Der Brief an die Galater

Kapitel 4

Der Brief an die Galater

Indem der Apostel im 4. Kapitel das bisher Gesagte noch einmal zusammenfasst, kommt er im Anschluss an den zuletzt behandelten Gedanken von der Erbschaft in Abraham zu einer Erörterung der Stellung der Gläubigen im Alten Bund. Wenn Gesetz und Verheißung, obwohl keineswegs einander widersprechend, ihrer Natur nach so verschieden waren, wie stand es dann mit den Erben der Verheißung, solang sie sich unter Gesetz befanden?

Dass die Gläubigen in Israel als Abrahams Nachkomme ein Anrecht an die Erbschaft hatten, konnte keinem Zweifel unterliegen; die von Gott verheißenen Segnungen sollten ihr Teil sein. Aber haben sie sie wirklich genossen? Diese Frage beantwortet der Apostel mit den Worten: „Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knecht, obwohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist“ (V. 1.2). Dieses Bild von einem unmündigen Kind zeigt uns deutlich die Lage der Dinge. Ein gläubiger Jude war, wie jeder alttestamentliche Gläubige, ein Kind und darum ein Erbe, aber er glich einem Kind, das sich noch im Stand der Unmündigkeit befindet, also wohl Anspruch an das elterliche Erbe hat, aber noch nicht in den tatsächlichen Besitz und Genuss desselben eingetreten ist.

Ein solch unmündiges Kind unterscheidet sich, solang die vom Vater bestimmte oder in anderer Weise festgesetzte Frist währt, obwohl es Erbe und deshalb Herr ist von allem, in nichts von einem Knecht oder Sklaven. Es kann weder selbständig auftreten und handeln, noch über das zu erwartende Vermögen Bestimmungen treffen. Das ist Sache der Vormünder und Verwalter, unter denen das Kind bis zur Erreichung der Mündigkeit steht. Sobald diese eintritt, ändert sich alles. Das Kind untersteht nicht länger den Anordnungen des Vormundes, sondern erhält Sohnesrechte und freie Verfügung über das väterliche Erbe.

„Unmündig“ – wie genau beschreibt also dieses Wort die Stellung der alttestamentlichen Gläubigen, vor allem der Gläubigen aus den Juden bis zum Kommen des Herrn! Obwohl als Kinder und Erben dazu bestimmt, die ganze Herrlichkeit des kommenden Reiches mit Christus zu teilen, mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tisch zu liegen im Reich Gottes, waren sie doch Knechten gleich, die wohl von dem Herrn des Hauses Mitteilungen und Anweisungen empfangen, aber nicht in dessen Gedanken und Ratschlüsse eingeführt werden. Der Apostel fährt deshalb fort: „So auch wir: Als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt“ (V. 3).

„Geknechtet“ – beachten wir das Wort! – und zwar geknechtet „unter die Elemente der Welt“! Wir begegnen demselben Ausdruck in Kolosser 2,8, dort aber mehr in Verbindung mit der Philosophie und den Überlieferungen der Menschen und vor allem mit heidnischem Aberglauben. Hier wird das gesetzliche System „Elemente der Welt“ genannt, weil es, obwohl von Gott verordnet, der gegenwärtigen Welt, dem Menschen in seinem gefallenen und verderbten Zustand, angepasst war. Dementsprechend wird selbst die Stiftshütte in Hebräer 9,1 ein weltliches Heiligtum genannt. Nun, unter diese Elemente der Welt waren die gläubigen Juden „geknechtet“. Mochten auch einzelne von ihnen zuweilen besondere Gnadenerweisungen erfahren, indem ihnen persönlich mehr Licht gegeben wurde, um ihre Herzen zu erquicken und auf die ewigen, himmlischen Dinge hinzulenken, so blieb doch das System als solches immer dasselbe. Das Bündnis vom Berg Sinai konnte nicht anders als zur Knechtschaft gebären (V. 24). Das Gesetz will und muss als „ein fleischliches Gebot“ gefühlt werden, das nur Tod und Verdammnis über alle bringen kann, die unter ihm stehen. Die selige Freiheit eines Kindes Gottes ist auf gesetzlichem Boden ein für alle Mal unbekannt.

„Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen“ (V. 4.5). Wunderbare Worte: Gott sandte seinen Sohn! Wie einfach sind sie und doch zugleich von welch überwältigender Kraft und Bedeutung! Gott sandte. Er handelte. Er wollte die Wahrheit, die ganze Wahrheit ans Licht bringen, wollte sich dem verlorenen Menschen offenbaren in der überschwänglichen Größe seiner Herrlichkeit als Gott-Heiland. Nicht Engel treten jetzt in Tätigkeit, wie einst am Berg Sinai; nein, nachdem der hoffnungslos verderbte Zustand des Menschen ohne Gesetz und unter Gesetz sich völlig erwiesen hatte, „in der Fülle der Zeit“, erschien der Sohn Gottes, vom Vater gesandt, in dieser Welt, ein wahrhaftiger Mensch, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz. Durch die Frau war die Sünde in die Welt gekommen, von einer Frau wurde der geboren, der allein imstande war, die Sünde wieder abzuschaffen. Nur ein Mensch, nur der Sohn Gottes, der „an Blut und Fleisch teilgenommen hat“, konnte den Bedürfnissen der Kinder Adams, des ganzen gefallenen Menschengeschlechts, begegnen. Und weiter: Nur wenn dieser von Gott gezeugte Mensch unter Gesetz gestellt wurde, konnten durch Ihn dessen gerechte Forderungen erfüllt und sein Fluch hinweggetan werden.

Gott sandte. Einst hatte Er dem Menschen, der sich vermaß, alles zu tun, was Gott reden würde, seine Gebote, seine heiligen Forderungen an ihn mitgeteilt. Das Ergebnis davon war Fluch und Tod gewesen. Der Mensch hatte sich genau als das Gegenteil von dem erwiesen, was er hätte sein sollen. Nunmehr sandte Gott, gab Gott, und Er tat es unaufgefordert von den Menschen, in der unbegreiflichen Liebe seines Herzens. „So hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ (Joh 3,16). Aber es genügte nicht, dass der Heilige und Gerechte, der allezeit das vor Gott Wohlgefällige tat, auf dem Schauplatz der Sünde erschien, dass Er umherging, „wohltuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren“. Es genügte nicht, dass Menschen das anschauen und hören durften, was viele Propheten und Gerechte vergeblich zu sehen und zu hören begehrt hatten. Im Gegenteil, die leibliche Gegenwart des Herrn bewies erst recht die ganze Hoffnungslosigkeit des Zustandes des Menschen, die unüberbrückbare Kluft, die den unreinen Sünder von dem heiligen Gott trennte. Sollte die Sendung des Sohnes zu dem von Gott gewollten Ziel führen, so musste Er sterben, musste das Erlösungswerk vollbringen, indem Er an die Stelle des Menschen trat und die ganze damit verbundene Verantwortlichkeit auf sich nahm. Die, die unter Gesetz waren, mussten losgekauft werden. Nur so konnten wir die Sohnschaft empfangen.

Vor dem Tod und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus vermochte kein Mensch Gott „Abba, Vater!“ zu nennen; erst nachdem die Herrlichkeit des Vaters Ihn aus den Toten auferweckt hatte, konnte der Herr Maria von Magdala mit der uns allen so wohlbekannten Botschaft an seine „Brüder“ senden (Joh 20,17). Groß, überaus groß war das Vorrecht der Jünger, den Messias sehen, Ihn auf seinen Gängen durch das Land begleiten und seinen Belehrungen lauschen zu dürfen; aber sie standen bis zu jenem bedeutungsvollen ersten Wochentag noch auf dem Boden der Gläubigen des Alten Testaments. Sie waren noch Unmündige; die vom Vater festgesetzte Frist war noch nicht vorüber. So sehnlich das liebende Herz des Herrn danach verlangen mochte, sie in den Besitz und Genuss des neuen, auf seinen Tod und seine Auferstehung gegründeten Verhältnisses einzuführen, es war unmöglich. Bis die Taufe, womit Er getauft werden musste, vollzogen war, war Er „beengt“ (Lk 12,50). Er hätte den Seinen so vieles zu sagen gehabt, aber sie konnten es noch „nicht tragen“, nicht verstehen (Joh 16,12).

Mit der Auferstehung war wie mit einem Schlag alles verändert. Jetzt konnte Er seinen Jüngern und Jüngerinnen den teuren Vaternamen in einem Sinn offenbaren wie nie zuvor. Sie hatten jetzt die „Sohnschaft“ empfangen, waren, von der Knechtschaft des Gesetzes befreit, „Söhne“ geworden. „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!“ (V. 6). Hier ist wieder der Wechsel in den Personen beachtenswert. Der vorhergehende Satz schließt mit einem „wir“: „damit wir empfingen“; der vorliegende hebt mit einem „ihr“ an: „Weil ihr aber Söhne seid.“ Die Gnade Gottes hatte nicht an den Grenzen Israels Halt gemacht, sie war zu den Heiden übergeströmt. „Ihr seid Söhne“, ihr Galater, die ihr früher Gott nicht kanntet, sondern in den Gräueln des Heidentums dahinlebtet. Mit tiefer Freude denkt der Apostel daran. In dem Nachsatz kommt er dann auf das „wir“ des vorigen Verses zurück, indem er sagt: „Gott hat den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!“

Es wird uns hier, bei einem Vergleich mit der sonst so ähnlichen Stelle in Römer 8,14–17, ein kleiner Unterschied auffallen. Während dort die Gläubigen als die Rufenden bezeichnet werden, ruft hier der Geist des Sohnes: „Abba, Vater!“ Weiter, wenn dort unser Geleitet werden durch den Geist als der Beweis der Sohnschaft hingestellt wird und der in uns wohnende Geist mit unserem Geist zeugt, dass wir Kinder Gottes sind, sendet Gott hier seinen Geist in unsere Herzen, weil wir Söhne sind. Er besiegelt sein Werk in uns, ob Gläubige aus Israel oder aus den Heiden, durch diese Sendung. Beide, Juden und Heiden, waren jetzt Söhne, Söhne Gottes durch den Glauben an Christus, die einen einst Fremdlinge, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt, die anderen äußerlich Gott nahe, aber geknechtet unter das Gesetz. Beide standen jetzt unmittelbar in Beziehung zum Vater, in einem Verhältnis, von dem der Heilige Geist Zeugnis und Kraft zugleich war.

Man könnte vielleicht meinen, für den Juden sei die Errettung leichter gewesen, als für den Heiden, wie man heute auch denken möchte, ein ehrbarer, religiöser Mensch stehe dem Heil näher als einer, der in offenbarer Sünde und Schande dahinlebt. Aber es ist nicht so. Der Heide hatte freilich nichts als Sünde, aber gerade deshalb wurde er, wenn er ins Licht Gottes kam, leichter von seinem hoffnungslosen Zustand überführt, als ein frommer, gesetzestreuer Jude. Er hatte nur zu lernen, nichts zu verlernen, nur anzunehmen, nichts aufzugeben, geradeso wie heute ein Mensch, der nichts anderes aufzuweisen hat, als Sünde. Der Jude musste nicht nur von dem Fluch des Gesetzes, sondern auch von seiner vermeintlichen gesetzlichen Gerechtigkeit, ja, von dem Gesetz selbst befreit werden; so heute der Namenschrist von so manchem frommen Schein und religiösen Formwesen. Doch für beide ist, sobald der Glaube ihr Teil wird, das Ergebnis das gleiche. Die Wirkung des Erlösungswerkes ist in jedem Fall dieselbe.

Darum kann der Apostel, noch persönlicher werdend, hinzufügen: „Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott“ (V. 7). Mag der Glaubende gewesen sein, was er will, ob ein Götzendiener oder ein Übertreter des Gesetzes, er ist jetzt Sohn, nicht mehr Knecht, und wenn Sohn, dann auch Erbe, und das alles durch Gott1. Gott selbst hat uns aus unserem früheren Sklavenstand herausgebracht und uns in die wunderbare Stellung und Segensfülle eingeführt, die Er in seinem Sohn für uns bestimmt und bereitet hat. Ähnlich lesen wir in 2. Korinther 5,5: „Der uns aber eben dafür zubereitet hat, ist Gott.“ O welche Wunder der Gnade! Einst unreine Götzendiener, von Gott entfremdete Sklaven der Sünde, durften die Galater, nachdem ein jeder von ihnen persönlich zu Gott gebracht war, jetzt „Abba, Vater!“ rufen und sich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes, ja, seiner selbst rühmen. Alles, was der Vater seinem Sohn gegeben hat und was Er in Ihm besitzen will, sollte dereinst in ewigem Vollgenuss ihr Teil sein.

Wie war es möglich, so fragen wir unwillkürlich, dass diese Gläubigen, nachdem sie eine solche Gnade erkannt und an sich erfahren hatten, wieder umwandten zu den elenden Dingen, mit denen sie einst in Verbindung gestanden hatten? Leider aber war es so. Darum fährt der Apostel ernst warnend fort: „Aber damals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr euch wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt?“ (V. 8.9).

„Damals freilich“, als sie Gott nicht kannten, hatten sie den Nichtgöttern gedient, hatten sich vor Bildern niedergeworfen, die Augen haben und sehen nicht, Ohren und hören nicht, Füße und gehen nicht, Hände und tasten nicht. Musste die bloße Erinnerung daran ihnen nicht die Schamröte ins Gesicht treiben? Ach!, nachdem sie den wahren Gott erkannt hatten, ja, von Ihm selbst erkannt und in die innigste Verbindung mit Ihm gebracht worden waren, wollten sie sich wieder umwenden und von neuem den schwachen und armseligen Elementen dienen, die sie als solche erkannt und aufgegeben hatten.

Beachten wir wohl die Ausdrücke: „wieder umwenden“ und „von neuem dienen“. Dachten die Galater denn wirklich daran, ihren alten Götzendienst wieder aufzunehmen? Keineswegs. Sie wollten, wie wir wissen, die Beschneidung einführen und mit ihr die Beobachtung von „Tagen und Monaten und Zeiten und Jahren“ (V. 10). Was aber taten sie damit? Sie kehrten grundsätzlich auf denselben Boden zurück, auf dem sie einst gestanden hatten, auf den Boden der menschlichen Religion, des eigenen gesetzlichen Wirkens. Das ist der Punkt, den der Apostel ihnen so ernst vorstellt, und der für alle Zeiten so wichtig ist. Denn jede menschliche Religion, ob sie sich nun heidnisch, jüdisch oder christlich nennt, ruht letzten Endes auf der gleichen Grundlage, auf dem Tun des Menschen und auf seinem Bestreben, die Gunst der Gottheit, wie verschieden man sich diese auch vorstellen mag, auf irgendeine Weise zu erringen. So hatten die Galater in ihrem unbekehrten Zustand den Götzen gedient; Gottes Gnade hatte sie davon befreit, aber nun wollten sie sich wieder umwenden und von neuem Götzendienst treiben!

Aber, wird man einwenden, das kann der Apostel doch nicht sagen wollen! Wie konnte er die von Gott selbst gegebenen lieblichen Vorbilder des Alten Testaments, die „Schatten der zukünftigen Dinge“ (Kol 2,17), Götzendienst nennen? Das tut er auch nicht. Er sagt vielmehr: Wenn ihr, nachdem die Erfüllung all dieser Vorbilder, der Körper dieser Schatten, in dem gestorbenen und aus den Toten auferstandenen Christus gekommen ist, und ihr an diesen Christus geglaubt habt, wenn ihr jetzt wieder zu diesen Schatten euch zurückwendet, so ist das in Gottes Augen nichts anderes als eine Umkehr zum Götzendienst, wenngleich in anderer Form als früher. An den Platz, der allein dem verherrlichten Herrn gebührte, stellten sie jene gesetzlichen Verordnungen. Sie hatten Gott erkannt in Christus und wollten doch von neuem den schwachen und armseligen Elementen dienen, denen sie den Rücken gewandt hatten!

Wie ernst und ergreifend ist der Vorwurf des Apostels! Aber er erscheint noch viel ernster, wenn wir ihn auf die bekennende Christenheit unserer Tage anwenden. Ach, wohin ist es mit ihr gekommen! Man beobachtet nicht nur Tage und Monate und Zeiten und Jahre, hat nicht nur jüdische Zeremonien und Gebräuche in die so genannten Gottesdienste eingeführt, nein, man verehrt auch Stätten, Christusbilder, Heiligenbilder, Reliquien usw. usw. In der Meinung, Gott zu dienen, treibt man in Wirklichkeit nach seinem Urteil „geistliche Hurerei“, Götzendienst. Anstatt die Seelen durch einen einfältigen Glauben mit Christus in Verbindung zu bringen, bemüht man sich, eine gewisse heilige Scheu in den Herzen zu wecken, fromme Gefühle in ihnen wachzurufen und durch einen Schein von Gottseligkeit die innere Armut und Kraftlosigkeit zu verdecken. Was wird das Ende von dem allen sein? Was wird werden, wenn Gott einmal Rechenschaft von Führern und Verführten fordern wird?

Hierbei wollen wir jedoch nicht die ernste Tatsache übersehen, dass die Neigung, zu äußeren, religiösen Formen, zur Beobachtung von Tagen, Monaten und dergl. zurückzukehren, auch wahren Gläubigen nicht fremd ist. Ja, mehr noch: Man erregt bei solchen nicht selten Verwunderung, fast Anstoß, wenn man es ablehnt, Tage wie Karfreitag, Ostern, Pfingsten, Weihnachten usw. feierlich zu begehen. Paulus, der große Apostel und treue Arbeiter des Herrn, beurteilte diese Dinge anders. „Ich fürchte um euch“, schreibt er den Galatern, „das ich etwa vergeblich an euch gearbeitet habe“ (V. 11; vgl. V. 19.20).

In den Briefen an die Korinther, deren sittlicher Zustand doch so beklagenswert war, suchen wir umsonst nach solch starken Ausdrücken der Besorgnis. Bei allem Ernst seiner Rede hat Paulus doch Vertrauen zu ihnen und rechnet auf die Treue Gottes, durch die sie in die Gemeinschaft seines Sohnes berufen worden waren. Nicht, dass er die sittlichen Schäden in ihrer Mitte nicht scharf verurteilt hätte, er hat das getan, aber sein Auge erblickte in der gesetzlichen Neigung der Galater eine noch dringendere Gefahr und ein verhängnisvolleres Übel als in jenen nach menschlichem Urteil viel hässlicheren Dingen. Gesetzlichkeit ist ein gar trügliches Ding und eben deshalb so gefährlich, weil sie in den Augen der Menschen einen so schönen Schein hat. In Wirklichkeit entfernt sie das Herz von Christus und gibt dem armen eigenen Ich Nahrung. Denken wir auch nicht, dass wahre Heiligkeit jemals auf dem Boden gesetzlichen Tuns wachse. Nur da, wo die Gnade nach Gottes Gedanken verstanden und verwirklicht wird, gibt es ein fröhliches Wachstum des inneren Menschen, ein Verwandelt werden in das Bild dessen, den wir mit aufgedecktem Angesicht zur Rechten Gottes anschauen dürfen.

Dass die Gnade auch missbraucht, ja, in Ausschweifung verkehrt werden kann, ist wahr – der Apostel spricht später von dieser Gefahr. Ach, wozu ist der Mensch nicht fähig?! Aber wenn Aufrichtigkeit der Seele vorhanden ist, wird die Gnade stets eine viel wahrere und weitergehende Absonderung von allem Bösen bewirken, als ein gesetzlicher Geist es je zu tun vermag.

Die bange Sorge des Apostels, seine Arbeit an den Galatern möge sich schließlich als vergeblich erweisen, klingt auch in den nächsten Versen noch nach. „Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder, ich bitte euch; ihr habt mir nichts zuleide getan“ (V. 12). Nur ein Vater in Christus konnte so schreiben, nur sorgende Liebe solche Worte finden, einen solchen Ton anschlagen. Es war in der Tat so: Die Liebe Christi drängte diesen Mann; alles was er tat, tat er um des Evangeliums willen, um auch mit ihm teilzuhaben (vgl. 1. Kor 9,20–23; 2. Kor 5,14).

Die bösen Arbeiter hatten, wie anderswo, mit listigem Vorbedacht ihre zerstörende Arbeit unter den Galatern getan. Sie hatten auch ihnen wohl gesagt, Paulus sei äußeren Vorteils halber seiner früheren Überzeugung untreu geworden, habe aus unlauteren Beweggründen die Beobachtung des Gesetzes und damit seine ganze jüdische Stellung aufgegeben. Der Apostel weist diesen Vorwurf hier nicht wie in Römer 9 zurück durch einen Hinweis auf seine unveränderte, glühende Liebe zu seinen „Verwandten nach dem Fleisch“, sondern gibt rückhaltlos zu: Ja, es ist so; jene Leute haben recht, ich stehe nicht mehr auf jüdischem Boden, nicht mehr unter Gesetz. Bewunderungswürdig ist die Weisheit, mit welcher er je nach Umständen so ganz verschieden handelte: einmal fest und entschieden, zuweilen fast hart, ein andermal nachgiebig, gütig einlenkend, aber nie die Wahrheit des Evangeliums um eines Haares Breite aufgebend (vgl. Kap. 2,5).

„Brüder, ich bitte euch!“ Der Mann, der befehlsweise hätte sprechen können, bittet, bittet herzlich, innig. „Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr“, d. h. frei vom Gesetz. Christus hat mich, der ich einst unter Gesetz war, von seinen Verpflichtungen und seinem Fluch losgekauft; ihr habt nie unter Gesetz gestanden, habt nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Was ist es nun, dass ihr euch jetzt unter sein untragbares Joch begeben wollt? Seid wie ich! Ihr habt mir nichts zuleide getan, indem ihr jenen Verführern euer Ohr geliehen und dementsprechend von mir gedacht oder gesprochen habt. Folgt nur meinem Beispiel und lasst das Gesetz da, wo es hingehört. Ich, der ich als Israelit auf dem Boden des Gesetzes stand, danke Gott, dass ich in Christus dem Gesetz gestorben und nun mit viel höheren und herrlicheren Dingen in Verbindung gekommen bin – einst ein Mensch im Fleisch, jetzt ein Mensch in Christus, einst unter Gesetz, jetzt unter Gnade.

Und wie hatten sie Gelegenheit gehabt, diese Gnade in ihm zu bewundern! Er war ja nicht zu ihnen gekommen als ein Bote, dessen Erscheinung und Auftreten den Wünschen der Menschen, den Anforderungen einer fleischlichen Religion entsprach. Nein, „in Schwachheit des Fleisches“ hatte er ihnen „einst das Evangelium verkündigt“, aber, fügt er hinzu, „und die Versuchung für euch, die in meinem Fleisch war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, wie Christus Jesus“ (V. 13.14). Näheres über diese „Versuchung“ des Apostels wird uns in 2. Korinther 12 mitgeteilt. Worin sie bestand, wissen wir freilich nicht. Es ist ja an und für sich auch nicht von Wichtigkeit. Da aber wieder und wieder danach gefragt wird, mögen einige Worte darüber hier Platz finden.

Aus allem, was uns über den „Dorn im Fleisch“ mitgeteilt ist, müssen wir schließen, dass er in etwas Entstellendem, den Apostel in den Augen der Menschen verächtlich Machendem bestanden haben muss. Das war auch wohl der Grund, weshalb er so anhaltend zu Gott flehte um Befreiung von diesem „Engel Satans, der ihn mit Fäusten schlug“; musste es ihn, den treuen, hingebenden Boten des Evangeliums doch aufs Empfindlichste treffen, wenn seine Person und sein Auftreten von vornherein den Eindruck des Verächtlichen auf die Zuhörer machte. Man könnte nun denken, dass das Entstellende in seiner Gestalt, seinem Gesicht oder in seiner Sprache (vgl. 2. Kor 10,10) gelegen habe. Wenn wir aber hier hören, dass die Galater, „wenn möglich, ihre Augen ausgerissen und ihm gegeben hätten“, und uns zugleich vergegenwärtigen, dass der Apostel keinen seiner Briefe, außer diesem verhältnismäßig kurzen an die Galater, mit eigener Hand, und auch diesen wohl nur mit besonderer Mühe (Kap. 6,11), geschrieben hat, so liegt der Schluss nahe, dass es sich um ein besonders peinliches, wahrscheinlich verunstaltendes Augenleiden gehandelt haben müsse.

Doch, wie gesagt, die Beantwortung der Frage ist von keiner großen Bedeutung. Viel wichtiger und für uns belehrender sind die Begleitumstände und vor allem die Ergebnisse dieser erzieherischen Handlung Gottes mit seinem Knecht. Den Galatern konnte er das Zeugnis geben, dass sie die Versuchung in seinem Fleisch nicht verachtet, sondern ihn wie einen Engel Gottes, ja, wie Christus Jesus selbst aufgenommen hatten. Ihre Glückseligkeit über das Wort vom Kreuz, das Paulus ihnen gebracht hatte, war so groß gewesen, dass alles andere wert- und bedeutungslos für sie geworden war. In ihrer Dankbarkeit wären sie zu den größten Opfern bereit gewesen, wenn dadurch nur das Leiden des geliebten Apostels hätte behoben oder doch gemildert werden können.

Und jetzt? War er mit einem Mal ihr Feind geworden, weil er ihnen die Wahrheit sagte? (V. 16). Das taten freilich die falschen Lehrer nicht. „Sie eifern um euch nicht gut, sondern sie wollen euch ausschließen, damit ihr um sie eifert“ (V. 17). Der Eifer dieser Leute war nicht gut; sie eiferten um ihre eigene Ehre, sie wollten „im Fleisch wohlangesehen sein“ (Kap. 6,12), wollten „die Jünger hinter sich herziehen“. Hatte der Apostel so gehandelt? Hatte er je das Geringste getan, um seine Person in den Vordergrund zu stellen, oder gar die Galater zu veranlassen, „um ihn zu eifern“? Und von diesem treuen Mann wollten jene Menschen die gläubigen Galater trennen, sie „von ihm ausschließen“, indem sie eine Scheidewand zwischen ihm und ihnen errichteten! Ihre Person, ihre Anerkennung, ihr Ansehen waren der Gegenstand, um den sich alles bei ihnen drehte. Das war in der Tat ein böses, schlimmes Eifern.

„Es ist aber gut, allezeit im Guten zu eifern und nicht nur, wenn ich bei euch zugegen bin“ (V. 18). Solang Paulus in ihrer Mitte weilte, hatten sie dem Guten nachgestrebt, warum jetzt nicht mehr? Bei den Philippern durfte der Apostel eine bessere Erfahrung machen. Ihnen konnte er in späteren Tagen das Zeugnis geben, dass sie nicht nur in seiner Gegenwart allezeit gehorsam gewesen seien, sondern noch viel mehr in seiner Abwesenheit (Phil 2,12). So ist es immer, wenn die Gnade ungehindert zu wirken vermag. Sie vereinigt die Herzen um einen Gegenstand, und dieser Gegenstand ist Christus. Ein gesetzlicher Geist wirkt stets trennend, erhebt das Ich, lenkt das Auge von Christus ab und erstickt die Liebe.

Indem die Galater den Einflüsterungen der bösen Arbeiter Gehör schenkten, waren sie den tödlichen Einflüssen dieses Geistes erlegen, oder sie standen doch in großer Gefahr, ihnen zu erliegen. Diese Erkenntnis rief in dem Apostel ähnliche Gefühle wach, wie er sie im Anfang gehabt hatte, als er ihnen Jesus Christus verkündigte. Ergreifend sind die Worte, in welchen er diesen Gefühlen Ausdruck gibt; sie lassen uns wieder einen Blick in dieses Herz der Liebe tun. Mose, der treue Knecht Gottes im Zeitalter des Gesetzes, liebte auch sein Volk über alles, aber seine Worte in 4. Mose 11,12: „Bin ich mit diesem ganzen Volk schwanger gegangen, oder habe ich es geboren, dass du zu mir sprichst: Trag es in deinem Gewandbausch, wie der Wärter den Säugling trägt?“, erheben sich nicht zu der Höhe der Worte des Apostels, der die in Christus völlig offenbarte Gnade Gottes kannte.

„Meine Kinder, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch Gestalt gewinnt“ (V. 19). Noch einmal durchlebte Paulus im Geist dieselben Schmerzen und Kämpfe, die er beim Ringen um die Seelen der Galater erfahren hatte. Ach!, jener böse Geist hatte ihre Herzen im Blick auf die Wahrheit so in Verwirrung gebracht, dass sie noch einmal in den Anfangsgründen des Christentums unterwiesen und zu dem Kreuz zurückgeführt werden mussten. Äußerlich mochte ja noch manches Gute bei ihnen gefunden werden, aber innerlich hatten sie sich von Christus entfernt, sie hatten den Boden des Christentums verlassen, waren aus der Gnade gefallen.

„Ich wünschte aber, jetzt bei euch zugegen zu sein und meine Stimme umzuwandeln, denn ich bin euretwegen in Verlegenheit“ (V. 20). Ich bin euretwegen in Verlegenheit! So war es im Fall der „geliebten und ersehnten Brüder“ in Philippi nicht. Sie waren die Freude und Krone des Apostels, standen fest im Herrn und durften die Ermunterung hören: „Freut euch in dem Herrn allezeit!“ Hier wünscht der Apostel noch einmal bei den Galatern gegenwärtig zu sein, um das gefährdete Werk in ihrem Innern zu erneuern. Er möchte seine Stimme umwandeln und ihnen noch einmal persönlich dienen, je nachdem ihr Zustand es erforderlich machen würde. Es war nicht seine Freude, Strenge zu gebrauchen oder mit der Rute zu kommen, aber wenn das um ihres geistlichen Wohles willen nötig war, würde er auch dazu bereit gewesen sein. Lieber aber wäre er in Liebe und im Geist der Sanftmut zu ihnen geeilt, und ohne Zweifel hoffte er, dass sein ernster Brief seinen Zweck nicht verfehlen würde.

Noch einmal kommt er jetzt auf den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade zurück. „Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht?“ (V. 21). Zum Verständnis dieser Stelle sei zunächst darauf hingewiesen, dass das Wort „Gesetz“ hier in zweierlei Sinn gebraucht wird. Während der Vordersatz: „die ihr unter Gesetz sein wollt“, uns, wie immer, an das Gesetz vom Sinai erinnert, redet der Nachsatz: „was das Gesetz sagt“, vom Gesetz in dem Sinn, wie der Herr in Lukas 16,16 und anderen Stellen davon redet: „Das Gesetz und die Propheten waren bis auf Johannes.“ Das Alte Testament teilt sich in Gesetz, Propheten und Psalmen. An manchen Stellen, wie z. B. in Psalm 19,8: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele“, bezeichnet es auch ganz allgemein das Wort Gottes. Der Apostel will also sagen: Hört ihr nicht, was das Wort in seinem „Gesetz“ genannten Teil sagt?

„Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien; aber der von der Magd war nach dem Fleisch geboren, der aber von der Freien durch die Verheißung“ (V. 22.23). Die Tatsache, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von Hagar, einen von Sara, war den Galatern zur Genüge bekannt, auch dass Isaak der Sohn der Verheißung war, während Ismael nach dem Fleisch geboren wurde. Aber wohl nie vorher hatten sie den tieferen, vorbildlichen Sinn dieses Unterschiedes erfasst, und auch wir würden ihn wohl nie entdeckt haben, wenn es nicht dem Heiligen Geist gefallen hätte, uns durch Paulus auf ihn aufmerksam zu machen. So geht es mit manchen alttestamentlichen Vorgängen; ohne die Belehrung des Geistes würden wir sie kaum als anwendbar auf neutestamentliche Wahrheiten erkannt haben. In dem vorliegenden Fall haben Fleisch und Gesetz einerseits, Verheißung und Gnade anderseits in den beiden Söhnen Abrahams, dem nach dem Fleisch und dem nach dem Geist geborenen, ihre Vorbilder gefunden. So war es von Gott beabsichtigt, und der Unglaube Saras musste mit dazu beitragen, um das interessante Bild vollständig zu machen. Wie wunderbar ist unser Gott in all seinem Leiten oder Geschehen lassen!

Die beiden Frauen, Hagar und Sara, sind denn, wie der Apostel weiter lehrt, „zwei Bündnisse: eins vom Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist“ (V. 24). Sie wird deshalb auch mit ihrem Sohn in Gegnerschaft mit Sara und Isaak gefunden. Wie könnten Gesetz und Gnade, Fleisch und Geist jemals im Einklang miteinander stehen? Hagar, die in Knechtschaft Stehende, gebiert zur Knechtschaft, genauso wie das Gesetz vom Berg Sinai. „Denn Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft“ (V, 25). Das Jerusalem zur Zeit des Apostels, die Hochburg des gesetzlichen Systems, war das traurige Bild innerer und äußerer Knechtschaft. Ihre Bewohner waren in doppelter Hinsicht geknechtet: Knechte der Sünde und Knechte Roms. Das einst von Gott zu seinem Wohnsitz erkorene Zion war eine Stadt der Mörder geworden und befand sich in der Gewalt der Heiden. Und dahin wollten die Galater sich jetzt wenden, wollten für das Gesetz streiten und so Kinder der Magd werden?

Nein, fährt der Apostel fort, „das Jerusalem droben ist frei“, und dieses Jerusalem ist „unsere Mutter“. Sollten wir nun aus der Stellung der freien Gnade zurückgleiten in einen Zustand gesetzlicher Knechtschaft? Das sei ferne! Alle Beziehungen zu dem alten, irdischen Jerusalem, soweit sie bestanden haben mögen, sind abgebrochen, neue Verpflichtungen ihm gegenüber bestehen nicht, in Christus sind wir mit der himmlischen Stadt in Verbindung gekommen. Das Jerusalem droben, da wo der Christus ist, ist unsere Mutter, und dieses Jerusalem ist frei, und mit ihm seine Kinder.

„Denn es steht geschrieben:,Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und rufe laut, die du keine Geburtswehen hast! Denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als die Kinder derjenigen, die den Mann hat‘“ (V. 27). Im ersten Augenblick mutet es uns fremd an, diese Stelle hier angeführt zu finden. Sie ist bekanntlich dem 54. Kapitel des Propheten Jesaja entnommen, das die wunderbaren Ergebnisse des im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Werkes Christi für Israel behandelt. Jerusalem, die Unfruchtbare, die keine Wehen gehabt und nicht geboren hat, wird aufgefordert, zu jubeln und zu jauchzen, weil die ihr in ihrer Vereinsamung (der Zeit ihrer Scheidung von Gott) geborenen Kinder zahlreicher sind als die, die sie in der Zeit ihres Verehelichtseins hatte. Zurückschauend auf ihren langen, einsamen Weg mit all seinen Drangsalen und Stürmen, für die Gegenwart noch einer elenden, verlassenen Frau gleichend, darf sie Worte wunderbarer Gnade vernehmen; sie soll der Schmach ihrer Jugend vergessen und der Schande ihrer Witwenschaft nicht mehr gedenken. Nicht nur sollen aus Israel selbst ihr so zahlreiche Kinder geboren werden, dass ihnen der Raum zum Wohnen im Land zu eng wird, und sie selbst in ihrem Herzen spricht: „Wer hat mir diese geboren, da ich doch der Kinder beraubt und unfruchtbar war, verbannt und umherirrend? Und diese, wer hat sie großgezogen?“ (Jes 49,20.21), sondern Gott will auch diejenigen zu ihrer Nachkommenschaft rechnen, welche, aus allen Völkern der Erde stammend, auf dem Boden der Gnade mit Gott in Verbindung gekommen sind. Der Herr Jesus selbst sagt zu der Frau am Jakobsbrunnen: „Das Heil ist aus den Juden“, und wenn wir, in Verbindung mit diesem Wort, an die Verheißung denken, die Gott einst dem Stammvater Israels gab, dass in seinem Nachkommen alle Nationen gesegnet werden sollten, verstehen wir den Gedanken des Apostels besser. Er denkt hier nicht so sehr an die beiden Frauen Abrahams, als an das, was sie vorstellten.

Erinnern wir uns zugleich daran, dass der Apostel im Galaterbrief von einem ganz anderen Ausgangspunkt ausgeht und deshalb auch zu ganz anderen Ergebnissen kommt, als z. B. in dem Brief an die Epheser. Redet er in diesem von dem vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschluss Gottes, dessen Gegenstand die Versammlung (Gemeinde), der Leib Christi, ist, so gründet er in jenem seine Belehrungen auf die Verheißung, die Gott im Lauf der Zeit dem Abraham, dem jüdischen Patriarchen und Vater aller Gläubigen, gab, und die den Kindern Abrahams als solchen galt. Von der „Versammlung Gottes“ ist im Galaterbrief nur ein einziges Mal die Rede, und dann auch nur, um uns zu sagen, dass Paulus sie über die Maßen verfolgt habe. Sie war ein Geheimnis, das von den Zeitaltem und Geschlechtern her in Gott verborgen war, von dem die Verheißungen nie geredet hatten, zu dessen Höhe unser Brief sich auch nie erhebt. Die Gläubigen sind hier die Kinder, Söhne und Erben Gottes, nicht mehr Unmündige oder Knechte, aber die Vorrechte und Segnungen, die mit dem zur Rechten Gottes verherrlichten Menschensohn verbunden sind, suchen wir vergeblich.

Alles das wird es uns, wie gesagt, besser verstehen lassen, warum der Geist Gottes an dieser Stelle alle Gläubigen, seien sie aus Israel oder aus den Nationen, die während der Zeit, dass Israel keinen Mann hat, geboren werden, zusammenfasst und Kinder Jerusalems nennt, des Jerusalem freilich, wie es dereinst gesehen werden wird, wenn ihm bedingungslose Gnade zuteil geworden ist und es aufgehört hat, eine „Hagar“ zu sein. Auch die unzähligen Scharen der himmlischen Heiligen, die dann den ihnen eigentümlichen Platz droben schon eingenommen haben (s. die 24 Ältesten in Offenbarung 4.5 usw.), werden Jerusalem hier als Kinder angerechnet.

In ähnlicher Weise wendet der Apostel in Römer 9,24–26 einen Ausspruch des Propheten Hosea, der sich zunächst nur auf Israel bezieht, auf alle Gefäße der Begnadigung aus Juden und Heiden an, indem er im Blick auf diese sagt: „…uns, die er auch berufen hat, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Nationen.“ Wie Er auch in Hosea sagt: „Und es wird geschehen, an dem Ort, wo zu ihnen gesagt wurde:,Ihr seid nicht mein Volk!“, wird zu ihnen gesagt werden: „Kinder des lebendigen Gottes‘“ (Hos 2,1). So sind auch wir alle Kinder des Jerusalem droben, sie ist unsere Mutter. Da ist nur ein gemeinsamer Boden, auf dem alle Gläubigen vor Gott stehen, und dieser Boden ist seine bedingungslose, freie Gnade. Der Apostel kann deshalb, diese kostbare Wahrheit auf die Galater anwendend, seine Beweisführung mit den Worten schließen:

„Ihr aber, Brüder, seid, wie Isaak Kinder der Verheißung“ (V. 28). Nicht Kinder der Magd, nach dem Fleisch und darum zur Knechtschaft des Gesetzes geboren, sondern Kinder der Freien, nach dem Geist geboren, Kinder der Verheißung, und darum der in Christus, dem Nachkommen Abrahams, offenbarten Gnade und aller mit ihr verbundenen Vorrechte teilhaftig.

Aber so wie damals der nach dem Fleisch Geborene (Ismael) den nach dem Geist Geborenen (Isaak) verfolgte, so war es auch jetzt – die Juden waren die unversöhnlichen Feinde der Christen, ja, sie waren selbst allen Menschen entgegen, indem sie den Aposteln wehrten, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet würden. Der Zorn Gottes war deshalb über sie gekommen (l. Thes 2,15.16). Auch in dieser Beziehung ähnlich wie damals; denn „was sagt die Schrift?,Stoße die Magd und ihren Sohn hinaus, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien‘“ (V. 30; vgl. 1. Mo 21,9.10).

So redet die Schrift, die nicht gebrochen werden kann. Vernichtendes Urteil für alle, die da meinen, ein Kind Gottes habe noch irgendetwas mit dem Gesetz zu tun als Grundlage oder Regel seiner Beziehungen zu Gott! So passend und scharf das Gesetz ist als Waffe wider Gesetzlose und Zügellose, wider Gottlose und Sünder, so wenig ist es für den Gerechten bestimmt (l. Tim 1,8.9). Wer deshalb den Gläubigen wieder unter dasselbe zu bringen sucht, in welcher Weise es auch sein mag, führt ihn aus der seligen Freiheit des Kindes Gottes in die unselige Knechtschaft des Juden zurück.

„Der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien.“ Deutlicher könnte die Schrift nicht reden und sie hat schon so geredet, lange bevor das Gesetz kam. In der vorbildlichen Geschichte jener beiden Söhne hat sie die Stellung des Gläubigen im Gegensatz zu der eines gesetzlichen Menschen, den Unterschied zwischen Fleisch und Geist, so klar gezeichnet, dass jeder, der sehen will, sehen kann. Frohlockend, wir möchten fast sagen, triumphierend schließt der Apostel seine Belehrung mit den Worten: „Deshalb, Brüder, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien.“ Unser ist die Befreiung von jeder gesetzlichen Sklaverei, unser die Verheißung, unser das Erbe!

Fußnoten

  • 1 Die Lesart „Erbe Gottes durch Christus“, die sich in manchen jüngeren Handschriften findet, ist als nicht ursprünglich zu verwerfen.
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