Was von Anfang war
Eine Auslegung der Johannesbriefe

3. Johannes 1-15

Was von Anfang war

Es gibt wohl kaum einen Brief, der in stärkerem Gegensatz zum zweiten Brief des Johannes steht, als den, mit dem wir uns jetzt beschäftigen. Dennoch haben beide einen gemeinsamen Ursprung; die in ihnen entfalteten Gegenstände sind nur deswegen so verschieden, weil die Gläubigen so unterschiedliche Bedürfnisse haben. In dem Herrn Jesus gibt es natürlich keinerlei Disharmonie, wohl aber eine unbegrenzte Anpassungsfähigkeit im Blick auf alles, was wir nötig haben. Doch die Gegenstände beider Briefe weichen auffallend voneinander ab. Der zweite Brief teilt uns eine äußerst ernste Warnung mit; was ihm den besonderen Wesenszug und die allgemeingültige Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, daß er nicht etwa an einen Ältesten oder Aufseher gerichtet ist, auch nicht an Männer wie Timotheus und Titus, die in begrenztem Maße und aus besonderem Grunde Vertreter des Apostels waren, und zwar in einem Ausmaß, das jene örtlichen Ämter überstieg, sondern an eine Christin, deren Name nicht genannt wird. Eine auserwählte Frau und ihre Kinder werden gemeinsam aufgefordert, die ihnen auferlegte Pflicht zu erfüllen. Es handelte sich natürlich nicht um eine öffentliche oder kirchliche Maßnahme, sondern es ging um persönliche Treue zu Christus in so zwingender Weise, daß es den Empfängern untersagt wurde, einen Irrlehrer in ihr Haus aufzunehmen oder ihn auf die übliche Art zu grüßen, weil er ein Antichrist war.

Der dritte Brief ist ein Ausfluß der innigsten christlichen Zuneigungen; er wurde an einen Christen gerichtet, der bereits wegen seiner Liebe und besonders seiner Fürsorge für die Arbeiter im Werk des Herrn bekannt war. Mit seinem Herzen nahm er sie auf und begleitete sie in ihrem Dienst, damit das Werk und sie selbst gefördert würden, soweit es in seinen Kräften stand. Daher heißt das Schlüsselwort im dritten Brief „Nimm auf!“, während das des zweiten Briefes „Nimm nicht auf!“ lautet. Dem natürlichen Menschen mag das willkürlich und ungereimt erscheinen. Doch wie heißt es von ihm? „Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit ...“ (1. Kor 2,14). Hier hingegen haben wir das völlig Entgegengesetzte, nämlich wirkliche und vollkommene Harmonie, und diese Harmonie wird durch Christus hergestellt. Es gab und gibt Seelen, die sich hier auf Erden mit der Wahrheit Christi einsmachen, und im dritten Brief heißt es: „Nimm sie auf!“ Es genügt, daß sie die Lehre des Christus bringen, vorausgesetzt, daß sie auf den Wegen des Herrn wandeln. Von „geistlichen Ämtern“ ist in dem Brief keine Rede. Die Versammlung hatte sich in jenen Tagen noch nicht angemaßt, in die Rechte ihres Hauptes einzugreifen. Die freie Wirksamkeit des Heiligen Geistes, an der die Apostel zu Beginn des christlichen Zeugnisses festhielten, wurde noch geachtet. Das Maß und der Charakter der Gaben mag zu damaliger Zeit, als man noch keine Gemeindeschranken ersonnen hatte, sehr unterschiedlich gewesen sein. Es gab vielleicht Prediger des Wortes, die zu kurzsichtig waren, um die Bedeutung Christi in jedem Teil der Bibel zu erkennen; andere mochten dazu die Bereitwilligkeit und Klarheit besitzen. Wiederum andere ließen sich eventuell durch Gefühle und Sentimentalität leiten, die ebensowenig christlich waren wie der Hang zur Dialektik und Gelehrsamkeit. Glaube und Liebe sind jedoch etwas ganz anderes; was dadurch in ihrem entsagungsvollen und mühsamen Dienst hervorgebracht wurde, das schätzte Gajus um des Herrn willen.

Der erste Brief geht durch den Heiligen Geist über das rein Persönliche hinaus. Er verbindet in Glauben und Liebe alle Heiligen miteinander im Hinblick auf die Person Christi und sieht sie in Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohne, dem Herrn Jesus. Kein anderer Brief umschließt völliger und weitreichender die ganze Familie Gottes und läßt jeglichen Gedanken an bestimmte Zeiten oder Örtlichkeiten außer Acht. Der zweite Brief ist jedoch an eine auserwählte Frau und ihre Kinder und der dritte an den geliebten Gajus gerichtet. Obwohl sie dadurch in bemerkenswertem Gegensatz zum ersten Brief stehen, sind sie nur besondere Anwendungen derselben Wahrheit und Liebe in Christo, die im ersten Brief bekanntgemacht werden. Im dritten Brief finden wir von Gott bewirkte Weitherzigkeit. Wie in allen drei Briefen ist auch hier „Liebe in Wahrheit“ das vorherrschende Merkmal. Gajus ist nicht gewillt, sich durch Schmeichelei oder Einschüchterung von dem abbringen zu lassen, was sich Christus gegenüber geziemt. Autorität – mochte sie berechtigt oder angemaßt sein – war mit Kritik an Wahrheit und Liebe in Tätigkeit. In seiner Engherzigkeit erhob sich jemand – es scheint fast, daß es in der Versammlung geschah, wo Gajus war – und trachtete nach Herrschaft, nicht in Übereinstimmung mit der Schrift, sondern nach seinen eigenen Gedanken. Viele haben es ihm gleich getan; in dieser Hinsicht mangelt es nicht an Nachfolgern. Die Apostel und Propheten taten ihr Werk und verschwanden und hinterließen ihr unumstößlich inspiriertes Zeugnis. Aber eigenwillige Menschen hat es zu allen Zeiten gegeben.

Daher werden uns unschätzbare Unterweisungen gegeben, damit wir wissen, wie unser Urteil und Verhalten solchen Menschen gegenüber sein soll. Eine der so notwendigen Belehrungen dieses Briefes ist die, daß wir uns nicht mit ihnen einlassen, sondern beharrlich auf dem Pfad Christi vorangehen. Der Herr versäumt nicht, auf Seine Weise des lieblosen Tuns und geschwätziger Worte zu gedenken. Er weiß die selbstsüchtige Leere offenbar zu machen und gebührend zu tadeln, durch welche die apostolische Autorität herabgesetzt und dem Zeugnis des Evangeliums entgegengewirkt wird und diejenigen, die einer solchen Handlungsweise widerstehen, unter falschen Vorwänden aus der Versammlung gestoßen werden. Es ist gut, wenn wir uns nicht allzusehr mit verwerflichen Dingen beschäftigen und uns auch nicht von dem wahren Pfad abbringen lassen, auf dem wir Christus unterworfen sind. Aber ebensowenig sollten wir die Prahlereien fürchten, die gewöhnlich bei solchen Menschen zu finden sind, die sich und ihre Anhänger erhöhen möchten, anstatt Christus zu folgen. Ihm anzuhangen ist das einzig wahre Mittel zur Befreiung vom eigenen Ich. Einen Diotrephes in überheblicher Art zu verachten und nicht einmal Mitleid mit seiner Seele zu haben, würde allerdings eine Gesinnung verraten, die nicht die Zustimmung Christi findet; wohl aber warnt Er ihn.

Der sowohl für die Versammlung als auch für den einzelnen Gläubigen geltende große Grundsatz heißt: Gehorsam, besonders in den Tagen der kleinen Kraft. Unterwürfigkeit unter das Wort kommt vom Herrn. Gibt es eine demütigere, aber auch entschiedenere Haltung? Sie verleiht Mut und Demut zugleich und hält uns in völliger Abhängigkeit von Dem, an den wir glauben, dessen Ohren aufmerksam sind und der zu Seinem Wort stehen wird. Grundsätze sind unerläßlich, aber sie genügen nicht. Grundsätze allein haben noch nie einen Gläubigen demütig oder liebevoll gemacht. Oft werden sie in einer trockenen, harten und gesetzlichen Weise gehandhabt. Aber ohne den lebendigen Christus können wir niemals auskommen. Er ist für alle zugänglich und tätig, die auf Ihn harren, wie wertvoll die Wahrheit auch sein mag; und Gott in Seiner Liebe berechtigt uns dazu, alle Hilfsquellen in Christus in Anspruch zu nehmen als solche, die in Seiner und des Vaters Hand sind.

„Der Älteste dem geliebten Gajus.“ Hier öffnet der Apostel sein Herz in einer Weise, wie er es der Frau gegenüber nicht tut. Die Ausdrucksweise der Schrift ist voll göttlicher Weisheit. Allzuhäufig haben salbungsvolle Ausdrücke zur Torheit, wenn nicht zur Sünde verleitet. „Eine auserwählte Frau“ – das erinnert uns an Gott, während Gajus gegenüber auf ganz schlichte Weise die herzlichsten Gefühle zum Ausdruck kommen konnten. Der Apostel wurde also zu dem rechten Wort, nämlich „auserwählt“ angeleitet. Wenn Gott die Frau erwählt hatte, dann tat Er es nicht, damit sie dem Teufel Zugeständnisse mache, sondern damit sie ihm widerstehe; dann mußte er von ihr fliehen. Diese Frau wurde auf eine für sie sehr schwierige Art und Weise geprüft. Eine Frau schreckt unwillkürlich davor zurück, etwas zu tun, was für eine Frau unpassend ist. Wie anstößig mußte es für sie sein, jemandem – einem vornehmen Mann vielleicht und womöglich einem alten Bekannten – den Zutritt zu ihrem Hause zu verwehren und sogar den üblichen Gruß zu verweigern. Das muß jedem, der unseren Herrn nicht liebt, tatsächlich hart erscheinen, doch es ist genau das, was uns der Geist Gottes einschärft. Wie könnte es auch anders sein, wenn Christus in so grundlegender Weise angegriffen wird und wir berufen sind, Seine guten Kriegsleute zu sein?

„Eine auserwählte Frau“ ist der Ehre Christi ebenso verpflichtet wie alle, für die Er starb und auferstand. Kein Gläubiger kann von dieser Pflicht entbunden werden. Jedenfalls ist das etwas, was dem Geist Gottes früher gut schien.

Die Frage ist: Was tut und lehrt der Betreffende jetzt? Vielleicht war er einst das Werkzeug zu ihrer oder ihrer Kinder Bekehrung, und es mußte sie als Frau Überwindung kosten, diesen Mann nicht zu beachten. Jedoch die Umstände hatten sich geändert; er war nun ein Feind Christi und kein wahrer Diener des Herrn mehr. Womöglich hatte der Mann im Geheimen gegen den Herrn gearbeitet. Wir müssen nämlich bedenken, daß solche Betrüger selber Betrogene sind; Satan hat sie dazu verleitet, sich für bessere Freunde Christi zu halten, als es wahre Gläubige sind, und sich einzubilden, daß ihre Lehre die reine Wahrheit sei, überaus anziehend und neuartig dazu.

Der dritte Brief stellt uns jedoch eine ganz andere Verpflichtung vor. Hätten wir nur den zweiten, dann stünden wir in Gefahr, streng, hartherzig und argwöhnisch zu werden. Aber der dritte Brief führt uns eindringlich vor Augen, wen wir mit ganzem Herzen aufnehmen sollen. Wenn gefährliche Männer umhergehen und Eingang suchen, dann dürfen wir nicht die treuen Männer vergessen, die ernsthaft bemüht sind, die Wahrheit von Christus zu verbreiten. Die auserwählte Frau hatte sich vor den bösen Menschen zu hüten, wie überzeugend sie auch auftraten; aber der Bruder wird aufgefordert, in der herzlichen Liebe zu den guten und treuen Männern beharrlich zu sein. Manchmal erlebt solch ein Bruder das eine oder andere Mal Enttäuschungen, und das verwirrt ihn dann. Er möchte nicht getäuscht werden, und da ein solcher Vorfall ihn verärgert, ist er entschlossen, so etwas nicht wieder vorkommen zu lassen.

Der Apostel schreibt jedenfalls dem Gajus, um ihn auf dem Weg der Liebe zu ermuntern. Ein guter Anfang genügt nicht; das große Ziel ist, in der Liebe zu wachsen und niemals im Gutestun zu ermüden. Demgemäß sagt der Apostel zu Gajus: „... den ich liebe in Wahrheit.“ In Wahrheit lieben ist ein Wesenszug, der beide Briefe übereinstimmend kennzeichnet, wenn auch Zweck und Anwendung verschieden sind; es ist die gemeinsame Grundlage beider Briefe. „Geliebter, ich wünsche, daß es dir in allem wohlgehe und du gesund seiest, gleichwie es deiner Seele wohlgeht.“ Welche einfachen, edlen und herzlichen Worte!

Der Schreiber hat keine Eile, die Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Das ist ein schöner Zug in der Heiligen Schrift, die uns im allgemeinen liebevolle Rücksichtnahme aufeinander zeigt, es sei denn, daß höchste Gefahr bestand, die – wie im Brief an die Galater – sofortiges Einschreiten erforderte. Hier war jedoch keine solche Gefahr vorhanden, und so wird dem Gajus das persönliche Interesse, das der Apostel an ihm hatte, zugesichert.

Er wünscht, daß es ihm in allen Dingen wohlgehe. Die Ausdrucksweise „Vor allem wünsche ich ...“ geht zu weit. Vielleicht haben sich manche den überspannten Gedanken zu eigen gemacht, es sei unerheblich, wie schlecht es um unsere Angelegenheiten oder um unsere Gesundheit auch stehen mag, die Hauptsache sei, daß es der Seele wohlgeht. Der inspirierte Apostel leistet solchem Fanatismus keinen Vorschub. Ein Bruder mag in dem, was er unternimmt, Gelingen haben oder auch nicht – der Apostel hatte wahres, brüderliches Mitgefühl. Selbstverständlich räumt er mit Sorgfalt dem Wohlergehen der Seele den ersten Platz ein. Wenn es um die Seele wirklich gut steht und dieser Zustand bewahrt wird, dann können wir grundsätzlich damit rechnen, daß der Herr uns sowohl in unseren Unternehmungen oder Geschäften als auch in bezug auf unsere leibliche Gesundheit Sein Interesse zuwendet. Wenn es der Seele wohlgeht, dann hat unser gnädiger Gott sowohl an uns selbst als auch an allen unseren Angelegenheiten Sein Wohlgefallen. Alle Haare unseres Hauptes sind gezählt. Wenn kein Sperling ohne Ihn zu Boden fällt, wenn Er der Raben und der Lilien des Feldes gedenkt – welch ein Vater ist Er, mit dem wir es tagtäglich und in allen Dingen zu tun haben!

Wir wissen, daß, wenn unser irdisches Haus zerstört wird, wir einen weit herrlicheren Bau von Gott haben, und wenn unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere Tag für Tag erneuert. Das ist von höchster Bedeutung und sollte immer unser erster Gedanke sein.

Hier war nun ein Bruder, der seine Gütigkeit in der Fürsorge für andere unter Beweis gestellt hatte, besonders denen gegenüber, die alles aufgegeben hatten, um dem Herrn Jesus zu dienen. Ihm, dessen Seele es wohlging, wünscht der Apostel Gedeihen in allen Dingen und Gesundheit, damit er guten Mutes, frei und unbehindert seinen Weg gehen konnte.

Manchmal nimmt Gott uns etwas, das uns zu sehr in Anspruch nimmt, indem Er es gleichsam absterben läßt, damit es der Seele wohlgeht. Wenn das nicht hilft, dann züchtigt Er mit leiblicher Krankheit. In Seiner Gnade nimmt der Herr den Götzen hinweg und zertrümmert ihn. Das mag zwar schmerzlich sein, aber unsere Herzen bejahen, was der Herr tut, um einen Fallstrick zu beseitigen und unsere Seele zurückzugewinnen, daß sie für Ihn zur Ehre und zur Freude ist. Manchmal wird ein eifriger Mann beiseite gesetzt, damit er lernt, daß Gott Sein Werk ohne ihn ausführen kann. Er war ganz darin aufgegangen, andere zu lehren und anderen zu predigen, und wegen mangelnder Wachsamkeit kam dabei die Gemeinschaft seiner eigenen Seele zu kurz. Der Herr greift dann in Seiner Güte und Liebe züchtigend ein, und eine kleine Krankheit wird für die Seele zum Segen. Da es der Seele des Gajus jedoch wohlging. wünschte der Apostel ihm in allen übrigen Dingen und auch bezüglich seines Leibes Gedeihen.

„Denn ich freute mich sehr, als Brüder kamen und Zeugnis gaben von deinem Festhalten an der Wahrheit, gleichwie du in (der) Wahrheit wandelst“ (V. 3). Wahrheit erfreute das Herz des Apostels. Gajus wandelte in Wahrheit, und das war das Anzeichen dafür, daß es seiner Seele wohlging. Zuneigung zu den Brüdern, Fürsorge für andere, Gelingen in seinen Angelegenheiten und leibliche Gesundheit – was bedeutete das alles im Vergleich dazu, daß er an der Wahrheit festhielt und in Wahrheit wandelte? Das war das Zeugnis, das ihm Brüder ausstellten, und der Apostel wurde dadurch mit überströmender Freude erfüllt. Gajus trachtete zuerst nach dem Reiche Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, und alles andere wurde ihm hinzugefügt. In seinem Herzen war keine Selbstsucht; für ihn gab es keinen Kompromiß im Blick auf Christus, und Wahrheit war für ihn keine zweitrangige Sache, sondern er verharrte darin, in Wahrheit und Treue zu wandeln. Dieses Verhalten wurde von anderen klar bezeugt. „... Brüder kamen und gaben Zeugnis von deinem Festhalten an der Wahrheit“. Es wäre fragwürdig gewesen, wenn Gajus selbst darüber gesprochen hätte; denn niemand, der unwandelbar in der Liebe zur Wahrheit ist, wird seine Treue oder seinen Dienst lauthals bekanntmachen. Je mehr jemand die Wahrheit liebt und schätzt, umso stärker verurteilt er sein eigenes Zukurzkommen in seinem Dienst und in seinem täglichen Leben.

„Ich habe keine größere Freude als dies, daß ich höre, daß meine Kinder in (der) Wahrheit wandeln“ (V. 4). Es handelt sich nicht mehr um die Kinder der Frau bzw. um die „Kinder der auserwählten Schwester“. Hier lesen wir von „meinen Kindern“, d. h. von denen, die geistlicherweise mit dem Apostel verwandt waren. Gajus war einer von ihnen, und deshalb war er dem Apostel teuer. Gajus hatte nicht nur gut begonnen, sondern er ging auch angesichts des Bösen gut voran. Trotzdem war es nötig, ihn zu ermuntern, und das kommt in einer zartfühlenden Weise zum Ausdruck. „Geliebter, treulich tust du, was irgend du an den Brüdern, und zwar an Fremden, getan haben magst (die von deiner Liebe Zeugnis gegeben haben vor der Versammlung), und du wirst wohltun, wenn du sie auf eine gotteswürdige Weise geleitest“ (V. 5.6). Wohltätig oder fürsorglich, edelmütig oder liebevoll – diese Ausdrücke hätten die meisten Christen für Gajus gewählt; doch Gajus ging es in erster Linie darum, im Glauben vor Gott zu stehen. Der Glaube bezieht stets Gott ein; dasselbe tut die Liebe, nur auf andere Weise. Während der Glaube stets das Wort der Wahrheit zur Geltung bringt, ist die Liebe die Triebkraft der göttlichen Natur, die sich in herzlicher Zuneigung kundtut.

Im letzten Teil von Vers 5 ist der Wortlaut in einigen Übersetzungen nicht nur unvollständig, sondern steht auch zu dem Sinn dieser Schriftstelle völlig im Widerspruch. Er erweckt nämlich den Eindruck, als handle es sich hier um zwei Personenkreise, und zwar um „Brüder“ und um „Fremde“ oder „Gäste“. Der richtige Text, der durch die besten Handschriften beglaubigt wird, lautet: „... und zwar dies Fremde“. Das Wesentliche ist also, daß die Liebe im Glauben solchen Brüdern entgegengebracht wurde, die nicht alte Freunde, sondern Fremde waren. Die Schrift hebt deutlich den Wert hervor, den Gott der Liebe Fremden gegenüber beimißt, obgleich hier hinzukam, daß diese das Band der Bruderschaft umschloß. Die Kinder Gottes stehen Gott näher als die Engel. Wir dürfen daher sagen, daß es uns ein stärkeres Anliegen sein sollte, unsere Brüder – und zwar Fremde – gastfrei aufzunehmen, als Engel zu beherbergen. Wie sehr hat doch der Aberglaube die Wahrheit verfälscht und das Fleisch die Bedeutung unserer Beziehungen zu Gott verdunkelt!

Viele Gläubige sind denjenigen Arbeitern im Werke des Herrn, die sie kennen und bewundern, in Liebe zugetan; aber fremden Brüdern gegenüber, von denen sie noch nie hörten, halten sie sich zurück. Gajus hatte Liebe für die fremden Brüder und damit die ausdrückliche Zustimmung des Apostels. Vor der Versammlung gaben sie Zeugnis von seiner Liebe. „Nächstenliebe“ oder „Mildtätigkeit“ hat eine andere Bedeutung, die der Schrift gänzlich fremd ist, und unterscheidet sich völlig von dem, womit wir es hier zu tun haben. Sie steht auf niederer Ebene als die göttliche Zuneigung, die wir hier betrachten. Der Geist Gottes benutzt das schöne Wort (Liebe) unserer Muttersprache, das in dem Munde eines Heiden eine sinnliche Bedeutung hatte, und gibt dem Wort Liebe eine gesegnete und heilige Bestimmung, verbindet es mit dem Christentum und heiligt es somit für immer.

Der Apostel möchte die Neigung, Liebe auszuüben, eher verstärken als abschwächen, wenn er schreibt: „... und wirst wohltun, wenn du sie auf eine gotteswürdige Weise geleitest. „ Die Liebe des Gajus sollte unter keinen Umständen aufhören, selbst wenn sie mißbraucht worden wäre. Diese Brüder gingen nun zu anderen Orten, und für Gajus hieß es: „... geleite sie auf eine gotteswürdige Weise.“ Indem der Apostel ihm dieses nahelegt, sagt er jedoch nichts weiter als „du wirst wohl tun“. Welche Einfachheit in Übereinstimmung mit der Weise Christi liegt in dieser behutsamen Ausdrucksweise des Heiligen Geistes, der jegliche Andeutung von Zwang oder Übertreibung vermeidet, obwohl die Sache dem Apostel so sehr am Herzen lag. Das erinnert an etwas Ähnliches in Hebräer 13, wo der Apostel über zwei Arten von Opfern spricht: „... lasst uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen“, und „des Wohltuns und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“. Das erste ist außerordentlich bedeutsam und wertvoll; das Wohltun und Mitteilen auf dieser Erde liegt zwar auf einer untergeordneten Ebene, kommt aber aus demselben Glauben und aus derselben Liebe hervor, „denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“. Die geistlichen Opfer sind für Gott ein duftender Wohlgeruch, und an denen im menschlichen Bereich hat Er Sein Wohlgefallen.

„Denn für den Namen sind sie ausgegangen und nehmen nichts von denen aus den Nationen“. Hier finden wir den besonderen Grund, warum der Apostel diesen Arbeitern so in Liebe zugetan war. Sie hielten sich gänzlich davon frei, aus den Hilfsquellen der Welt ihren Nutzen zu ziehen. Wenn sie auch bedürftig waren, so hielten sie doch die himmlische Würde des Evangeliums aufrecht und stellten unter Beweis, daß sie das Beste der Nationen und nicht ihren eigenen Vorteil suchten. Was würdigt das Evangelium mehr herab, als daß seine Diener oder die Versammlung Bettler gegenüber der Welt werden? Wird nicht dadurch öffentlich das Vertrauen darauf verleugnet, daß der Herr für Sein Werk Sorge trägt? Wie erquickend ist es dagegen, wenn jemand über die Sorge für sich selbst erhaben ist und alles vom Herrn erwartet. Was das Herz des Gajus mit jenen verband, war, „dass sie für den Namen ausgegangen waren“. Sie waren nicht durch Menschen ausgesandt worden. Die Versammlung hat für die Erwählung, Ordination oder Aussendung der Diener des Herrn keinerlei Vollmacht. Es ist unwürdig und anmaßend, wenn die Versammlung oder die Diener derart widerrechtlich die Stelle Christi einnehmen. Christus ist das Haupt und der Ursprung, und Er allein sendet Seine Gaben für den Dienst aus. Örtliche Ämter haben damit nichts zu tun; sie unterscheiden sich deutlich davon.

Die Versammlung sollte mit Freuden diejenigen anerkennen, die der Herr aussendet. In Antiochien war es so (Apg 14,27), als Paulus und Barnabas von einer Reise zurückkehrten, zu der sie der Geist Gottes ausgesandt hatte. Die Brüder „entließen“ sie (apelysan), vgl. Apg 13,3, aber „ausgesandt“ (ekpemphthentes) waren sie durch den Heiligen Geist (Apg 13,4). Der Herr Selbst „sandte“ die Zwölf und die Siebzig aus, als Er noch auf Erden war (Lk 9,2; 10,1); jetzt, da Er droben ist, gibt und sendet Er solche aus, die das ewige Leben haben und die Er für Sein Werk befähigt hat, welcher Art es auch sei. Er hat Seine Rechte weder aufgegeben noch auf die Versammlung oder einzelne in ihr übertragen. Dennoch lesen wir in Apostelgeschichte 13,4, dass ihre Mitarbeiter im Werk des Herrn Gemeinschaft mit den vom Heiligen Geist Ausgesandten hatten und diese Gemeinschaft durch das Auflegen der Hände zum Ausdruck brachten. Es hat den Anschein, daß sie dieses später bei Paulus, nicht aber bei Barnabas, wiederholten, als er das zweite Mal auszog (Apg 15,40). Diese Handlung hat ganz und gar nichts mit einer Ordination zu tun. Es war einfach ein feierliches Zeichen dafür, daß sie der Gnade Gottes befohlen wurden, wie es auch heute noch bei passenden Gelegenheiten getan wird, ohne daß man damit den geringsten Anspruch verbindet. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Versammlung in solchen Angelegenheiten Autorität besäße. Der Auftrag und die Gaben sind Sache des Herrn, und Er ist immer noch Derselbe – eine Tatsache, die die Christenheit vergessen hat. Dazu ist der Geist Gottes hier auf der Erde, um dieser Tatsache in uns Nachdruck zu verleihen, ebenso wie zu damaliger Zeit. Die offenbare Kraft, die wir immer wieder in der Apostelgeschichte finden, mag nicht mehr in dem Maße vorhanden sein; doch Gott weiß dieselben göttlichen Grundsätze auf eine Weise zu verwirklichen, die dem gegenwärtigen Zustand der Versammlung angepaßt ist – einem Zustand, der uns zur Demütigung nötigt. Es ist jedoch treulos, Gottes Wege zugunsten menschlicher Erfindungen zu verlassen, die keinerlei Berechtigung haben. „Wir nun sind schuldig, solche aufzunehmen.“ Welche Gnade und Weisheit! Nicht nur Gajus und andere Heilige werden aufgefordert, solche aufzunehmen und willkommen zu heißen, sondern der Apostel sagt: „Wir nun sind schuldig, solche aufzunehmen“. Darin liegt mehr als moralische Schönheit. Wir hätten vielleicht gemeint, es würde genügen, ihm einzuschärfen: „Nehmet ihr solche auf“. Aber er geht viel weiter und schließt mit dem „wir“ alle ein. Der Apostel dünkte sich nicht zu hoch, sondern er machte sich mit den übrigen eins. Auf diese Weise bestärkt und ermuntert er jene Brüder, in Demut in dem Werke voranzugehen, selbst wenn auch niemand sonst in der Versammlung eine Stellung einnahm, die der seinigen gleichkam. Dadurch wurde die Gnade Christi in eindrucksvoller Weise kundgetan, und auch der aufkommende Klerikalismus, der diese eifrigen Arbeiter verachtete, mißbilligt und schließlich allen bewiesen, wie völlig sie sich der Gunst und Liebe des Apostels erfreuen konnten.

Aber dem Apostel genügt das noch nicht, sondern er geht weiter und sagt: „... auf dass wir Mitarbeiter der Wahrheit werden“. Ich möchte euch allen, meine lieben Brüder, diese Worte wärmstens ans Herz legen! Welch eine Ehre! Die Wahrheit wird hier als Person gesehen, gehaßt vom Teufel und von der Welt, durch die Satan auf tausendfache Weise wirkt, um dem Herrn Jesus und allen, die im Zeugnis für Ihn eins sind, entgegenzuarbeiten. Diotrephes war in dieser Weise tätig, obgleich uns nicht mitgeteilt wird, daß er mit dem Antichrist oder mit Irrlehre in irgendeiner Hinsicht sympathisierte. Bei ihm handelt es sich um eine ganz andere Art des Bösen. Sein Zustand war erbärmlich schlecht; es ist besser, nicht mehr darüber zu sagen. Aber allen Gläubigen steht es offen und geziemt es, Mitarbeiter der Wahrheit zu sein. Wenn auch nicht alle das Wort verkündigen können, so dürfen und sollen wir aber alle wahrhaftig und praktisch mit denen mitempfinden, die dieses Werk ausüben. Haben wir die Gewohnheit, für sie zu beten? Achten wir darauf, ob wir ihnen auf irgendeine Weise dienen können? Wenn es so ist, dann sind wir „Mitarbeiter“, nicht nur von ihnen, sondern „der Wahrheit“. Keiner der Heiligen kann geltend machen, daß es echte Hindernisse gibt, um ein Mitarbeiter der Wahrheit zu sein. Die Liebe des Gajus war bemerkenswert; aber für jeden anderen, der ernsthaft vor Gott steht, gilt derselbe Ruf der Liebe. „Denn wenn die Geneigtheit vorliegt, so ist einer annehmlich nach dem er hat, und nicht nach dem er nicht hat“ (2. Kor 8,12). Alle können auf mancherlei Weise so, daß es für den Herrn wohlannehmlich ist, mithelfen, und so werden sie durch Seine Gnade zu Mitarbeitern der Wahrheit. „Ich schrieb etwas an die Versammlung“ (V. 9). Dieser Vers zeigt uns, daß es ein Irrtum ist, anzunehmen, die Apostel hätten niemals andere Briefe geschrieben als diejenigen, die wir besitzen. Gott sorgte dafür, daß die Briefe, die zum bleibenden Segen für den Gläubigen bestimmt sind, nicht verlorengingen. Da Er sie zum fortwährenden Nutzen inspirierte, wachte Er auch über sie. Wir brauchen aber nicht zu denken, daß die Apostel nichts weiter geschrieben hätten. Warum sollten sie das nicht getan haben? Aber ohne in diese Andeutung allzuviel hineinlegen zu wollen, kann doch die Tatsache nicht bezweifelt werden, daß inspirierte Männer Mitteilungen schrieben, die nicht inspiriert waren und deshalb auch nicht in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen werden sollten. Wir finden eine ähnliche Tatsache im Alten Testament, wenn wir z. B. an Bücher von Salomo und anderen denken. Wenn Gott auch nicht alles, was je geschrieben wurde, erhalten hat, so stellte Er doch dasjenige sicher, was für den ständigen Gebrauch inspiriert worden war, und gab Seinen Propheten die dazu nötige Urteilsfähigkeit. Als diese Inspiration für das Alte und Neue Testament aufhörte, da gab es auch keine Propheten mehr.

Diese göttliche Auswahl ist bewundernswert; sie verursacht keineswegs Schwierigkeiten. Wären alle Bücher geschrieben worden, die man hätte schreiben können, dann würde die Welt die Bücher nicht fassen, wie unser Apostel sagt. Allein die Worte und Werke unseres Herrn würden das Fassungsvermögen der Welt übersteigen, wären sie niedergeschrieben worden, wie sie es verdienten. Wie kostbar ist diese überaus weise Auswahl – ein kennzeichnendes Merkmal der Inspiration. Gott allein vermochte zu beurteilen, was von größtem Nutzen ist. Wie wenig kennen selbst diejenigen die Bibel wirklich in ihrem ganzen Ausmaß, denen sie lieber als das Leben ist. Wenn doch jedes Gotteskind die Bibel gründlicher kennen würde! Würdest du an jedem Tage deines Lebens viel in der Bibel lesen –, nicht bloß mit frommen Empfindungen oder zum Zwecke des Studiums –, dann könnte dir jeder wahre Christ dennoch zeigen, wie weit du davon entfernt bist, ihre Tiefen ergründet zu haben. Sie übertrifft immer selbst den größten Lehrer. Wie würden nun erst die Schwierigkeiten zunehmen, wenn es soviel Bücher gäbe, wie es Verse oder Kapitel in der Bibel gibt! Laßt uns die Weisheit Gottes bewundern, die durch Inspiration dasjenige auswählte und uns mitteilte, was für den fortwährenden Gebrauch bestimmt ist, und das in einem Buch von relativ begrenztem Umfang, wie es die Bibel ist, die Er uns gegeben hat. Es ist kein schlechtes Sprichwort, daß man ebenso zuviel des Guten haben kann wie auch zu wenig. In der Bibel haben wir keines von beiden, sondern genau das, was der allein weise Gott als das Beste zu Seiner Verherrlichung und zu unserem Segen ansah. Es war Ihm von höchster Wichtigkeit, daß Sein Wort so kurzgefaßt sein sollte, wie es sich mit der Fülle der geoffenbarten Wahrheit vertrug. „Ich schrieb etwas an die Versammlung, aber Diotrephes, der gern unter ihnen der erste sein will, nimmt uns nicht an“ (V. 9). So ist es auch nicht schwierig zu verstehen, warum wir den von Johannes geschriebenen Brief nicht haben. Es hat den Anschein, als ob Diotrephes seine böse Gesinnung darin zeigte, daß er der Versammlung diesen Brief vorenthielt und auf diese Weise den Apostel nicht annahm.

„Deshalb, wenn ich komme, will ich seiner Werke gedenken, die er tut, indem er mit bösen Worten wider uns schwatzt; und sich hiermit nicht begnügend, nimmt er selbst die Brüder nicht an und wehrt auch denen, die es wollen, und stößt sie aus der Versammlung“ (V. 10). Welcher Art seine Lehre auch gewesen sein mag – seine Werke waren böse. „Deshalb, wenn ich komme, will ich seiner Werke gedenken“. Dieselbe Gesinnung, die Diotrephes zum Ausdruck brachte, als er das von dem Apostel Geschriebene verwarf – wenn damit gemeint ist, dass er den Apostel nicht annahm –, zeigte sich in seiner Verachtung für die Brüder, die ausgegangen waren, um das Wort zu verkündigen. Wahrscheinlich waren seine Gedanken: „Was haben die hier zu suchen? Hier bin ich! Es ist meine Sache, mich um die Wahrheit zu kümmern! Ich habe nie daran gedacht, sie um ihre Hilfe zu bitten, ausgerechnet sie als Fremde, die einfach kommen, ohne gerufen oder überhaupt ausgesandt zu sein. Sie sind Eindringlinge!“ Diese Denkweise ist gar nicht so ungewöhnlich, und wenn auch manche es nicht zum Ausdruck bringen, so wird es doch oft genug empfunden. Der Geist und das Benehmen dieses Mannes waren so von der eigenen Wertschätzung erfüllt, daß er dem Apostel gegenüber einen völligen Mangel an Respekt an den Tag legte. Wen wundert da noch seine Abneigung gegenüber den niedriggesinnten Brüdern, die überall voller Hingabe das Evangelium verkündigen? Zweifellos dachte er, sie wären besser dabei geblieben, „ihren Lebensunterhalt durch ehrliche Arbeit zu verdienen“, anstatt dorthin zu gehen, wo zumindest er sie nicht gerne sah.

Der Apostel fährt mit den ernsten Worten fort: „Geliebter, ahme nicht das Böse nach, sondern das Gute“. Es war offensichtlich, daß Diotrephes Böses tat. Gajus mußte sich davor hüten, das Böse nachzuahmen, denn Böses ist ansteckend. Er sollte am Guten festhalten. „Wer Gutes tut, ist aus Gott; wer Böses tut, hat Gott nicht gesehen“ (V. 11). Es ging zu weit, wollte man behaupten, daß Diotrephes diesem schrecklichen Zustand gänzlich verfallen war; aber er gab ernsthaften Anlaß zu diesbezüglichen Befürchtungen. Die Ausdrucksweise ist allgemein gehalten, aber sie mahnt zur Vorsicht. Der Apostel stellt einfach den bestimmten Grundsatz auf, dass Böses tun nicht aus Gott ist. Wer aus Gewohnheit Böses tut, hat Gott nicht gesehen. Wie tröstlich ist dagegen die andere Seite! Von dem, der Gutes tut, heißt es, er ist aus Gott. Das Anschauen Gottes hinterlässt in der Seele einen beständigen Eindruck. Man kann nicht Gott gesehen haben und ein Übeltäter sein. Bei Diotrephes war bis zu einem gewissen Grade und in ernstem Maße Böses vorhanden. Ob es ihn kennzeichnete, mag dahingestellt bleiben.

„Dem Demetrius wird Zeugnis gegeben von allen und von der Wahrheit selbst; und auch wir geben Zeugnis, und du weißt, daß unser Zeugnis wahr ist“ (V. 12). Hier wird uns ein vortrefflicher Charakter vorgestellt, über den wir bisher nichts hörten. Die Wahrheit selbst gab dem Demetrius Zeugnis wie auch alle übrigen; „und auch wir geben Zeugnis“ – ein Zeugnis, von dem Gajus mit voller Überzeugung wußte, daß es der Wahrheit entsprach. „Auch wir geben Zeugnis.“ Gajus konnte mit Demetrius in völliger Gemeinschaft sein. Einer der Gründe dafür, daß der Geist Gottes den Demetrius auf diese Weise erwähnt, scheint der zu sein, damit wir auch in diesen bösen Tagen nach solchen ausschauen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen. Wenn uns nun hier von einem Diotrephus berichtet wird, dann gab es immerhin zwei, die Lob verdienten, nämlich Gajus und Demetrius, abgesehen von den treuen – obwohl fremden – Brüdern, über die Diotrephes nichts Gutes zu sagen hatte. Der Apostel wollte nicht, daß wir durch die Gesinnung des Bösen oder durch solche, die Böses reden, allzusehr niedergedrückt werden, sondern es lag ihm daran, unsere Herzen in der Wahrheit und Liebe zu ermuntern. „Ich hätte dir vieles zu schreiben, aber ich will dir nicht mit Tinte und Feder schreiben, sondern ich hoffe, dich bald zu sehen, und wir wollen mündlich miteinander reden. Friede dir! Es grüßen dich die Freunde. Grüße die Freunde mit Namen“ (V. 13–15). Wir sollten nicht vom Bösen niedergedrückt und eingehüllt werden. Es ist stets die Gefahr vorhanden, dass man resigniert und meint, es sei alles verloren. Niemals könnte ich mit einem derart ungläubigen Gedanken sympathisieren. Das Überhandnehmen des Bösen in seiner schlimmsten Form und das Versagen vieler, die treu zu sein schienen, gibt uns umso mehr Veranlassung, uns selbst zu mißtrauen und dennoch mit Herzensentschluß bei dem Herrn zu verharren. Vergessen wir niemals, dass der Heilige Geist, ständig in und bei uns bleibt, um uns zu dem Namen des Herrn Jesus hin zu versammeln, und das noch mehr, als Sünder zur Bekehrung zu bringen; aber beides tut der Heilige Geist.

Wie einfach und wahr sind die Schlußworte des dritten Briefes. Große Künstler pflegten sowohl den Herrn als auch die Apostel und die Heiligen mit einem Heiligenschein darzustellen. Die Heilige Schrift redet von allen in schlichter Weise, ohne zu prunken: von dem Herrn als dem sanftmütigsten und demütigsten aller Menschen; von den Aposteln als solchen, die im Unterschied zu anderen Brüdern eine größere Selbstverleugnung bewiesen und auch ein viel lebendigeres Empfinden von dem Vorrecht der Gnade Gottes hatten, nämlich in Ihm zu bleiben. Es kann uns nicht schwerfallen, hier den durch himmlische Gesinnung geprägten Adel wahrzunehmen, der darin bestand, nur „ein Sklave Jesu Christi“ zu sein, wie der größte unter ihnen mit Vorliebe von sich selbst sagte. Der Heilige Geist gab die Energie, um Zeichen, Wunder und Kräfte zu wirken und dabei doch so zu handeln, als ob man selbst nichts wäre. Der inspirierte Schreiber hatte vieles mit Tinte und Feder zu schreiben; aber er hoffte, seinen geliebten Gajus zu sehen, wenn sie mündlich miteinander reden würden. Er bevorzugte die lebendige Gemeinschaft und wünschte ihm bis dahin Frieden. Hier sind es die Freunde, die einander grüßen, nicht in unbestimmter Weise, sondern „mit Namen“; der zweite Brief endet dagegen mit familiären Grüßen: „Es grüßen dich die Kinder deiner auserwählten Schwester.“

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