Betrachtung über den Brief an die Römer

Vorwort

Der Verfasser, von dem der „Botschafter“ in den früheren Jahrgängen manches köstliche Zeugnis in Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen gebracht hat, schrieb diese Betrachtungen auf besonderen Wunsch in deutscher Sprache. Da er es nicht gewohnt war, sich in deutscher Sprache auszudrücken, war es nötig, seine Arbeit in sprachlicher Hinsicht etwas umzugestalten; aber seine Ausdrucksweise wurde möglichst beibehalten.

Es ist dem teuren Verfasser nicht vergönnt gewesen, diese Betrachtungen über den Römerbrief bis zum letzten Kapitel durchzuführen. Zunehmende Schwäche und endlich sein Heimgang am 29. April 1882 setzten seiner reich gesegneten Tätigkeit ein Ziel, so daß die Betrachtungen nur bis etwa zur Mitte des zehnten Kapitels gehen. Die eigentliche Lehre des Briefes aber ist darin vollständig und ausführlich dargelegt, und so möge dieses Zeugnis aus der letzten Zeit der rastlosen Wirksamkeit des treuen Dieners des Herrn reich gesegnet sein für alle, die es lesen!

Bei dieser Gelegenheit teilen wir noch in Übersetzung seinen letzten Brief mit, den er an seine „geliebten Brüder“ im allgemeinen gerichtet hat:

Meine geliebten Brüder!

Nachdem ich in Schwachheit Jahre der Gemeinschaft mit euch verlebt habe, habe ich nur noch so viel körperliche Kraft, um einige Zeilen zu schreiben, die mehr der Ausdruck der Liebe sein, als etwas anderes bezwecken sollen.

Ich gebe Zeugnis der Liebe, die ich genossen habe, nicht allein von seiten des allezeit treuen Herrn, sondern auch von seiten meiner geliebten Brüder, die sie in all ihrer Geduld gegen mich bewiesen haben (und wie viel mehr noch hat der Herr Geduld mit mir gehabt). Mit aufrichtigem Herzen bezeuge ich dies. Doch ich kann sagen: Christus ist mein einziger Gegenstand gewesen, und, Gott sei Dank! auch meine Gerechtigkeit. Ich bin mir nichts bewusst, das ich zu widerrufen hätte, ich weiß auch jetzt nur weniges noch hinzuzufügen.

Haltet fest an Ihm! Rechnet auf reiche Gnade in Ihm, die euch befähigt, Ihn darzustellen in der Kraft der Liebe des Vaters! Seid wachend und auf Christum wartend!

Ich habe nichts weiter hinzuzufügen als die Versicherung meiner ungeheuchelten und dankbaren Liebe in Ihm.

J. N. D.

Auch möchte es für viele von Interesse sein, aus einer seiner früheren Mitteilungen den Entwicklungsgang seiner inneren Überzeugungen kennenzulernen. Wir lassen die betreffende Mitteilung deshalb hier folgen:

„Ich mochte etwa sechs oder acht Jahre bekehrt sein, als ich durch göttliche Belehrung verstehen lernte, was der Herr in Joh 14 sagt: 'An jenem Tage werdet ihr erkennen ... daß ihr in mir seid und ich in euch'. Ich erkannte, daß ich eins war mit Christo vor Gott. Ich fand Frieden und habe den seit jenem Augenblick, trotz vieler Mängel meinerseits, nie verloren. Dieselbe Wahrheit brachte mich aus der Staatskirche heraus. Ich sah ein, daß die wahre Kirche aus denen besteht, die so mit Christo vereinigt sind, und ich kann hinzufügen, daß diese Wahrheit mich dahin leitete, den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten. Denn wenn ich in Ihm in die himmlischen Örter versetzt war, was hatte ich dann anders zu erwarten, als daß Er kam und mich in Wirklichkeit dorthin brachte. Die unendliche Liebe Gottes strömte in meine Seele. Von Anfang an hatte ich die tiefstmögliche Überzeugung von der Sünde; ich hatte schon früher erkannt und auch seit mehreren Jahren gelehrt, daß Christus allein diesen Abgrund ausfüllen könne, nicht aber, daß Er es bereits getan hat. Ich hatte die größten Anstrengungen gemacht, hatte gefastet - eine Sache, die, wie ich glaube, ganz nützlich ist, wenn sie in geistlicher Weise getan wird - hatte mir ein ausgedehntes System von Selbstverleugnung aufgebaut, hatte die Sakramente häufig gebraucht und eifrig die Kirche besucht. Aber ich hatte keinen Frieden gefunden, sondern nur die Entdeckung gemacht, daß alle diese Dinge dem Herzen keinen wahren Frieden zu geben vermögen. Ich suchte diesen Frieden eifrig, forschte in mir nach Beweisen der Wiedergeburt, was nie Frieden geben kann, und ruhte in Hoffnung, aber nicht im Glauben, in dem Werke Christi, bis ich, wie schon bemerkt, endlich Frieden fand, nachdem ich durch einen Zufall, wie man zu sagen pflegt, von meinen äußeren Anstrengungen abgelenkt worden war. Damals erlangte ich durch die Schrift eine tiefe Überzeugung von der Gegenwart des Heiligen Geistes, des verheißenen Sachwalters. Nicht lange nachher kam ich dahin, diese Wahrheit auf den Dienst anzuwenden. Ich sagte zu mir selbst: Wenn Paulus hierher käme, so würde er nicht predigen können, weil er keine Ordinations-Papiere besäße. Käme aber der bitterste Gegner seiner Lehre, der sich im Besitz solcher Papiere befände, so würde er, nach dem System, ein Recht haben zu predigen. Ich sah ein, daß das ganze System falsch ist. Es stellt den Menschen an die Stelle Gottes1.“

Möge die Saat, die der liebe Heimgegangene während seines langen, dem Herrn und Seinem Dienst gewidmeten Lebens durch sein unermüdliches Zeugnis von der göttlichen Wahrheit ausgestreut hat, reiche Früchte tragen zur Verherrlichung des Herrn und zum Heil der Seelen!

Fußnoten

  • 1 Collected writings of J. N. Darby, B. 1. S. 55, 56.
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