltliche Macht, schöne Kleider, kurz alles und jedes, Gott vor, selbst wenn er sich darstellt als einen solchen, der glaubt, daß der Sohn Gottes für ihn in Liebe gestorben ist. Es gibt nur einen Gegenstand, der in der Welt unzulässig ist, nämlich Christus und die Offenbarung Gottes in Ihm, obwohl diese Offenbarung die Liebe ist. Durch den Ungehorsam des Einen sind die Vielen in die Stellung von Sündern gesetzt. Die wichtige Wahrheit also, die uns hier vor Augen gestellt wird, ist nicht die durch die schlechten Werke hervorgebrachte Schuld und die Gnade, durch die sie beseitigt worden ist, sondern der Zustand der gefallenen Kinder Adams, als allgemeiner Grundsatz. (Dadurch wird das Gesetz als Nebensache beiseitegesetzt, obwohl es für das Gewissen des Juden gültig war und stets eine vollkommene Regel der menschlichen Gerechtigkeit bildete und diese Regel auch abgab, wo es, gestützt auf die Autorität Gottes, angewendet wurde). In Verbindung damit steht die Einführung einer neuen oder zweiten Wurzel der selig gemachten Menschen, und zwar in dem Auferstandenen, so wie Adam die Wurzel der gefallenen Menschen ist. Adam wurde erst dann die Wurzel eines Geschlechts, als er sündhaft geworden war, und Christus ist in der Tat nicht eher das Haupt der neuen Schöpfung gewesen (obgleich Gott durch Seinen Geist von Anfang an wirksam war), als bis die göttliche Gerechtigkeit sich in Seiner Verherrlichung erwiesen hatte. Erst als die Gerechtigkeit Gottes sich geoffenbart hatte — und zwar anwendbar auf uns, indem Christus verherrlicht wurde, nachdem Er unsere Sünden getragen und Gott vollkommen verherrlicht hatte, als Er zur Sünde gemacht worden war, — erst da ist Christus das Leben gebende Haupt des neuen, von Gott aufgenommenen Geschlechts geworden, und alles, von Anfang bis zu Ende, ist die Frucht der unermesslichen, unendlichen und unaussprechlichen Gnade Gottes. Die Gnade herrscht, aber weil sie auf das Werk Christi gegründet ist, herrscht sie durch Gerechtigkeit.

Das Ziel ist das ewige Leben, und zwar in seinem vollen und wahren Charakter nach dem Ratschluß Gottes, in der Herrlichkeit, in die Christus, dieser Gerechtigkeit nach, als Mensch schon eingegangen ist. Die Gerechtigkeit herrscht noch nicht; sie wird herrschen am Gerichtstage. Dann aber wird die menschliche Gerechtigkeit, nämlich das, wozu der Mensch verpflichtet war, den Maßstab des Gerichts bilden; der Mensch wird dann gerichtet werden nach den Pflichten, die ihm gegen Gott und seinen Nächsten, nach dem Recht Gottes, auferlegt waren. Die Urquelle des Heils für den Menschen aber ist die Gnade, weil Gott die Liebe ist und wir Sünder sind; denn die Gnade ist die Ausübung der Liebe gegen die, welche kein Verdienst, keine Würdigkeit besitzen. Und darin hat sich die Liebe geoffenbart, so daß die Engel sie kennen lernen müssen aus den Wegen Gottes gegen uns. Gott ist aber auch gerecht und muß die Gerechtigkeit aufrecht halten, und Seine Heiligkeit kann die Sünde nicht für immer in Seiner Gegenwart dulden. Daß alle Menschen unter der Sünde liegen und schuldig sind, hat Er bewiesen, und dann ist Er wirksam gewesen nach Seiner unumschränkten Liebe, nicht allein um Sünden zu vergeben (wovon wir schon gesprochen haben), sondern um eine ganz neue Stellung zu bereiten, nach Seinem ewigen Ratschluß und für Seine ewige Verherrlichung, nach dem, was Er ist in Seinem Wesen. Die Ausführung dieses Ratschlusses, und zwar kraft des Werkes Christi nach Seiner vollkommenen Gerechtigkeit, ist der Ausdruck und die Offenbarung Seiner unendlichen Liebe. Die Liebe hat sich darin geoffenbart, daß Er Seinen Sohn gesandt und Ihn für uns in Tod und Fluch dahingegeben hat. Die Gerechtigkeit ist darin geoffenbart, daß Er Christum, der Ihn vollkommen verherrlicht hatte, als Mensch zu Seiner Rechten in die göttliche Herrlichkeit gesetzt hat, in die Herrlichkeit, die Er als Sohn Gottes mit dem Vater schon vor Grundlegung der Welt besaß, die Er aber als Menschensohn verdient hat, so daß die göttliche Gerechtigkeit Ihm diesen Platz notwendigerweise geben musste. Und wir haben teil an dieser Herrlichkeit Gottes, weil das Werk, durch das Gott vollkommen verherrlicht worden ist, zugleich für uns vollbracht wurde. Wir sind ein Teil der Herrlichkeit Christi in der Ewigkeit. Er würde nicht die Frucht der Mühsal Seiner Seele sehen, wenn Er Seine Erlösten nicht bei Sich in der Herrlichkeit hätte.

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