Vorträge über das Hohelied

Einleitung

Wir wollen ein Buch der Heiligen Schrift betrachten, das vermutlich viele von uns schon stark beschäftigt hat. Mag das moderne Denken sich auch erdreisten, gering von solch einem Buch zu sprechen, so ist es doch bemerkenswert, dass in den hebräischen Schriften nichts sonst eine so ausgeprägte Glaubwürdigkeit besitzt. Ihm fehlt nicht ein einziges grundlegendes Kennzeichen göttlicher Autorität – außer dem einen vielleicht, was man dagegen sagen könnte, dass es als eines der ganz wenigen Bücher der Bibel im Neuen Testament nicht zitiert wird. Aber deswegen brauchen wir nicht beunruhigt zu sein, und zwar aus dem einfachen Grunde: obwohl es nicht ausdrücklich angeführt wird, ist der Geist Gottes doch beständig mit seinen Grundgedanken beschäftigt. Das erste Buch des Neuen Testaments spielt sehr deutlich auf den großen Gedanken des Hohenliedes an: die bräutliche Beziehung als das Zeichen oder Symbol der besonderen Liebe Christi zu Seinem Volke. Denn obwohl wir im Neuen Testament unzweifelhaft die Stellung von Kindern und die Liebe des Vaters finden, und obwohl wir da auch die Gestalt des Hirten und seine Sorge für die Schafe haben, wird dort doch auch gerade diese Beziehung zwischen Braut und Bräutigam aufgegriffen und durch den Heiligen Geist benutzt, um die Nähe und Innigkeit der Liebe des Herrn zu uns zu verdeutlichen. Und dies, denke ich, hat zu manchen Missverständnissen über dieses Buch geführt.

In jener Hast, die zu aller Zeit Mangel sowohl an Glauben als auch an geistlichem Verständnis kennzeichnet, hat man es als selbstverständlich angesehen, dass die Braut des Hohenliedes und die, von der der Apostel Paulus spricht, dieselbe ist – die Braut, die Johannes in der Offenbarung nennt. Aber es besteht keine Veranlassung, das zu folgern; ich will das zunächst erläutern, bevor ich auf das Buch selbst eingehe.

Wenn wir uns dem Evangelium nach Matthäus zuwenden, so finden wir im Neuen Testament die bräutliche Beziehung zum ersten Mal im 9. Kapitel vorgestellt; der Herr nimmt dort Seine Jünger gegen Fragen in Schutz, die durch Vorurteile der Pharisäer ausgelöst waren. Jesus sagt zu den Jüngern des Johannes, die sich mit dem Empfinden der Pharisäer einsmachten: „Können die Gefährten des Bräutigams trauern, so lange der Bräutigam bei ihnen ist?“ Nun, da haben wir eine deutliche Anspielung. Aber wo hören wir etwas vom Bräutigam? Er spielt auf etwas allgemein Bekanntes an; Er erklärt es nicht. Woher nahm Er den Ausdruck „Bräutigam“? Unzweifelhaft vom Hohenlied – dem Lied der Lieder. Wir haben hier also zwar kein Zitat, wohl aber etwas, was meiner Ansicht nach sogar mehr ist als ein Zitat. Wir haben es als deutlich anerkannte Tatsache, als eine große Wahrheit, die den Juden durchaus geläufig war, und beachten wir es wohl, geliebte Freunde, mit dem Stempel des Sohnes Gottes darauf. Denn es ist nicht ein Name, den die Jünger des Johannes bei ihrem Gespräch mit Jesus benutzen, sondern der Herr Jesus Selbst wendet ihn ihnen gegenüber an. „Können die Gefährten des Bräutigams trauern“, sagt Er, „so lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da der Bräutigam von ihnen genommen sein wird, und dann werden sie fasten.“

Ich denke, ihr spürt etwas von der einzigartigen Schönheit – von der göttlichen Vollkommenheit gar nicht zu reden –, die in diesen Worten liegt. Der Herr spricht nicht von der Braut. Er erwähnt nur die „Gefährten des Bräutigams“. Er wusste ja sehr wohl, dass Er im Begriff stand, eine andere einzuführen, die den Platz als Seine Braut einnehmen sollte. Aber hier ist davon keine Rede; denn zu dieser Zeit war unser Herr nur zu Israel gesandt, und es ging darum, ob das alte Volk Gottes Ihn annehmen würde. Hätten sie Ihn angenommen, würde Er der Bräutigam gewesen sein und sie die Braut.

Und es ist ganz klar, wie ich schon sagte, dass der Herr dies nicht auseinandersetzt wie etwas, was Er ihnen zum ersten Mal mitteilt, sondern wie etwas, womit sie vollkommen vertraut sein mussten, und das natürlich vom Wort Gottes her. Woher war es entnommen? Von dem Buch, aus dem ich heute Abend ein paar Verse gelesen habe.

Wenn wir nun zu einem späteren Teil dieses selben Evangeliums nach Matthäus übergehen – dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen, das jeder Christ ja so gut kennt – was finden wir da? Das Königreich der Himmel wird zehn Jungfrauen verglichen. Es ist nicht die Braut, sondern es sind Jungfrauen, die mit ihren Lampen ausgingen, dem Bräutigam entgegen. Nun, da kann es keine Frage geben, dass der Bräutigam der Herr Jesus ist. Und ganz offensichtlich ist in diesem Gleichnis von den zehn Jungfrauen nicht die Braut der springende Punkt. Jungfrauen sind es, die ausgehen, dem Bräutigam entgegen. Aber wo finden wir dann die Braut? Tiefes Schweigen. In der ersten Anspielung des Herrn auf den Bräutigam ist kein Hinweis auf die Braut. Er spricht von den „Söhnen des Brautgemachs“, aber kein Wort fällt über die Braut. Bemerkenswerte Stille! Das Natürlichste wäre doch gewesen, auch von der Braut zu sprechen; und das ist so natürlich, dass in einigen alten Manuskripten – in einem der allerältesten – von diesem Gleichnis der Schreiber auch in diesen Fehler verfallen ist. Er stellt das Königreich der Himmel vor, das zehn Jungfrauen gleich sei, die ihre Lampen nahmen und hinausgingen, dem Bräutigam und der Braut entgegen. Man hatte die Worte „und der Braut“ hinzugefügt, und ich brauche wohl nicht zu sagen, dass dazu nicht die geringste Befugnis bestand.

Nein, was ich zeigen möchte, ist die auffallende Weisheit des Herrn, kein Wort über die Braut zu sagen. Da ist der Bräutigam, dessen Ankunft bevorsteht. Und das ist das Entscheidende: Er ist im Begriff zu kommen. Es ist nicht eine Szene im Himmel; darum geht es hier nicht. Wir finden hier vielmehr, dass der Bräutigam kommen soll und dass diese Jungfrauen Ihm entgegengehen. Sie sind nicht die Braut Christi, die Er bald zu Sich nehmen wird; die zehn Jungfrauen konnten nicht ein Bild der Braut sein.

So ist es also klar, dass die Braut unerwähnt bleibt; sie tritt nicht in Erscheinung. Der Grund dafür ist nach meiner Meinung sehr ernst. Der Herr wusste sehr wohl, dass die Braut, mit der ihre Herzen von der Bildersprache des Alten Testaments her wohlvertraut waren, jetzt noch nicht Braut sein würde, dass die Braut treulos sein und den Bräutigam zu diesem Zeitpunkt abweisen würde. Die Braut erscheint daher in keiner Seiner Anspielungen. Es war ja nicht so, dass Er noch etwas zu lernen gehabt hätte. Er war nicht einer, der die Wahrheit nicht kannte; Er war eine göttliche Person. Er wusste, wie alles werden würde. Er konnte warten; aber selbst wenn Er wartete, und wenn es nur allzu klar war, dass die Juden Ihn völlig verwarfen und Er nun im Begriff stand, Sein Leben zu opfern – nicht als Bräutigam für die Braut zu kommen, sondern Sein Leben für Sünder zum Opfer zu geben –, selbst dann sagt Er in diesem treffenden Gleichnis, einem Seiner letzten, kein Wort über die Braut. Von Anfang bis Ende erscheint die Braut nicht.

Und das ist für mich äußerst lehrreich, denn eines der Ziele des Evangeliums nach Matthäus ist, darzulegen, dass der Herr, ebenso wie Er der wahre und göttliche Messias, Emmanuel, war, als der wahre Emmanuel – der Messias – durch Israel verworfen werden würde. Von jetzt an liegt daher ein Schleier über Israel. Wie ungewöhnlich! Er erwähnt die Braut nicht einmal. Sie würde Ihn ja zurückweisen. Er sagt kein einziges Wort über sie. Er wendet sich dem zu, was Seinem eigenen Herzen nahe war, nicht der Schuld – dem strafwürdigen Unglauben derer, die den wiederkehrenden Bräutigam, der jetzt gegenwärtig war, hatten willkommen heißen sollen. Und selbst da bleibt Er der gegenwärtige Bräutigam. Aber Er spricht von uns, wirklich; denn es ist die Gesamtheit der Christen, die bekennende Christenheit, die Er mit den zehn Jungfrauen anspricht. Er wendet Sich nicht an den jüdischen Überrest, wie manche gemeint haben. In den zehn Jungfrauen finden wir in keiner Weise den jüdischen Überrest. Die zehn Jungfrauen sind ganz eindeutig christliche Bekenner, die ausgehen, dem Bräutigam entgegen. Das ist unsere Stellung; und sie charakterisieren daher die Christenheit.

Der Jude wird dort bleiben, wo er sich befindet und wird dort, wo er ist, von Gott gesegnet werden, wenn der Tag kommt, an dem die Juden gesegnet werden sollen. Der Bräutigam wird zu ihnen kommen, wenn ihr Herz verwandelt ist. Jene Wendung des Herzens wird geschehen, und der Schleier wird fortgenommen werden, wenn es sich dem Herrn zuwendet – das Herz von Israel, wie wir in 2. Kor 3 lesen. Der Herr spricht hier klar von solchen, die „ausgehen“, und Er nennt einige töricht und andere klug. Beim jüdischen Überrest wird keiner töricht sein. „... die Verständigen aber werden es verstehen“ (Dan 12,10), und sie sind die Verständigen – jener jüdische Überrest der letzten Tage.

Was noch deutlicher zeigt, dass es nicht der jüdische Überrest ist, ist dies: sie haben Öl in ihren Gefäßen, während auf die Juden doch der Heilige Geist erst ausgegossen wird, nachdem ihre Beziehung zu Christus aufgerichtet und bestätigt ist. Wir haben den Heiligen Geist erhalten, nachdem Christus die Erde verlassen hatte. Sie werden den Heiligen Geist nicht empfangen, bevor Christus zurückkommt. Der Unterschied liegt also auf der Hand. Beachten wir auch, wie alles dies bekräftigt; denn sie schlafen alle ein. Der jüdische Überrest wird das nie tun. Von der Zeit an, da sie berufen wurden, werden sie durch unvergleichliche Trübsale und Drangsale gehen. Und in Zeiten der Trübsal legt man sich nicht schlafen, wohl aber in Zeiten der Ruhe. Das ist es, was wir im Christentum erleben. Es gab Zeiten der Ruhe und der Sorglosigkeit, und die Menschen schliefen ein. Und das finden wir hier – der Herr weckt sie schließlich auf.

Ich möchte das wiederholen, dass die zehn Jungfrauen die Christenheit darstellen, gut und böse, klug und töricht, und nicht die Gesamtheit der Juden. Die Braut wird nirgends gesehen. Sie wird nicht einmal erwähnt. Ich zweifle nicht, dass der zurückkehrende Bräutigam danach Seine Braut aufnehmen wird; aber die zehn Jungfrauen sind etwas völlig anderes; sie werden nicht als Braut gesehen, sondern als Gefolge, sozusagen als Brautzug. Es sind jene, die ausgehen, Ihm entgegen, und die dann mit Ihm zur Hochzeit eingehen. Aber dann muss ja jemand anders die Braut sein; und wenn wir fragen, wer diese Braut sein würde, wenn die Braut überhaupt genannt wäre, so antworte ich ohne Zögern – Die Braut des Hohenliedes ist – Jerusalem.

Wir brauchen es nicht seltsam zu finden, dass Jerusalem solch ein Name beigelegt werden sollte. Die Propheten greifen ihn auf, ebenso die Psalmen. Der 45. Psalm weist eindeutig auf jene jüdische Braut hin. Sie ist die Königin. An jenem gesegneten Tage werden auch andere gesegnet werden; aber sie ist die eine, die „ganz herrlich drinnen“ ist. Und wir dürfen dies nicht für eine Herabsetzung der himmlischen Braut halten; denn ich bin völlig überzeugt, dass die klugen Jungfrauen aus Matthäus 25 zugleich die himmlische Braut darstellen. Kurz, wir müssen daran denken, dass die Braut nur ein Bild ist und dass es die Versammlung ist, die einen vertrauteren Platz im Himmel haben wird als irgendjemand sonst. Und Jerusalem – oder Zion, wenn wir wollen – wird auf der Erde einen besonderen Platz in der Nähe des Messias haben. Das Herz des Herrn ist wahrhaftig weit genug für Himmel und Erde. Er, Der sowohl Gott als auch Mensch ist, Er, Der sowohl das Haupt der Versammlung als auch der Juden ist – liebt sie beide jetzt und in Zukunft mit Seiner vollkommenen und inbrünstigen Liebe. Wie wir also im Alten Testament eine eindeutig gekennzeichnete Braut haben, die ohne allen Zweifel nicht die Versammlung ist, so haben wir im Neuen Testament eine Braut, die völlig geoffenbart ist. Und jene Braut ist ebenso eindeutig die Versammlung und nicht Jerusalem, wie es im Alten Testament Jerusalem ist und nicht die Versammlung.

Dies, denke ich, wird uns nicht unwesentlich helfen, das Hohelied richtig zu verstehen. Niemand soll nun aber meinen, dass das Hohelied deshalb weniger interessant wäre. Es geht ja auch nicht darum, was wir für interessant halten; wir sollten vielmehr nach der Wahrheit fragen und nach Gottes Gedanken. Wenn wir über Gottes Gedanken erst einmal zu einer festen Gewissheit gekommen sind, dann kann es nichts von tieferem Interesse geben. Und ich brauche kaum zu sagen, dass, wenn die Liebe Christi zu Seiner irdischen Braut schon so groß und zärtlich ist, es keine glückliche Schlussfolgerung wäre zu sagen, dass Seine Liebe zu Seiner himmlischen Braut geringer ist. Ich würde das Gegenteil meinen und dass wir deshalb durchaus berechtigt sind zu folgern, dass, die Liebe des Herrn größer ist als wir gedacht hatten –, dass der Herr auf Erden einen Gegenstand haben wird, der Ihm besonders wert ist und nahe steht, wie Er unzweifelhaft auch im Himmel solch einen Gegenstand haben wird. Und wenn wir jetzt Christus angehören, dann wird unser Verhältnis zu Ihm himmlischer Natur sein, und das ist es jetzt schon. Dies bedeutet nicht -ich wiederhole es – die Heilige Schrift unseren Herzen zu entfremden, sondern es gibt uns vielmehr erst das wahre Verständnis für sie.

Ich könnte noch auf das Evangelium nach Johannes aufmerksam machen (Joh 3,29), um von daher denselben Beweis in Bezug auf die Gestalt des Bräutigams zu führen und infolgedessen auch auf die irdische Braut – denn die Versammlung war noch nicht geoffenbart, als der Herr dort sprach oder Johannes der Täufer von dem Herrn zeugte –, aber ich möchte mich jetzt lieber auf die Worte des Herrn Selbst beschränken. Johannes der Täufer hat in seinen Worten ohne Zweifel das gleiche Gepräge wie der Herr Jesus – ich möchte nicht sagen göttlicher Eingebung. Nein, ich spreche von Ihm als von einer göttlichen Person. Er redete die Worte Gottes, und das Zeugnis Johannes des Täufers war so wahrhaftig, als ob Gott selbst gesprochen hätte. Aber dennoch müssen wir zwischen einem bloßen Instrument Gottes und Gottes eigenem Bild unterscheiden. Und das war der Herr Jesus.

Ich möchte nicht lediglich eine Reihe von Schriftstellen anführen, so, als ob dadurch die Wahrheit bekräftigt werden könnte. Ich hoffe, mich an solche zu wenden, die auch mit einer Stelle zufrieden wären, wenn es nur eine gäbe. Derjenige, der nach zwanzig Schriftstellen verlangt, glaubt ganz offensichtlich nicht einer einzigen. Derjenige, der meint, die Schrift sei deshalb zuverlässig, weil er die Beweise häuft, hat gewiss kein richtiges Empfinden von ihrer göttlichen Glaubwürdigkeit. Ich bin also ganz davon überzeugt, dass die Bücher des Alten Testaments – die Psalmen und Propheten – von Zeit zu Zeit (ja, ich möchte sagen häufig) auf die Gestalt der Braut anspielen, als die Jerusalem eines Tages erscheinen wird, und dass der Herr Selber im Neuen Testament diese große Wahrheit besiegelt. Und das ist umso bedeutsamer, als Jerusalem im Begriff stand, Ihn zu verwerfen. Wie gesegnet ist Sein Zeugnis! Obwohl der Herr hier also nicht von Jerusalem als der Braut spricht, spricht Er doch von Sich als dem Bräutigam. Er fehlte nicht in Seiner Liebe, wohl sie in ihrer.

Das ist die große Wahrheit, die ich daraus entnehme; und diese Wahrheit ist, um es noch einmal zu sagen, auf das Hohelied gegründet. Das Hohelied hat daher vollste göttliche Legitimation, und das nicht nur aus dem Grunde, weil es sich sozusagen im Herzen der Bibel befindet, noch, weil es stets unbestritten war – noch auch, weil es in den allerersten Übersetzungen, die von der Heiligen Schrift gemacht wurden, enthalten ist. Ungleich den Apokryphen kann es nicht in Frage gestellt werden. Lange vor dem Erscheinen Christi wurde jenes Buch in die führenden Sprachen der Nationen übersetzt, so dass hinsichtlich seiner vollen göttlichen Autorität überhaupt kein Zweifel besteht. Zudem war es zu jener Zeit allgemein bekannt, so dass unser Herr Sich auf die Hauptfigur beziehen konnte, die, möchte ich sagen, für das ganze Buch steht; denn das ganze Buch ist der Liebe zwischen dem Bräutigam und der Braut gewidmet. Natürlich weiß ich, dass Salomo der Schreiber ist. Manche haben ja geglaubt, er sei die Hauptperson. Es braucht unsere Gemüter jedoch nicht zu beschäftigen, was für historische Umstände Veranlassung zu diesem Buch gaben. Was wir erfahren, ist nicht die Gelegenheit, die es entstehen ließ, sondern die Wahrheit Gottes – das, was Gott für die Auferbauung der Heiligen aller Zeiten im Auge hatte und ganz besonders, wenn dieses Buch sich erfüllen wird. Denn ich bin überzeugt, es trägt einen weiteren bedeutenden Stempel göttlicher Wahrheit: die eigentliche Ausrichtung dieses Buches ist zukünftig; es hat sich noch nicht erfüllt.

Die Juden haben es als ein geschichtliches Sinnbild betrachtet – und da gingen sie an den Gedanken Gottes vorbei –, dass es die Liebe Jehovas zu Israel darstelle, als Er sie aus Ägypten führte. Sie wandten das Kommen der Braut und des Bräutigams aus der Wüste ganz natürlich auf Gott an, der Sein Volk aus dem Hause der Knechtschaft führte und im Angesicht der ganzen Welt zu Seinem Eigentumsvolk machte.

Aber das, geliebte Brüder, ist ganz offensichtlich nicht der Weg des Geistes Gottes – ein Buch zu schreiben, und das zu einer solchen Zeit, Vergangenem gewidmet, und dem, was doch gerade in Dunkel, Sünde und Verderben versank. Nein, das Wort Gottes hat als Ganzes und in allen seinen Teilen prophetischen Charakter – selbst das 1. Buch Mose; und ich führe gerade das an; denn wenn es etwas gibt, was von Vergangenem spricht, dann doch wohl die Genesis. Aber das 1. Buch Mose konnte nicht schließen und konnte nicht einmal voranschreiten, ohne seine göttliche Sicht zu erweisen, ohne dass der Geist Gottes uns einen Blick in die Zukunft tun ließe.

Das mochte selbstverständlich in der Form eines Vorbildes geschehen; es kann den Charakter der Prophezeiung annehmen; wir finden beides. Ich weise nur darauf hin, um zu zeigen, dass das der Charakter der ganzen Schrift ist. Sie blickt vorwärts auf einen glanzvollen Tag. Sie wurzelt in der Vergangenheit, ohne Zweifel. Sie beschäftigt sich ganz deutlich mit der Gegenwart, aber ihr Ausblick geht stets in die Zukunft. Und das erstaunt uns nicht: Sie beginnt mit dem Verderben des ersten Menschen und blickt hin auf die Herrlichkeit des Zweiten. Das ist das große Ziel und der Charakter der ganzen Schrift.

So ist es auch mit dem „Lied der Lieder“, und da will ich nun kurz auf einige Punkte hinweisen; denn ich möchte es nur ganz allgemein betrachten. Ich behaupte nicht, mit allen Einzelheiten vertraut zu sein. Ich fürchte mich wirklich davor, anmaßend zu sprechen oder in irgendeiner Weise schöne Einzelheiten herauszugreifen, wie es viele tun, die zu der sog. allegorischen Interpretation neigen. Ich wiederhole, dass ich mich auf nichts einlassen möchte, was nicht von Gott ist. Es liegt mir am Herzen, über das zu sprechen, wovon ich weiß und fest glaube, dass es von Gott ist, und ich denke dabei an die großen und tiefen besonderen Kennzeichen dieses wundervollen Buches. Aber ich glaube, dass der Herr genug schenken wird, um den Kindern Gottes zu einer breiteren Schau, zu einem besseren Verständnis zu verhelfen – so dass sie mehr erhalten als bloße Einzelheiten, was ja nie der vorteilhafteste Weg ist, die Schrift zu betrachten. Wir wünschen sie als ganzes zu besitzen. Wenn wir den allgemeinen Plan – den Umriss der Landkarte – haben, können wir daran gehen, uns die Einzelheiten anzusehen. Aber das muss ich anderen überlassen. Ich beschränke mich im Augenblick auf einige Anregungen allgemeiner Art.

Ich habe gezeigt, dass das Hohelied von der irdischen Braut spricht und nicht von der himmlischen. Ich habe euch das vom Wort Gottes her bewiesen. Jetzt aber möchte ich – man kann sagen – geistliche oder sittliche Gründe nennen, warum das Hohelied, mag es auch noch so lehrreich und wertvoll für unsere Seelen sein, doch nicht die Beziehung der himmlischen Braut, sondern vielmehr die der irdischen zum Gegenstand hat.

Der große Unterschied zwischen den beiden, den wir stets, wenn wir das Hohelied betrachten, im Auge behalten müssen, ist dieser: wir erscheinen als Braut zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi. So wird es nicht bei den Juden sein. Ihnen war offenbart worden, dass sie vor Seinem ersten Kommen die Braut sein sollten. Aber sie erkannten Ihn nicht an, sie verwarfen Ihn, sie verachteten Ihn; und deshalb nahmen sie, als Er wirklich kam, niemals die Stellung der Braut ein. Und der Herr ließ sie in ihrem Schweigen und der Härte ihres Unglaubens. Wenn Er jedoch wiederkommt, wird es nicht so sein. Daraus folgt, dass es von ihnen aus gesehen einzig und allein eine Sache der Hoffnung ist, diese Beziehung aufzunehmen – es ist ausschließlich eine zukünftige Beziehung. Die Braut hier ist nicht mit dem Bräutigam vereint. Im Lauf der Betrachtung werde ich das aufzeigen und begründen. Dies ist von großer Tragweite; denn viele, die dies außer Acht ließen, haben die Gestalten und Bilder nach meinem Empfinden in sehr niedriger und ungeziemender Weise gedeutet. In seiner Reinheit ist das Lied vollkommen, aber die Reinheit des Liedes ist umso vollkommener, als die Braut noch nicht in ihre wahre Beziehung zum Bräutigam eingetreten ist. Die Sprache dieses Liedes finden wir nie auf die himmlische Braut angewandt.

Wenn wir nun die himmlische Braut betrachten, sehen wir da diesen wichtigen Unterschied, dass wir mit Christus in Verbindung treten nach Seinem ersten Kommen und vor Seinem zweiten. Demzufolge befinden wir uns in der eigentümlichsten Stellung, in der Seelen auf der Erde nur sein können: durch den Heiligen Geist sind wir schon jetzt mit Ihm vereinigt. Die Hochzeit im Himmel hat zwar noch nicht stattgefunden, denn das letzte Glied am Leib Christi fehlt noch. Aber dennoch sind wir Sein Leib. Wir stehen zu Christus in allernächster Beziehung. Wir werden als wirkliche Glieder Seines Leibes gesehen – nicht, dass wir es werden, wir sind es jetzt.

Das trifft auf die Braut hier keineswegs zu. Die Braut im Hohenliede – im Hohenlied Salomos – wartet auf Sein Kommen. Es ist keine Rede davon, dass ER bereits gekommen ist. Auch von so etwas wie Erlösung ist hier nicht die Rede. Wir finden nichts von der Kraft des Heiligen Geistes, die zu einem Leibe tauft, oder irgendetwas anderes, was als Grundlage für die Wahrheit von der Versammlung Gottes dient. Nichts Derartiges. Wir stehen in einer gegenwärtigen, fest begründeten Beziehung zu Christus; und wir wissen das. Wir wissen auch, dass Seine Liebe uns so vollkommen gehört, dass Er selbst dann, wenn wir im Himmel sind, nicht mehr lieben wird. Der einzige Unterschied wird sein, dass wir uns Seiner Liebe vollkommen erfreuen werden. Aber, ich wiederhole wir sind schon Sein Leib; und Er behandelt uns dementsprechend. Christus liebte die Versammlung und gab Sich Selbst für uns. Und eben dieses Bild wird benutzt, um zu Männer und Frauen über ihre gegenseitigen Beziehungen zu sprechen Es ist daher klar, dass die Versammlung zu dem Herrn Jesus Christus in einer ganz besonderen Beziehung steht – besonders in der Weise, dass diese Beziehung schon jetzt fest besteht und die Versammlung demzufolge schon jetzt in dem Bewusstsein Seiner Liebe lebt, was die jüdische Braut nicht eher tun kann, als bis Er wirklich gekommen ist. Dann wird die Beziehung zwischen dem Bräutigam und der Braut – der irdischen Braut – hergestellt werden, aber nicht vorher.

Wenn wir das nicht sehen, laufen wir Gefahr, dass uns das Hohelied nicht zum Segen ist. Ich will nur auf eines hinweisen: die Herzensübungen, die die Braut durchmacht. Sie hat eine Vision des Bräutigams; aber Er verschwindet. Sie steht nicht auf, um die Tür zu öffnen, und schon ist Er fort. Ist das beim Herrn der Fall? Zieht der Herr Jesus Sich je zurück? Oder kann der Herr Sein Angesicht vor uns verbergen? Nein, niemals. Wir mögen von Ihm weichen, aber darum geht es im Hohenlied nicht. Da zieht Er Sich zurück. Und ich bin überzeugt, dass das in dem Handeln des Herrn mit der Versammlung oder mit dem Heiligen – mit dem Einzelnen – nie der Fall ist. Ganz bestimmt zieht sich der Herr jetzt niemals von einem Heiligen zurück. Und wir sehen wohl, welche Bedeutung dies hat; denn mancher könnte das Hohelied lesen, ohne diesen Unterschied wahrzunehmen – dass, während wir viel mit der jüdischen Braut gemeinsam haben, da doch wesentliche Unterschiede sind. Das zeigt sich besonders in dem, was ich eben erwähnte, und es ist klar, dass wir unsere eigene Beziehung falsch sehen würden. Wir würden Gottes unumschränkter Macht etwas zur Last legen (wie die Menschen es in jedem Fall wirklich tun), was nur an unserem eigenen Unglauben liegt. Und so würden wir Ihm die Schuld geben, anstatt uns selbst, die wir allein dafür verantwortlich sind. Denn die Sorglosigkeit der Braut ist hier ohne Zweifel der Anlass.

Im Hohenliede geht es in Wahrheit nicht um das Aufrichten einer solchen Beziehung. Alles lebt aus der Erwartung. Man sieht daraus, welch ein Missverständnis es ist, hier von dem Geheimnis einer Liebesbeziehung reden zu wollen; die war noch gar nicht errichtet. Es geht nicht darum, anderen öffentlich zu zeigen, was zu einem festen Verhältnis gehört. Nein; das Hohelied hat ein äußerst hohes und wertvolles Ziel. Der Herr bereitet die Braut zu im Blick auf ihre Verbindung mit Ihm. Der Herr lässt sie Ihn kennen lernen, da sie doch denken mochte, Er könne sie nicht lieben und liebe sie nicht. Der Herr ist es, der hier in Seiner vollkommenen Gnade mit dem schuldigen Jerusalem handelt. Er gibt ihr zu verstehen, dass Er, der über sie weinte, sie lieben werde – dass Er, der nicht nur Seine Tränen, sondern Sein Blut für sie vergoss (denn Er starb ja für diese Nation, Joh 11,52), – dass jener gesegnete Erretter durch Seinen eigenen Geist in ihren Herzen wirken würde, um sie für Seine Liebe passend zu machen, um sie zu bilden und sie durch die Vollkommenheit Seiner Liebe fähig zu machen, Ihn zu lieben. Das ist das große Thema und Ziel des Hohenliedes.

Daher liegt die ganze Schönheit in der Liebe, die Christus (nicht ihr gegenüber) zum Ausdruck bringt, und der Liebe, die Christus in ihrem Herzen bildet, bevor noch die Beziehung errichtet ist. Bei uns liegt die Sache ganz anders. Wir werden als die ärmsten Sünder aufgenommen, wir werden bekehrt; wir werden als Kinder Gottes zu Gott gebracht; und wir erwachen zu dem wunderbaren Bewusstsein, dass wir der Leib Christi sind, Seine Braut und dass wir nun in der denkbar innigsten Beziehung zu dem Herrn Jesus stehen. Überwältigende Gnade! Alles beherrschende Gnade, und sonst nichts. Bei der Braut im Hohenliede ist es nicht so. Sie wusste sehr wohl, dass sie die Braut sein sollte. Von den Propheten und den Psalmen her wusste sie nur zu gut, dass das die Stellung war, die sie eigentlich einnehmen sollte. „Ach, wir haben gesündigt, wir haben Ihn zurückgewiesen, ja verachtet. Waren nicht wir es, die Ihn fortschickten? Wird Er je wieder auf uns blicken?“ Das ist ihre Frage; und diese Frage wird im Hohenlied beantwortet. Der Herr gibt ihnen die Antwort; denn es ist der Herr: es ist ihr Gott Jehova, aber auch ihr eigener Messias.

Und hier muss ich einen besonderen Charakterzug erklären, der nicht immer beachtet wird. Salomo schrieb die Sprüche; Salomo schrieb den Prediger; Salomo schrieb auch das Hohelied. In den Sprüchen verwendet er gewöhnlich das Wort „Jehova“. Ich wüsste nicht, dass der Ausdruck „Gott“ als Gott mehr als einmal im ganzen Buch der Sprüche erscheint (Spr 25,2); man könnte allerdings auch Sprüche 2,5.17; 3,4; 30,5.9 anführen. Auf jeden Fall sehen wir, dass er für jenes Buch nicht charakteristisch ist. Der charakteristische Ausdruck in den Sprüchen ist durchlaufend „Jehova“; und der Grund dafür ist eindeutig. Es ist die Weisheit, die Jehova für ein Volk bereithält, das in einer festen Beziehung zu Ihm steht. Deshalb wird dort stets der Name „Jehova“ verwendet.

Von demselben Schreiber stammt der Prediger; und es ist bemerkenswert, dass „Jehova“ im Prediger nie erscheint. Ich erinnere mich jedenfalls nicht. Es ist nicht das charakteristische Wort. In der Regel finden wir dort „Gott“. Ich will nicht behaupten, dass wir im Prediger nie „Jehova“ finden; auf alle Fälle ist es jedoch nicht kennzeichnend. Und wir müssen daran denken, dass, wie man sagt, die Ausnahme die Regel bestätigt; und solch eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist immer besonders bedeutsam. Sie stellt eine überraschende Wahrheit erst recht ins Licht, indem man erkennt, wie sie vom Normalfall abweicht.

Dann haben wir noch ein weiteres Buch von Salomo, und da finden wir weder „Jehova“ noch „Gott“. gewiss hat das seinen besonderen Grund, nachdem alles von demselben Schreiber stammt; es ist ja nicht so, dass einiges von ihm inspiriert ist und einiges nicht. Wir lesen von Salomo, dass er – waren es nicht 1005? – Lieder schrieb. Jedenfalls war es eine große Anzahl. Uns sind nicht alle diese Gesänge überliefert worden. Wir haben das Hohelied – dieses Buch. Wir sehen also, dass selbst da, wo die Schreiber inspiriert waren, Gott nicht alles, was sie schrieben, auf die Nachwelt kommen ließ, sondern nur das, was für den Plan und den Zweck der Bibel wesentlich war. Alles Übrige mochte völlig wahr und gut sein; aber Gott bewahrte nur das, was Seinem Ziel, das Er mit der Bibel verfolgte, diente. Denn es war ebenso sehr Gottes Absicht, dass die Bibel vollständig sein sollte, wie dass es in ihr nichts Überflüssiges gäbe. Die Bibel ist vollkommen. Und ein Kapitel mehr als für die Absicht Gottes notwendig, hätte die Bibel verdorben. Kein Wort ist zuviel. Auf der anderen Seite ist aber auch kein Wort zu wenig. Nichts ist verloren gegangen; Gott hat genau das aufbewahrt, was notwendig war.

Ihr werdet wohl alle von der Torheit des deutschen Unglaubens gehört haben. Ich spreche, so traurig es ist, von der Untreue der Theologen. Vermutlich wisst ihr auch alle von der Verheerung, die dadurch angerichtet wurde, wie sie mit ihren Gedanken an die Bibel herangehen. Da sie manchmal „Gott“ lesen und dann wieder „Jehova“, folgern sie, dass die Bücher von zwei verschiedenen Menschen geschrieben sein müssten -zwei Schreiber – unterschiedliche Gegenstände – in verschiedenen Jahrhunderten – unterschiedliche Länder – andere Menschen. Hier haben wir die Lösung des Problems: Die Bücher, die ich erwähnte, wurden von ein und derselben Person geschrieben. In dem einen lesen wir von „Jehova“, im anderen von „Gott“, im dritten weder von dem einen noch von dem anderen. Warum? Die Absicht ist völlig klar: Nach dem Titel „Das Lied der Lieder, von Salomo“ heißen die einleitenden Worte: „ER küsse mich“. Ich brauche nicht zu sagen, dass dies so unendlich viel besser ist als irgendetwas, was vorgeschlagen werden könnte. Würde es dasselbe sein, wenn da stände: „Jehova küsse mich“? Jedes erneuerte Herz würde so etwas von sich weisen. Wir empfinden alle: das wäre unpassend. Würde es denn recht sein zu sagen: „Gott küsse mich“? Ganz sicher nicht. „ER küsse mich...“ wie schön!

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