Vorträge über das Hohelied

Kapitel 8

Das 8. Kapitel bildet eine Art Abschluss des Buches, wie das 1. Kapitel so etwas wie eine Einleitung darstellt. Aber es enthält doch einige bedeutende Worte, und ich will, bevor ich schließe, kurz etwas darüber sagen.

„O wärest du mir gleich einem Bruder, der die Brüste meiner Mutter gesogen! Fände ich dich draußen, ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten“. Die Braut bringt ihre Liebe zum Ausdruck, wie sie es von Anfang an getan hat. Und hier haben wir einen erneuten Beweis, dass die Hochzeit noch nicht stattgefunden hat; denn dann hätte sie sich ja nicht zu schämen. Aber wir sehen, hier ist es anders. Da die Hochzeit noch nicht stattgefunden hat, und sie, wenn ich so sagen darf, von einer festen Beziehung her kein Recht hat, ist dies ihr Empfinden. Wir streifen hier also sozusagen noch einmal das, was wir vorher gehabt haben ‑gleichsam als Abschluss des Ganzen. „Ich würde dich führen, dich hineinbringen in meiner Mutter Haus, du würdest mich belehren“ (Vers 2). Ich brauche nicht zu wiederholen, was ich bereits gesagt habe. „Und ich würde dich tränken mit Würzwein, mit dem Moste meiner Granaten. ‑ Seine Linke sei unter meinem Haupte, und seine Rechte umfasse mich“. Und dann kommt zum letzten Male ihre Ermahnung: „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt! Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her“? Aber ist Er nun nur „wie Rauchsäulen, durchduftet von Myrrhe und Weihrauch, von allerlei Gewürzpulver des Krämers“ (Kap 3, 6)? Nein, da ist es ein anderer Gegenstand. Nun heißt es‑ „Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste, sich lehnend auf ihren Geliebten“? Wie wir sehen, ist es hier nicht der Bräutigam, sondern sie hat eine Vision von sich selbst ‑ von sich selbst als vereinigt mit dem Bräutigam. Vorher war es eher Sein Kommen zu ihr oder für sie, aber jetzt. „Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich lehnend auf ihren Geliebten“? Im Geiste sieht sie gleichsam die Braut und den Bräutigam.

„Unter dem Apfelbaum“ ‑ dies ist Seine Antwort ‑ „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt. Dort hat mit dir Wehen gehabt deine Mutter, dort hat Wehen gehabt, die dich geboren“ (Vers 5). Schon im 2. Kapitel sahen wir den Apfel oder Zitronenbaum. Hier haben wir ihn wieder, und das scheint zu bedeuten, dass es nicht um Israel, um die Braut und ihre früheren Verbindungen geht, um die Braut, wie sie aus Ägypten geführt wird. Historisch war das zwar so. Israel wurde als ein Weinstock aus Ägypten gebracht. Aber ist es das, was wir hier haben? 0 nein. Es ist aber auch nicht der Berg Sinai. Nicht dort wurde sie geboren. Davon ist hier keine Rede. Es geht nicht mehr um die Befreiung aus Ägypten; sie befinden sich nicht mehr unter dem Bund des Gesetzes. Sie stehen unter Christus, dem Messias des Neuen Bundes. Da wird sie gefunden, und nur dort: unter dem Apfelbaum. Das ist die große Quelle aller Frucht, aller wahren Frucht für Gott ‑ der einzige Ursprung allen Fruchttragens. Und so erwidert Er: „Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegelring an deinen Arm“.

Dann kommt ein weiteres Wort, das nicht leicht zu verstehen sein mag, und zu dem ich etwas sagen möchte. „Wir haben eine Schwester, eine kleine“ (Vers 8). Wer ist denn nun diese kleine Schwester, die noch nicht so erwachsen war wie die Braut? Das sind die zehn Stämme, nicht die zwei. Es ist nicht Jerusalem, sondern Ephraim. Es ist das Haus Joseph. Und warum ist es das Haus Joseph? Ich weise ganz besonders darauf hin, um euch vor jenen widerlichen Veröffentlichungen zu warnen, die gegenwärtig im Umlauf sind, wo von den verloren gegangenen zehn Stämmen die Rede ist, und zwar so, als hätten wir Christen irgendetwas damit zu tun. Ich hoffe doch, dass kein einziges Herz sich auf solchen Unsinn einlässt ‑ auf solch trügerischen Unsinn, Ich kann wohl sagen, Freunde, dass ich nie eine in ihrer Art erniedrigendere, verderblichere Sache sah als das Pamphlet, das mir gerade gestern Abend ‑ ich denke zu meiner Erbauung ‑ zugestellt wurde. Ich habe nur ein wenig darin geblättert: der Mensch von heute wird darin verherrlicht; man will Gläubige von ihrem Platz in den himmlischen Örtern herabziehen, von ihrem himmlischen Platz in Christo, und sie dazu bringen, sich dessen zu rühmen, eine große Stadt wie London und ein wirtschaftlich lebendiges Land wie England ihr eigen zu nennen; und darin meint man die Herrlichkeit der zehn Stämme zu erkennen. Ich kann mir für Christen kaum etwas Erniedrigenderes denken; und ihr werdet mich deshalb entschuldigen, wenn ich so hart und entschieden darüber spreche; nicht jeder vermag ja eine Sache ihrem wahren Charakter nach zu beurteilen. Aber wenn der Herr mir überhaupt Licht in geistlichen Dingen gibt, bin ich verpflichtet zu sagen, dass dies mein Urteil über das ist, was ich von diesem unsinnigen, absurden und haltlosen Versuch, in der angelsächsischen Rasse die zehn Stämme Israels aufzuspüren, gehört und gelesen habe.

Hier haben wir also Ephraim nach Gottes Gedanken und nicht nach den Begriffen der Menschen. In dieser Weise spricht der Herr von ihr: als von einer kleinen Schwester. Warum? Weil sie unentwickelt war. O, die wunderbare Gnade Gottes! Warum waren die Juden, d. h. die zwei Stämme, entwickelt, und nicht Ephraim oder die zehn? Ach, die Juden hatten mit dem Messias zu tun gehabt. Es ist ja stets der Messias, durch den Gutes oder Böses zur Reife und zum Vorschein kommt. Wie schrecklich, wenn man dem Messias im Unglauben naht! Und so war es ja bei den Juden. Aber an dem Tag, der kommt, wird es nicht so sein.

Sie werden daher die doppelte Erfahrung durchgemacht haben ‑ die bittere Erfahrung des Unglaubens mit all seinen Schrecken und der Zerstörung, die er auf sie brachte, und die gesegnete Erfahrung jener, deren Herz zu Ihm gezogen worden ist, bevor Er kommt. Denn das wird der Herr ihnen schenken; und gerade das Hohelied handelt davon, wie ihr Herz Ihm zugewandt wird, bevor Er in Herrlichkeit erscheint, wie sie bereit gemacht werden, Ihn zu empfangen; denn es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, der Jude werde sich bekehren, wenn der Herr in Herrlichkeit erscheint ‑ das ist völlig falsch. Wenn der Herr in Herrlichkeit erscheint, wird der Jude in das Reich eingeführt werden, er wird gesegnet und angenommen, wenn der Herr so erscheint, aber die Umkehr und die Zubereitung der Zuneigungen und der Gewissen im Überrest, dem Jerusalem, von dem wir hier sprechen, d. h. der Braut ‑ das alles wird Seinem Kommen vorausgegangen sein. Aber mit Ephraim wird es anders sein. Aus diesem Grunde auch wird von ihr als dieser kleinen Schwester gesprochen, die noch nicht im heiratsfähigen Alter war. Sie hatte keine dieser Erfahrungen durchgemacht. So blieb sie eben „eine kleine“, Zum Guten (Ehe) und zum Bösen (Ehebruch) war sie gleichsam noch zu jung. Es fehlte ihr an Verständnis, an Erfahrung irgendwelcher Art. Auf sie wird hier hingewiesen, aber dann wird der Herr Israel aus seinem Versteck hervorholen und wird es, wie es heißt, in die Wüste locken; dort wird ER sich mit Ephraim beschäftigen. Dies bildet ja einen Bestandteil der prophetischen Schriften, und das ist es, was hier angedeutet wird. Und wir verstehen: das Buch würde nicht vollkommen sein, ohne dass dies gezeigt würde.

Noch eines. Wenn wir das Hohelied auf die Versammlung (Kirche) beziehen ‑ wer ist denn dann die kleine Schwester? Ihr seht, diese Theorie hält nicht einen Augenblick stand. Wenn wir aber Jerusalem als Braut haben, ist Ephraim tatsächlich die kleine Schwester. Wenn es um Ephraims Beziehungen zu den Heiden geht, ist Ephraim sozusagen der Krieger; aber in Verbindung mit Christus wird Jerusalem als die erwachsene Schwester gesehen, als die Braut, „meine Schwester, meine Braut“. Ephraim ist die kleine Schwester ‑ natürlich in Beziehung zu der Liebe des Herrn. Und das wird hier kurz angedeutet.

Aber schließlich wird uns erzählt: „Salomo hatte einen Weinberg zu Baal‑Hamon“ ‑ und das ist ein bemerkenswerter Ausdruck. Das Wort „Baal‑Hamon“ bedeutet „Herr der Völker“. Ich halte das gerade an dieser Stelle für einen sehr wichtigen Ausdruck. Die Kinder Israel ‑ die Juden ‑ hatten, ich will nicht sagen, „Herr der Völker“, aber gewiß doch ein Segen für jede Nation unter dem Himmel sein sollen. Waren sie das gewesen? „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde“. „In deinem Samen werden sich segnen alle Nationen der Erde“. War das bei Israel, bei den Juden der Fall gewesen? Genau das Gegenteil. Sie gingen selbst der Segnung verlustig, weil sie Christus verwarfen; und bis auf diesen Tag sind sie überall, wohin sie auch kamen, dafür bekannt, dass sie den Unglauben Christus gegenüber propagieren. Es gibt keine entschiedeneren Feinde des Evangeliums; denn sie tragen noch denselben Charakter wie in den Tagen der frühen Christenheit und verrichten auch noch das gleiche Werk, weil bis zu diesem Augenblick unter ihnen der gleiche Unglaube vorherrscht. Aber wenn Er kommt ‑ wenn Salomo, der wahre Salomo, kommt ‑ wird Er einen Weinberg haben, und Sein Weinberg wird sehr fruchtbar sein. Und hier sehen wir, womit er in Verbindung stehen wird; der Weinberg ist in Baal‑Hamon. Der Segen Christi wird sich auf alle Nationen, Stämme, Völker und Sprachen erstrecken.

Die Segnung mag auf sich warten lassen, wie die Vision es getan hat. Aber so sicher wie die Vision kommen und nicht verziehen wird, so wird die Segnung, Strömen gleich, jeder Nation, jedem Stamm und jeder Sprache zufließen ‑ aber nicht, bevor jener Tag gekommen ist. Zu Baal‑Hamon wird es geschehen, in Verbindung mit Salomo ‑ darum geht es. Der Herr Jesus und nicht die Versammlung (Kirche) soll der wirkliche Vermittler des Segens für alle Nationen sein. Gewiß ‑ das wird geschehen, wenn die Kirche bei Ihm ist, wenn der Jude zu Ihm bekehrt ist, Ihn liebt, Ihn kennt. Aber derjenige, der die ganze Veränderung bewirkt, ist nicht der Jude und ist nicht die Kirche. Es ist Christus, und zwar der Christus, der dann gekommen sein wird ‑ Christus als König. Das ist es, wovon hier gesprochen worden ist und warum von Ihm als Salomo gesprochen wird. „Salomo hatte einen Weinberg zu Baal‑Hamon; er übergab den Weinberg den Hütern: ein jeder sollte für seine Frucht tausend Silbersekel bringen“; denn an jenem Tage wird es gesegnete Frucht geben. Alles wird gedeihen.

Um ein Bild zu gebrauchen: An jenem Tage wird es so sein, wie wenn man ein Netz in die See wirft und alle Arten von Fischen (nicht nur kleine, sondern auch große) darin gefunden werden, ohne dass das Netz zerreißt. jetzt ist das Netz zerrissen. Es mag ohne Zweifel einen reichlichen Fang geben, aber es geht doch fehl. Das Netz ist entzwei, und das Schiff würde gänzlich sinken, wenn es nicht für Ihn wäre. Aber in der Stelle, die wir hier betrachten, geht nichts fehl. So wird es sein. „Mein eigener Weinberg ist vor mir; die tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den Hütern seiner Frucht“. Sie möchte ihren Weinberg nicht getrennt von Ihm haben. Sie ist mit Ihm einsgemacht. Der Jude wird weder Genuß noch Freude haben außer in Verbindung mit Christus.

Was für ein Wechsel! Wie wunderbar, daran zu denken, dass jene jahrtausendealte Liebe, jene enttäuschte Liebe des Erlösers dann ihr Echo gefunden und eine Liebe erweckt haben wird, die Seiner eigenen entströmt und ihr entsprechen wird in ihrem Ausmaß im Herzen derjenigen, die so lange Zeit geliebt wurde und so lange ungläubig war! Aber der Unglaube wird vergehen, das Versagen wird weichen, und das Gute wird bleiben. Das Gute ist dazu bestimmt zu triumphieren. Schon jetzt wissen wir, dass Gott das Böse mit dem Guten Überwindet; aber an jenem strahlenden Tage wird es nicht einmal mehr Böses zu überwinden geben. Das Gute wird in seinem vollen Glanze freie Bahn haben, und das auf ewig. So schließt dieses wunderbare Buch mit dem Ruf der Braut: „Eile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen“! Sie wünscht, ja sie sehnt sich von Herzen danach, dass Er kommt.

« Vorheriges Kapitel