Betrachtung über den Brief an die Römer

Kapitel 3

Der Apostel beginnt jetzt die Juden auf ihrem eigenen Boden anzugreifen. Ihr Vorzug war groß, der Nutzen der Beschneidung war „viel, in jeder Hinsicht“, besonders deshalb, weil ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut waren. Der Apostel glaubte dies wirklich und mit Recht. Es handelt sich in dieser Hinsicht nicht darum, ob sie alle persönlich bekehrt waren; sie genossen die Vorrechte des Volkes Gottes, die sonst nirgends gefunden wurden, und wenn sie untreu waren, konnte ihre Untreue doch die Treue Gottes nicht aufheben. (Ebenso verhält es sich jetzt mit der bekennenden Christenheit). Die Verheißungen Gottes werden durch Seine Treue dem Volke Israel erfüllt werden, obwohl es alles Anrecht darauf verloren hat. Doch davon redet der Apostel erst später (in Kapitel 11).

Aber, könnte man sagen, dann läßt ja die Untreue des Menschen die unfehlbare Treue Gottes nur um so glänzender hervortreten! Und hebt nicht diese Tatsache, daß die Untreue des Menschen die Treue Gottes in noch hellerem Lichte erscheinen läßt, das Recht Gottes, den Menschen zu richten, auf? Keineswegs; denn nach diesem Grundsatz könnte Er niemanden richten, weil auch die Bosheit der Nationen Seine Treue in ein klareres Licht stellt. Die Juden sind ebenso verantwortlich für ihre Untreue wie die anderen; und daß diese gerichtet werden würden, bezweifelte der Jude nicht. Trotz ihrer Vorrechte sind also auch die Juden dem Gericht Gottes verfallen.

Der Apostel läßt sich nicht herab, eine Antwort zu geben auf die boshafte Äußerung etlicher: „Lasst uns das Böse tun, auf daß das Gute komme!“ und sagt bloß: „deren Gericht gerecht ist“. Die Christen wurden nämlich von der Welt angeklagt, als ob sie so sprächen. Die Gnade ist immer ein Gegenstand der Anklage, so lange die Seele nicht von der Sünde überführt ist; sobald aber das Gewissen zum Bewusstsein der Sünde kommt, wird die Gnade ein Gegenstand herzlicher Dankbarkeit. Wenn nun der Jude solche Vorrechte hatte, war er dann nicht besser als die aus den Nationen? Keineswegs. Der Apostel hatte schon bewiesen, daß beide, der Jude wie der Heide, der Sünde überführt waren. Und jetzt führt er eine ganze Anzahl von Stellen an, um zu beweisen, daß die Juden in ihren eigenen Schriften als solche betrachtet werden, die unter der Sündenschuld und unter der Kraft der Sünde stehen. Hinsichtlich der Heiden konnte hierüber kein Zweifel sein; sie waren ganz von Gott entfernt, waren in Abgötterei und Götzendienst versunken, beteten die Götzen an und lebten in Gesetzlosigkeit. Der Jude dachte von sich aber ganz anders. Er war nahe gebracht und aller Vorrechte teilhaftig geworden. Der Apostel selbst hatte es als das größte Vorrecht der Juden anerkannt, daß ihnen das Wort Gottes, die Aussprüche Gottes, anvertraut seien. Was aber sagten nun diese Aussprüche, die sich auf die Juden bezogen, und deren sie sich rühmten, als ihnen allein gehörig? Sie sagten: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer“. Eine ganze Reihe von Stellen aus den Psalmen und aus Jesajas, die der Apostel anführt, beweist den in allen Beziehungen durchaus sündhaften Zustand derer, von denen die Rede ist. Und daß von den Juden die Rede ist, müssen diese nach ihrem allgemeinen Grundsatz selber zugeben, denn: „wir wissen aber, daß alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind“. So ist denn jeder Mund verstopft und die ganze Welt schuldig vor Gott. Die Nationen sind ganz ohne Gott; die Juden aber sind von dem Worte Gottes selbst, dessen sie sich rühmen, verurteilt. Durch Gesetzeswerke also kann kein Fleisch vor dem Angesicht Gottes gerechtfertigt werden, „denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“. Das Gesetz, das man als Regel der Gerechtigkeit annahm, bewies, daß der Mensch ein Sünder war; es überführte und verdammte ihn, und zwar ausdrücklich in seinem Gewissen, und brachte zugleich das Bewusstsein hervor, daß die Sünde in ihm sei.

Nachdem der Apostel auf diese Weise bewiesen hat, daß alle Menschen sündhaft sind, kommt er wieder auf das zurück, was er schon in Vers 17 von Kapitel 1 als Grundsatz des Evangeliums hingestellt hat, nämlich die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Alles, was von Vers 18 des ersten bis Vers 21 des dritten Kapitels gesagt ist, bildet einen Zwischensatz, um zu beweisen, daß eine Gerechtigkeit Gottes notwendig ist, weil es in der Menschheit keine Gerechtigkeit gibt. Nachdem dies geschehen ist, geht der Apostel auf diese Gerechtigkeit Gottes und ihre Anwendung auf die Menschen näher ein. Diese Gerechtigkeit steht nicht in Beziehung zum Gesetz, das nur die vollkommene Richtschnur für die Menschen war. Gott kann aber Seine Gerechtigkeit nicht nach dem Maßstabe der menschlichen Gerechtigkeit oder ihrer Verantwortlichkeit messen. Nach diesem Maßstab richtet Er die Menschen, die das Gesetz gehabt haben. Seine Gerechtigkeit muß nach Seiner eigenen Natur gemessen werden, und Seine Natur offenbart sich in dem, was Er tut. Er muß Sich Selbst verherrlichen, das ist offenbaren; denn bei Gott ist Seine Offenbarung auch Seine Verherrlichung. Wenn Er richtet, so richtet Er die Menschen nach ihrer menschlichen Verantwortlichkeit; wenn Er tätig ist, so ist Er es nach Seiner eigenen Natur. Das Gesetz weiß nichts von dieser Natur. Es sagt, daß wir Gott lieben sollen; aber was ist Er? Das Gesetz ist dem Menschen und seinem Verhältnis zu Gott angepasst. Die Gerechtigkeit Gottes steht ganz und gar außerhalb der Frage des Gesetzes, selbst jedes Gesetzes, was für ein Gesetz es auch sein möge; es sei denn, daß die Natur Gottes Selbst als solches angesehen wird. Er ist ein Gesetz für Sich Selbst, vollkommen in Seiner Natur. Seine Gerechtigkeit ist jetzt erwiesen in dem, was Er getan hat hinsichtlich der Person Christi, indem Er Ihn infolge Seines vollbrachten Werkes zu Seiner Rechten gesetzt hat. Das Gesetz und die Propheten haben Zeugnis davon gegeben. Die Gerechtigkeit Gottes Selbst ist ausgeübt worden in der Annahme und Verherrlichung Christi um Seines Werkes willen. Und an dieser Annahme haben auch wir teil durch den Glauben, weil Er dieses Werk für uns getan hat. Eben weil es die Gerechtigkeit Gottes ist, gegründet auf das Werk Christi, indem Er für alle gestorben ist, bezieht sie sich auf die ganze Welt und auf alle Menschen: alle, die an Christum glauben, ob Juden oder Heiden, haben teil daran und auch teil an allen Vorrechten, welche die Folge davon sind. Wäre es menschliche Gerechtigkeit, so müsste sie nach dem Gesetz sein, und wäre sie nach dem Gesetz, so würden nur die Juden teil daran haben, weil nur sie das Gesetz hatten. Da es aber die Gerechtigkeit Gottes ist, so ist sie für alle geoffenbart, und die Gerechtigkeit ist allen, die da glauben, zugerechnet. So ist also die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Christum Jesum für alle Sünder geoffenbart; sie ruht auf allen, die an Ihn glauben. „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist“.

Alle Menschen befinden sich also von Natur in demselben Zustande, weil sie alle gleich sind in der Sünde; ebenso aber ist auch die Gnade gleich für alle, weil die Gerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit und für alle Gläubige dieselbe ist, und infolgedessen stehen alle Gläubige, in dieser Gerechtigkeit angenommen, auf demselben Boden vor Gott. Gott hat Jesum Christum öffentlich dargestellt als Gnadenstuhl durch den Glauben an Sein Blut, und hat dadurch Seine Gerechtigkeit erwiesen in betreff der Sünden der Heiligen des Alten Testaments, die Er in Seiner Nachsicht hatte hingehen lassen. Jetzt aber ist Seine Gerechtigkeit in diesem Hingehenlassen erwiesen, indem Christus für sie gestorben ist; auf Grund dieses Versöhnungstodes, den Gott vor Seinen Augen hatte, konnte Er jene Sünden hingehen lassen. Ferner ist die Gerechtigkeit auch in der jetzigen Zeit geoffenbart; sie erklärt nicht nur die früheren Wege Gottes, sondern ist auch für die gegenwärtige Zeit eine Offenbarung des Grundes der Rechtfertigung der Gläubigen durch ein vollbrachtes Werk; sie ist deshalb eine gegenwärtige, verwirklicht in der Rechtfertigung aller Gläubigen nach der Gerechtigkeit des gerechten Gottes. Gott ist gerecht und rechtfertigt um des Werkes Christi willen; ja, Er erweist Seine Gerechtigkeit, indem Er dies tut. Nicht als ob wir dessen würdig wären, sondern Gott erkennt den Wert des Werkes Christi an, indem Er uns rechtfertigt. Also ist die Rechtfertigung eine geoffenbarte, bekannte Sache, weil das Werk vollbracht ist.

Der Mensch kann sich seiner selbst nicht rühmen, auch der Jude nicht, trotz aller seiner Vorrechte. Aller Ruhm ist ausgeschlossen. Auf welchem Grundsatz? Durch welches Gesetz? Der Werke? Nein, durch das Gesetz des Glaubens. Der Mensch, wer er auch sein mag, nimmt den Platz eines Sünders ein. Die Gnade, und die Gnade allein, gilt für alle in gleicher Weise. Denn wir sind zu dem Schluss gekommen, daß man durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. „Ist Gott der Gott der Juden allein? Nicht auch der Nationen? Ja, auch der Nationen“. Ein solcher muß Er sein, ein solcher war Er, selbst im Alten Testament, obwohl Er, als alle Geschlechter der Erde in Götzendienst versunken waren, Israel in der Person Abrahams aus ihrer Mitte erkor, um die Erkenntnis des einen Gottes auf der Erde zu bewahren. Jetzt aber hat Er nach der Gnade Seinen Platz genommen als Gott über alle Menschen, nach der Wahrheit Seines unveränderlichen Rechts, indem es ein und derselbe Gott ist, der die Beschneidung aus Glauben und die Vorhaut durch Glauben rechtfertigt. Die Verschiedenheit der hier gebrauchten Ausdrücke „aus Glauben“ oder „auf dem Grundsatz des Glaubens“ und „durch Glauben“ erklärt sich dadurch, daß die Juden wohl die Gerechtigkeit suchten, aber auf einem falschen Grundsatz, nämlich auf dem Grundsatz der Werke; sie müssen die Gerechtigkeit haben, und zwar eine göttliche Gerechtigkeit, aber auf einem anderen Grundsatz, auf dem des Glaubens. Und weil die göttliche Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Glaubens beruht, so wird auch der glaubende Heide ihrer teilhaftig durch den Glauben, der durch die Gnade in ihm gewirkt ist. Macht denn dieser Grundsatz das Gesetz ungültig? Keineswegs. Die Autorität des Gesetzes ist vollkommen festgestellt und bestätigt worden, aber zur Verdammnis aller derer, die sich unter seiner Autorität befanden. Nichts könnte seine Autorität so vollkommen feststellen wie die Tatsache, daß der Herr Selbst den Fluch des Gesetzes auf Sich genommen hat.

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