Betrachtungen über das Lied der Lieder

Kapitel 1

Nichts ist, was die Menschen dieser Welt mehr fürchten als Einsamkeit und eine Zeit des Nachdenkens oder der inneren Einkehr. Sie sind lieber mit Arbeit überladen, als dass sie Muße für stille Betrachtungen haben möchten. Das unruhige Gewissen erhebt zu solchen Zeiten seine Stimme, und diese sucht man mit der bequemen Ausflucht zu betäuben, dass man Pflichten zu erfüllen und keine Zeit für dergleichen Überlegungen habe. Sünden, viele Sünden sind da, und der Gedanke an Gott, als den Richter der Sünde ist schrecklich. Der Zustand der Seele ist derart, dass sie das Licht nicht ertragen kann, und darum liebt man die Finsternis. Man sucht und liebt das geschäftige, ruhelose Treiben des gegenwärtigen Zeitlaufs, um dadurch dem drückenden Gewicht der stillen Stunden zu entrinnen. Die Vergnügungen und Freuden der Welt dienen zu ihrer Zeit und an ihrem Platz dem gleichen Zweck.

So ist man eifrig besorgt, die Einsamkeit zu vermeiden und jede Gelegenheit zu ruhiger und ernster Betrachtung unmöglich zu machen. Den Interessen der Seele schenkt man keine Beachtung, keine Minute widmet man ihr, trotz ihres dringenden, tiefen Bedürfnisses. Der höhere und edlere Teil des Menschen wird gänzlich vernachlässigt und außerachtgelassen. Aber ach, „was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele einbüßt? Denn was wird ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele?“ (Mk 8,36.37).

So ist der Mensch, der Mensch ohne die Erkenntnis Gottes, ohne Erkenntnis über seinen Zustand als Sünder und über Jesus als den Heiland der Sünder. Doch wenden wir uns für einen Augenblick weg von dieser herzbetrübenden Szene, obgleich starke und doch zarte Bande uns immer wieder hineinziehen möchten, um solche, die wir lieben, aus ihr zu befreien und für Christus zu gewinnen. Lasst uns einen Geist stiller Betrachtung nähren in der lieblichen Einsamkeit der Absonderung der Seele von der Welt, da wo der Schauplatz von der Gegenwart des Heilandes erhellt wird und „das Lied der Lieder“ ertönt zu Seiner Ehre. Je weiter die Trennung von der Welt ist, soviel tiefer ist die Gemeinschaft, soviel reicher die Segnung. Es gilt, in Herz und Geist keine Sympathie mit der Welt zu haben, und obwohl wir in ihr sind, doch tatsächlich weit entfernt zu sein von ihrem Gewühl und ihren unheiligen Szenen. Eine gewaltige Kluft trennt die Gläubigen von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf. „Sie sind nicht von der Welt“, sagt Christus, „gleichwie ich nicht von der Welt bin.“ Die Stellung Christi in der Auferstehung ist die Beschreibung unserer Stellung, als in Ihm betrachtet. Die Stunden ruhigen, stillen Nachsinnens der Seele in Gemeinschaft mit der Person des erhöhten Herrn sind die lieblichsten Augenblicke in ihrer Geschichte. Man kann sie finden im Krankenzimmer, in ländlicher Stille oder selbst im Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens dieser Welt. Alles hängt von dem Zustand des Herzens ab. Allein zu sein, und doch nicht allein, wie gesegnet ist das.

Doch warum heißt das kostbare kleine Buch, mit dem wir uns beschäftigen, „das Lied der Lieder“? Eben weil es von Salomo, oder besser von Christus handelt, der zu Seiner Zeit König in Jerusalem sein wird in wahrer salomonischer Herrlichkeit. Nach demselben Grundsatz wird Er „König der Könige und Herr der Herren“ genannt. Ihm gebührt der Vorrang in allen Dingen. Es gibt viele liebliche Lieder in der Schrift. Mose, Mirjam und ihre Mägde, Debora und David, alle sangen in lieblicher Weise von der Güte des Herrn. Von Salomo selbst wird gesagt: „seiner Lieder waren tausend und fünf“ (1. Kön 5,12); aber nur dieses eine nennt er „das Lied der Lieder“. Es übertraf sie alle bei weitem. Es ist der melodische Gesang von Herzen, die mit heiliger Liebe erfüllt sind und die ihre höchste Freude finden an jenem vollen und freien Ausdruck der Liebe: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ O möchten wir fähig sein, zu allen Zeiten das Lied von der Liebe des Heilands zu singen, mit dem Herzen und auch mit dem Verstande.

„Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes“ (V. 2a). Welch eine reine und zugleich leidenschaftliche Zuneigung gibt sich in diesen Worten kund! Sie gleicht dem ungekünstelten, inbrünstigen Aufwallen der Liebe zwischen nahen Verwandten, wenn sie nach langer Trennung einander wieder begegnen. Das Herz ist so völlig von seinem Gegenstand eingenommen, dass Formen, Regeln und Umstände ganz und gar außerachtgelassen werden. Das selige Bewusstsein des Platzes, den sie in Seinem Herzen einnimmt, lässt die Braut alles andere vergessen. Wie wenige gibt es in dieser Welt, an die man sich so ohne jede Förmlichkeit und in solcher Liebe wenden könnte, und doch ist dies die Sprache eines erretteten Sünders zu seinem heiligen Erretter. Verstehst du sie, mein lieber Leser? Keine Zweifel, keine Befürchtungen sind in einem Herzen, das so zu dem göttlichen Bräutigam, dem verherrlichten Herrn Jesus droben reden kann. Viele halten es allerdings für Anmaßung, ein vollkommenes, nicht zweifelndes Vertrauen zu Seiner Gnade und Liebe zu haben, und wenn sie Ihm wirklich zu vertrauen wagen, so geschieht es mit vielen Zweifeln und Befürchtungen; und alles das, nachdem Er Seine Liebe zu verlorenen Sündern gleichsam in Buchstaben von Blut geschrieben hat. Was müssen solche denken von der Kühnheit der Braut? Dass sie sich selbst und ihren Platz vergessen habe? Ach nein, das Geheimnis ist: nachdem das Gewissen durch das eine Opfer von Jesus, der einst in Demut auf Erden wandelte, von aller Sünde gereinigt ist, fühlt sich das Herz jetzt frei und glücklich in der Gegenwart des auferstandenen und verherrlichten Christus. Und dies ist alles, was ein schuldiger Sünder braucht, um sich daheim und glücklich zu fühlen „in den Gemächern des Königs“ (V. 4); d. h. also das Blut Christi für das Gewissen, und die Person Christi für das Herz. Jede Segnung wird sich in diesen beiden Dingen eingeschlossen finden; und jeder Christ besitzt beides. - O Herr, hilf allen, dass sie es glauben!

In dem ganzen Hohenlied ist keine Rede von Sünde, von Vergebung oder Rechtfertigung. Warum nicht? Diese Fragen sind vorher geordnet worden, und das Herz genießt jetzt eine vollkommene Freiheit in der Gegenwart des Herrn. Alle jene Fragen werden geordnet, wenn der Sünder zum ersten Mal in Wahrheit zu Jesu Füßen niedersinkt, sie werden geordnet auf Grund des vollendeten Werkes des Erlösers; und sie können nie wieder erhoben werden, soweit Gott und der Glaube in Betracht kommen. Satan und der Unglaube unserer Herzen mögen versuchen, diese für ewig geordneten Fragen wieder anzuregen, aber alle solche Gedanken sollten, weil sie aus diesen bösen Quellen kommen, verurteilt werden. „Ich habe erkannt, dass alles, was Gott tut, für ewig sein wird: es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen“ (Pred 3,14). Deshalb ist das Herz, das diese Dinge kennt, frei und glücklich und fühlt sich daheim in der unmittelbaren Nähe des Herrn. „Er küsse mich mit den Küssen seines Mundes!“

Das Verlangen des Herzens geht nicht nach dem Bewusstsein der Vergebung, sondern nach einer unmittelbareren Offenbarung Seiner Liebe. Die Braut ist mit Ihm Selbst beschäftigt; nicht so sehr mit irgendeiner Seiner Eigenschaften oder mit einem besonderen Beweis Seiner Freundlichkeit gegen sie, sondern mit Ihm persönlich. Hat sie Ihn, so hat sie alle Seine Eigenschaften und Seine ganze Gütigkeit; darum: „Er küsse mich“. Sie denkt nicht daran, zu erklären, von wem sie so redet. Es erinnert uns das lebhaft an die liebende und ihres Herzensgegenstandes beraubte Maria, wenn sie sagt: „Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast.“ Er war der erste und der letzte in ihren Gedanken; niemand anders war in ihrem Herzen, von dem sie Ihn hätte unterscheiden müssen. Keiner war mit Ihm zu vergleichen. Nichts konnte ihr Herz befriedigen als die Person ihres Herrn, ob tot oder lebendig. Wunderbare Liebe! O dass Er auch einen solchen Platz in meinem und deinem Herzen hätte. Noch „über ein Kleines“, und Er wird ihn haben, und das für immer. O beschleunige den glücklichen Tag Deiner Ankunft, teurer Herr, Du, der Geliebte der Kirche, Deiner Braut! -

In der Heiligen Schrift ist der Kuss das Zeichen der Versöhnung, das Unterpfand des Friedens und der Ausdruck der Liebe. Es heißt von Jonathan und David, dass sie einander küssten und miteinander weinten, bis David über die Maßen weinte (1. Sam 20,41). Liebliches Bild von dem wahren David, der stets alle unsere Liebe übertrifft. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (Röm 5,20). Auch Joseph „küsste alle seine Brüder und weinte an ihnen, und danach redeten seine Brüder mit ihm“ (1. Mo 45,15). Und der Vater küsste den verlorenen Sohn, als dieser noch in seinen Lumpen war. Ist es deshalb zuviel von der Braut im Hohenlied (oder für den, der an Jesus glaubt), wenn sie nach einer solchen Kundgebung der Liebe des Herrn verlangt? Sicherlich nicht.

Wir sind überzeugt, dass der Wunsch nicht aus irgendeinem Zweifel hervorging, ob ihr Herr sie liebte, sondern weil sie sich danach sehnte, die Liebe offenbart zu sehen. Liebe kann nur durch Liebe befriedigt werden.

„Denn deine Liebe ist besser als Wein“ (V. 2b). Die Liebe Jesu wird allen Freuden der Erde vorgezogen. Der Wein ist das Sinnbild der irdischen Genüsse, der Freuden und des Wohllebens des Menschen. Aber was sind diese Dinge alle, selbst in ihrer bezauberndsten Gestalt, für eine Seele, die ihre Wonne an Jesu findet? Sie haben ihren Reiz für Herz und Auge verloren und würden nur als eine ermüdende und drückende Last gefühlt werden. Jesus Selbst ist die Freude des Herzens: „den ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebt; an welchen glaubend, obgleich ihr ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlockt“ (1. Pet 1,8).

Der Weinstock hat seine Wurzeln in der Erde. Der Nasiräer durfte, solange er unter seinem Gelübde war, „ von allem, was vom Weinstock bereitet wird, von den Kernen bis zur Hülse nicht essen“ (4. Mo 6,4). Er musste gänzlich abgesondert sein von den Vergnügungen der Welt für den Herrn. Jeder Gläubige ist heute ein Nasiräer Gottes, und er sollte seiner Berufung und Stellung treu sein. Aber er kann es nur, wenn er alle seine Freude und sein ganzes Genüge in der Liebe Jesu findet. Der Herr wartet jetzt, fern von den Freuden der Erde, auf den herrlichen Anbruch des tausendjährigen Reiches (vergl. Mt 26,29), wenn Er in Seinem wahren Melchisedek-Charakter erscheinen wird, um die siegreichen Scharen Israels, die Kinder Abrahams, mit dem Brot und Wein des Reiches zu erquicken (Vergl. 1. Mo 14). Auch wir sollten bis dahin geduldig warten, denn wir werden dann mit Ihm in himmlischer Herrlichkeit erscheinen. Der König in Jerusalem wird dann wieder mit Seinem irdischen Volk vereinigt sein, und alle Nationen werden sich weiden an der Freude und dem Glück Israels. Dann wird auch die Tochter Zion die Bedeutung der lange vorher, auf dem Hochzeitsfeste zu Kana, ausgesprochenen Worte verstehen: „Du hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt“ (Joh 2,10).

„Lieblich an Duft sind deine Salben, ein ausgegossenes Salböl ist dein Name; darum lieben dich die Jungfrauen“ (V. 3). Hier gibt uns die Braut eine Darstellung von Seinem Namen: „ein ausgegossenes Salböl ist dein Name“. Für ihr Herz ist er von lieblichem Wohlgeruch. Alle Seine Namen, Titel, Eigenschaften und Beziehungen sind überaus kostbar für sie. Sein Name ist Er Selbst; er drückt Seine Natur, Seine ausgezeichneten Eigenschaften und Tugenden aus. Sie weiß nicht, wie sie dem Reichtum Seiner Güte Ausdruck geben soll; deshalb sagt sie: „Dein Name ist ein ausgegossenes Salböl.“ Der Wohlgeruch Seines Salböls ist nicht auf sie allein beschränkt; ihre Gefährtinnen nehmen auch an dem Überfluss teil. Sie werden angezogen und erquickt durch die süßen Wohlgerüche Seines Namens. Glücklicher Gedanke! Es ist nicht ein verschlossenes, versiegeltes Salböl, sondern es ist „ausgegossen“. O welch eine Gemeinschaft gibt es in der Liebe Jesu. Stehe hier einen Augenblick still, meine Seele, und sinne nach über die Fülle des Namens Jesu: „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.“(Kol 2,9) Welch ein Mittelpunkt, welch eine Quelle ist dieser Name. Um ihn, als ihren einzigen Mittelpunkt, ist die Kirche Gottes jetzt gesammelt durch die lebendig machende Kraft und Einwohnung des Heiligen Geistes. „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ (Mt 18,20) Bald jedoch werden Himmel und Erde durch die Macht und Herrlichkeit dieses Namens miteinander verbunden werden. Das irdische Jerusalem und die Städte Judas mit den Nationen rings um sie her; das himmlische Jerusalem und die unzähligen Heerscharen der Engel, die allgemeine Versammlung und die Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln angeschrieben sind – alle, alle werden angezogen und vereinigt werden durch diesen einen teuren Namen. Der Vater hat es sich vorgesetzt (und es wird sicher und gewiss zustande kommen) „für die Verwaltung der Fülle der Zeiten (das 1000 jährige Reich) alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist, in ihm“ (Eph 1,10). Dann wird der Wohlgeruch Seines Namens von jedem Lüftchen weitergetragen werden, und alle Geschlechter und Zungen werden einstimmen in das Loblied:

„HERR, unser Herr, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde!“ (Ps 8,2).

Und wenn die 1000 Jahre des Segens und der Herrlichkeit vorüber sein werden, wenn Himmel und Erde entflohen und die Gerichte vollendet sind, wird dieser Name von seinem Wohlgeruch, seiner Kraft und Schönheit nichts eingebüßt haben. Er wird auch dann noch sein wie ein ausgegossenes Salböl, ja „ausgegossen“ für immer und ewig. Alle Seine Kleider duften von Myrrhe, Aloe und Kassia (Ps 45). Und während Zeitalter auf Zeitalter dahinrollen, werden die reichen und mannigfaltigen Gnaden Seiner Liebe dennoch ausgegossen bleiben in unendlicher Fülle; alle Hände werden träufeln von süßduftender Myrrhe, und die weiten, weiten Reiche des Segens werden erfüllt sein mit dem ewigen Wohlgeruch Seines heiligen Namens.

„Zieh mich: wir werden dir nachlaufen „ (V. 4a). Je mehr wir von Christus kennen, desto größer wird unser Verlangen sein, noch mehr von Ihm kennen zu lernen. Je näher wir Ihm sind, desto mehr werden wir wünschen, Ihm noch näher zu kommen. Wie Paulus sagt: „um ihn zu erkennen“ (Phil 3,10), und doch kannte Ihn niemand auf Erden so gut wie er. Und wieder: „damit ich Christus gewinne“, und doch war nie ein Heiliger seines Kampfpreises sicherer als Paulus. Obwohl er ein Gefangener zu Rom war und Mangel litt, konnte er in Wahrheit sagen: „Das Leben für mich ist Christus und das Sterben Gewinn“ (Phil 1,21). O welch eine reiche Erfahrung, welch ein ruhiges Vertrauen, welch eine tiefe, keine Grenzen kennende Freude strahlt aus seinem Briefe an die Philipper hervor!

Die Fülle der Segnungen, die es in Christus für uns gibt, ist so unendlich, dass, je mehr wir sie erfassen, wir umso mehr erkennen, wie wenig wir sie noch erfasst haben. Je mehr wir von der Wirklichkeit und Fülle Seiner Liebe schmecken, desto mehr werden wir imstande sein, in Wahrheit auszurufen, dass sie alle Erkenntnis übersteigt. Da sind Breiten und Längen und Tiefen und Höhen, die wir niemals erfassen und ergründen werden. Und die Freude, die in Seiner Gegenwart geschmeckt wird, ist eine solche Freude, dass das Herz, selbst indem es sie genießt, sich nach größerer Nähe sehnt, ja, dass es das Gefühl hat, als wenn es sich verhältnismäßig noch in einer gewissen Entfernung von Ihm befände.

Gerade aus den Worten der liebenden Braut: „Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen“, scheint hervorzugehen, dass ihr Verlangen nach der Nähe der Person des Herrn so groß war, dass sie, so nahe und teuer sie auch sein mochte, doch noch etwas wie eine Entfernung von Ihm wahrnahm. Darum der tiefe Wunsch ihres Herzens: „Ziehe mich“ – „O ziehe mich näher, inniger, Herr, zu Dir“! Wenn wir diesen Vers mit dem Inhalt des zweiten Verses vergleichen, so ist offenbar ein Wachstum in der Gnade zu erkennen, eine wachsende Erkenntnis Seiner Selbst. Ein größeres Verlangen nach innigerer Gemeinschaft gibt sich kund, ähnlich wie wir es in vielen Psalmen finden: „Gott, du bist mein Gott! Früh suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser... Meine Seele hängt an dir, es hält mich aufrecht deine Rechte“ (Ps 63). Die gesegnetste Gemeinschaft mit dem Herrn steht immer in Übereinstimmung mit dem heißesten Verlangen nach größerer Nähe zu Ihm. Kannst du das bestätigen, mein lieber Leser? Kennst du es aus eigener Erfahrung? Prüfe alle deine Worte und Wege vor dem Herrn und lass dein Urteil über sie ergehen; der Heilige Geist sagt uns, dass die Worte des Herrn reine Worte sind, geläutert in dem Schmelztiegel, „siebenmal“ gereinigt. Ach, wie oft sprechen und schreiben wir, ohne unsere Worte auch nur ein einziges Mal zu läutern!

Es besteht ein herrlicher Zusammenhang zwischen dem Ziehen des Herrn und unserem Nachlaufen. „Wir werden dir nachlaufen.“ Beachten wir sorgfältig die Worte: „dir nach“! In diesen Worten ist viel mehr enthalten, als man zu sagen vermöchte; sie sind von der größten Bedeutung. „Dir nach“, nicht unseren eigenen Meinungen nach, oder selbst den besten Menschen auf Erden nach, sondern „dir nach“. Wie es in dem herrlichen 16. Psalm heißt: „Ich habe den HERRN stets vor mich gestellt.“ Nicht nur zu gewissen Zeiten, sondern „stets“. O welch einen Pfad würden wir auf Erden wandeln, wenn das stets bei uns der Fall wäre! Wie abgesondert würde er von allem sein, was nicht Christus ist! Und sicherlich, wenn wir bitten: „Ziehe mich“, so sollten wir auch bereitwillig hinzufügen können, wie die Braut und ihre Gefährtinnen es tun: „wir wollen dir nachlaufen“.

Doch noch ein anderer köstlicher Gedanke ergibt sich aus dem Gegenstand unserer Betrachtung. Der, welcher zieht, geht voran. So geht der Herr vor Seinem Volk her in der Wüste, und sieht die Gefahren und begegnet ihnen, bevor die Seinigen zu ihnen gelangen. Viele Gefahren sind da, von denen wir durch Jesus befreit werden, ohne dass wir sie nur kennen lernen. „Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm“ (Joh 10,4). Der Feind mag uns auf dem Weg, den wir zu gehen gedachten, eine Schlinge gelegt haben; aber unser göttlicher Führer erkennt die Schlinge und führt uns einen anderen Weg, leitet uns nach einer anderen Richtung, und so sind wir der Schlinge, die uns hätte verhängnisvoll werden können, entgangen. Und dabei fühlen wir uns vielleicht getäuscht und sind unzufrieden, weil uns ein Hindernis das vorgenommene Ziel nicht erreichen ließ. – Anbetungswürdiger Herr! möchten wir doch allezeit und allein „dir nachlaufen“! -

„Der König hat mich in seine Gemächer geführt: wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein. Sie lieben dich in Aufrichtigkeit“ (V. 4 b). Hier haben wir das Resultat, die gesegneten Früchte des Ziehens und des Nachlaufens. Das Gebet war der Ausdruck bewusster Schwäche und Abhängigkeit, verbunden mit heiligem Fleiß. Die Jungfrauen sind rüstig gelaufen und haben das Ziel erreicht. Und nun finden wir sie in den Gemächern des Königs, gekrönt mit Freude und Fröhlichkeit. Aber vergessen wir es nie: es ist Gnade, die zieht, Gnade, die nachläuft; Gnade, die krönt; und dies alles fließt hervor aus dem endlosen Ozean der Liebe des Heilands. „Wir wollen deine Liebe preisen mehr als Wein.“ Jetzt gebraucht die Braut das Wort „preisen“. Sie hatte Seine Liebe schon vorher erkannt, aber sie erfreut sich ihrer jetzt mit wachsendem Interesse, sie preist sie in bewusstem Genuss. Sie ist von ihr umgeben wie von der Luft, ist ganz in sie eingeschlossen. „Der König hat mich in seine Gemächer geführt.“

Aber warum wird wohl Christus hier „der König“ genannt? Weil hier in prophetischer Weise von Seinen Beziehungen zu Israel nach dessen Wiederherstellung die Rede ist. Wenn es sich um die Rechte und Titel des Herrn handelt, so ist Er stets der König. Aber wird Er jemals der König der Kirche genannt? Nirgends in der ganzen Heiligen Schrift. Er ist ein König und aller Ehrerbietung würdig, aber die Schrift spricht von Ihm als dem Haupt Seines Leibes, der Kirche, und als dem König der Juden. Als solcher kam Er zuerst in Niedrigkeit und Gnade auf diese Erde herab und stellte Sich der Tochter Zion dar. Aber ach! sie wollte nichts von Ihm; Er wurde verachtet und verworfen, gekreuzigt und getötet. Aber Gott weckte Ihn auf aus den Toten und gab Ihm Herrlichkeit, wodurch Seine Rechte und Titel, nicht allein als König der Juden, sondern auch als Haupt Seines Leibes, der Kirche, und als Mittelpunkt aller zukünftigen Herrlichkeit, gewahrt wurden (vergI. Sach 9; Joh 12; Apg 2; Eph 1; Phil 2). Die Juden schrieen: „Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh 12,13) und fast im gleichen Atemzug: „Hinweg, hinweg! kreuzige ihn!“ Ach! so kurz ist die Dauer menschlicher Volkstümlichkeit. Die Juden machten auf diese Weise das Maß ihrer Sünden voll, und ihre Beziehungen zu Gott wurden abgebrochen. Der Messias wurde abgeschnitten, das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen, und für den Augenblick war im Blick auf das Reich alles dahin.

Dennoch wird das Wort des Herrn feststehen in Ewigkeit. Der Unglaube und die Sünde des Menschen können die Treue Gottes nicht aufheben. In dem durch Christus vollbrachten Erlösungswerk wurde die Grundlage gelegt für die spätere Wiederherstellung Israels in Gnaden, gemäß den unveränderlichen Ratschlüssen Gottes, und um die Kinder in den vollen Besitz und Genuss der Segnungen einzuführen, die den Vätern einst verheißen waren. „Denn ich sage, dass Christus ein Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen“ (Röm 15,8). Nichts könnte klarer und deutlicher sein als die prophetischen Erklärungen des Wortes Gottes bezüglich der zukünftigen Herrschaft des Herrn Jesus in Verbindung mit dem Thron Davids und dem ganzen Hause Israels. Sicher wird sich Seine Herrschaft und Herrlichkeit nicht auf die wiederhergestellten Stämme und das Land Israel beschränken; aber Jerusalem und die Städte Judas werden der irdische Mittelpunkt Seines Tausendjährigen Reiches sein, so wie das himmlische Jerusalem, die Stadt des lebendigen Gottes, den himmlischen Mittelpunkt der vielen Kreise Seiner himmlischen Herrlichkeit bilden wird (Heb 12,22–24).

Da wir einmal von „dem König“ reden, so lasst uns noch einen Augenblick bei den Prophezeiungen verweilen, die Ihn uns in diesem Charakter vor Augen stellen. „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Und man nennt seinen Namen: Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst. Die Mehrung der Herrschaft und der Friede werden kein Ende haben auf dem Throne Davids und über sein Königreich, um es zu befestigen und zu stützen durch Gericht und durch Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer des HERRN der Heerscharen wird dieses tun“ (Jes 9,5.6). Diese alte Prophezeiung, die der Eifer des HERRN der Heerscharen zu seiner Zeit voll und ganz erfüllen wird, wurde ihrem wesentlichen Inhalt nach durch den Engel Gabriel wiederholt, als er mit der Botschaft zu Maria kam: „Du wirst einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“ (Lk 1,31–33). Schier unzählig sind die Prophezeiungen, die diesen Gegenstand behandeln, aber ihrer vollen, endgültigen Erfüllung noch harren.

Aber war nicht der HERR in alten Zeiten schon König in Jerusalem? Sicher und gewiss. Von der Zeit der Befreiung Israels aus Ägypten bis zu den Tagen Samuels war der HERR Israels König. Dann aber verlangte das Volk einen König gleich den übrigen Nationen, die um sie her wohnten, und es verwarf den Herrn als seinen König. Gott entsprach ihrem Verlangen und gab ihnen einen König; aber die Sache endete, wie alles andere bei Israel unter dem Gesetz, in vollständigem Misslingen. Die ganze Geschichte Israels, von den Ufern des Roten Meeres bis zum Kreuz auf Golgatha oder bis zur Steinigung des Stephanus, ist nichts anderes als ein beständiges Misslingen und Fehlschlagen, und zwar in jeder Beziehung und unter allen Umständen. Mögen wir Israel unter dem Gesetz betrachten, oder als den Weinstock, den Gott aus Ägypten in das Land Kanaan verpflanzte, oder als die verehelichte Frau und als Gottes Zeugnis auf der Erde – wir finden nicht allein ein beständiges Fehlen, sondern das Volk wurde auch unverbesserlich in seinen Sünden. Darum kam schließlich Gottes gerechtes Gericht über sie. Ihre geliebte Stadt Jerusalem wurde von Heeren umlagert, ihr Tempel und die heilige Stadt dem Erdboden gleichgemacht, und die, die der Schärfe des Schwertes entrannen, wurden in alle vier Winde zerstreut.

Von jenem Tage an bis auf unsere Zeit ist der Zustand Israels „öde und verlassen“. Es wird aber nicht immer so bleiben. Wir müssen stets im Auge behalten, dass ein großer Unterschied besteht zwischen den Regierungswegen Gottes mit Seinem Volk und Seinen Wegen in Gnade. Unter der gerechten Regierung Gottes haben die Juden, infolge ihrer Sünden und ihrer Unbußfertigkeit, bisher unter Seiner züchtigenden Hand gestanden und sie stehen noch heute darunter; aber die Gnade und Liebe Seines Herzens zu ihnen bleiben unveränderlich dieselben. Beachten wir die Bedingungen des Bündnisses: „Und ich werde die Nachkommen Davids deswegen demütigen, doch nicht für immer“ (1. Kön 11,39). Das ist ein Grundsatz von außerordentlicher Bedeutung, nicht nur im Blick auf Israel und die Kirche, sondern auch was den einzelnen Gläubigen betrifft. Auf diesen großen Grundsatz bezieht sich der Apostel, wenn er von Israels Verwerfung und Wiederherstellung redet: „Sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben ...; hinsichtlich der Auswahl aber sind sie Geliebte, um der Väter willen. Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,20.28–29).

Der gegenwärtige Zustand und die zukünftige Wiederherstellung der Juden werden auch in rührender Weise durch den Propheten Hosea beschrieben: „Denn die Kinder Israel werden viele Tage ohne König bleiben und ohne Fürsten, und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule, und ohne Ephod und Teraphim. Danach werden die Kinder Israel umkehren und den HERRN, ihren Gott, und David, ihren König, suchen; und sie werden sich zitternd zu dem HERRN wenden und zu seiner Güte am Ende der Tage“ (Hos 3,4.5). Herrlicher Gedanke! Sie werden nochmals „den HERRN, ihren Gott, und David, ihren König, suchen“. Und was ist das Hohelied Salomos anders als die immer von neuem wiederholte Zusicherung an den Überrest, dass die Zuneigung des Königs zu ihm unveränderlich sei? Der gottesfürchtige Überrest in den letzten Tagen kann Seine Liebe in diesem Lied lesen – die unermüdliche, nichts vorwerfende, treu ausharrende Liebe „des HERRN, ihres Gottes, und Davids, ihres Königs“. In der Vergangenheit haben sie alle das Gesetz gebrochen; in der Zukunft werden sie alle wiederhergestellt werden auf Grund der Gnade. In der Vergangenheit standen sie auf dem Boden eines mit Bedingungen verknüpften Bündnisses; in der Zukunft werden sie auf dem Boden der bedingungslosen Gnade Gottes stehen. Der Wert des Opfers ihres einst verworfenen Messias und die Fülle der Liebe Gottes werden das Maß ihrer Segnungen bilden. Wer aber könnte ermessen, was unermesslich ist? Und so wird die Liebe des Königs zu Seiner jüdischen Braut unermesslich sein, ohne Schranken!

Das Buch Ruth gibt uns in sehr einfacher und wahrhaft rührender Weise eine bildliche Erläuterung von dem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustand Israels. Aus dem Eheleben Noomis blieb kein Same übrig. „Nennt mich nicht Noomi (Lieblichkeit)“, sagt sie, „sondern nennt mich Mara (Bitterkeit), denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht.“ (Ruth 1,20) Ihr Mann Elimelech (was bedeutet: mein Gott ist König) und ihre beiden Söhne waren im Lande Moab gestorben. Noomi war jetzt eine Witwe, einsam, ohne Nachkommen und ohne alle Hilfsquellen. – „Nennt mich Mara ... Voll bin ich gegangen, und leer hat mich der HERR zurückkehren lassen.“ (Ruth 1,21) Welch ein treffendes Bild von der jüdischen Nation, die Gott als ihren König und Ehemann verloren hat und nun einsam und eine Witwe ist! Aber ein schwacher Überrest in der Person der sanften und demütigen Ruth hängt Noomi an und sucht Schutz unter den Flügeln des Gottes Israels. „Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben!“ (Mt 5,5). Das Feld, das sie als eine arme Nachleserin betrat, wurde ihr Eigentum. Aber der nächste Anverwandte weigerte sich, das Erbteil zu lösen, wenn er zu gleicher Zeit Ruth zur Frau nehmen musste. Die Angelegenheit wurde in Gegenwart von zehn Zeugen geordnet (Kap. 4,1–12). Diese zehn Männer aus der Stadt mögen vorbildlich an die zehn Gebote erinnern, welche gegeben waren, bevor Christus kam; aber es gab keine Frucht für Gott unter dem Gesetz (Vergl. Röm 7,1–4).

Boas (was bedeutet: in ihm ist Stärke) nimmt sich jetzt mit ganzem Herzen der Sache des schwachen Überrestes von Elimelechs Haus an. Er ist ein Vorbild des auferstandenen Christus, der als „Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden … ist durch Toten-Auferstehung“ (Röm 1,1–4). Was dieses Gemälde so überaus schön macht, ist der Umstand, dass Ruth keine unmittelbaren Ansprüche an Boas hatte. Er war nicht der nächste Verwandte; darum war sein Tun gänzlich Gnade. Israel sowohl als auch die Heiden können das Erbteil nur besitzen aus reiner Gnade. „Und Ruth gebar einen Sohn. . .; und Noomi nahm das Kind und legte es auf ihren Schoß und wurde seine Wärterin. Und die Nachbarinnen gaben ihm einen Namen, indem sie sprachen: Ein Sohn ist der Noomi geboren“ (Ruth 4,13.16.17). Rührende Szene! Liebliche Gnade! Das Herz der Witwe wird froh gemacht und singt wie in den Tagen ihrer Jugend. Die Einsame ist sozusagen die Mutter von Kindern geworden. Der beraubte Schoß ist wieder mit einem lebenden Erben gesegnet. Alles ist Freude. So haben wir hier ein überaus liebliches Vorbild von der künftigen vollständigen Wiederherstellung Israels zu Ehren, Herrlichkeit und Würden im Lande. Der wahre Boas wird über kurz oder lang die Sache des gottesfürchtigen Überrestes in Seine Hand nehmen und Israel im Land wieder aufrichten auf einem ganz und gar neuen Boden.

Dieser Wahrheit begegnen wir in zahlreichen anderen Stellen der Heiligen Schrift. Z. B. in Jes 62,2–4: „Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit sehen, und alle Könige deine Herrlichkeit; und du wirst mit einem neuen Namen genannt werden, den der Mund des HERRN bestimmen wird. Und du wirst eine prachtvolle Krone sein in der Hand des HERRN und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Nicht mehr wird man dich „Verlassene“ nennen, und dein Land nicht mehr „Wüste“ nennen; sondern man wird dich nennen: „Mein Gefallen an ihr“, und dein Land: „Vermählte“; denn der HERR wird Gefallen an dir haben, und dein Land wird vermählt werden.“ Und in Hos 2,16–22: „Darum siehe, ich werde sie locken und sie in die Wüste führen, und ihr zum Herzen reden; und ich werde ihr von dort aus ihre Weinberge geben und das Tal Achor zu einer Tür der Hoffnung. Und sie wird daselbst singen wie in den Tagen ihrer Jugend und wie an dem Tag, als sie aus dem Land Ägypten heraufzog... Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue; und du wirst den HERRN erkennen.“ O wunderbare, schrankenlose Gnade! Es ist die Gnade Gottes in Christus Jesus gegenüber Seinem widerspenstigen, halsstarrigen Volk, ja Seine Gnade gegenüber dem größten der Sünder. Die Liebe ist ihre Quelle; die Gnade strömt hervor; der Verlorene ist gefunden. Die Liebe bleibt sich immer gleich. Der Herr liebt Israel, Er liebt die Kirche, Er liebt den einzelnen Gläubigen. Jede Seele, die sich zu Ihm ziehen lässt, wird von Ihm geliebt mit einer vollkommenen Liebe. Und wenn wir auch von Herzen Ihn lieben und uns Seiner erfreuen, so liegen doch die tiefere Liebe und Freude auf Seiner Seite. O grenzenlose Liebe, unermessliche Gnade, himmlische Freude, ewige Wonne! „Der König hat mich in seine Gemächer geführt; wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein“ (V. 4).

„Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos. Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat; die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“ (V. 5.6). Die Braut hat in den vorhergehenden Versen von der Liebe, dem Namen und den Gemächern des Königs gesprochen und jetzt, aufmerksam gemacht durch irgend ein Ereignis, erinnert sie sich daran, was sie selbst ist, und legt ein offenes Geständnis ab. Zu gleicher Zeit aber versichert sie mit ebenso freudigem Herzen, welchen Wert sie in Seinen Augen hat. Die Erkenntnis dieser Wahrheit tut uns zu allen Zeiten Not, wenn wir innerlich im Gleichgewicht bleiben wollen. Je gründlicher wir erkennen, dass das Fleisch wertlos ist, soviel mehr werden wir den Wert Christi zu schätzen wissen, und soviel besser werden wir auch das Werk des Heiligen Geistes verstehen. Wenn es keine ausgemachte Wirklichkeit in unserer Seele ist, dass die menschliche Natur gänzlich verderbt ist, so wird in unseren Erfahrungen bezüglich der eitlen Einbildungen des Fleisches und der göttlichen Wirkungen des Geistes stete Verwirrung herrschen.

In unserer alten Natur ist nichts Gutes zu finden. Der Apostel Paulus, ein im göttlichen Leben wohl am meisten Vorgeschrittener, hat gesagt: „In mir, das ist in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes.“ Wie schmettert dies alle eitlen Einbildungen zu Boden. „Nichts Gutes!“ Kann denn die Natur nicht verbessert werden durch fleißiges Beten und stete Wachsamkeit? Nein, sie ist ganz und gar unverbesserlich. Dieses Urteil hat schon vor langer, langer Zeit durch den Gott der Wahrheit seine Bestätigung erhalten: „Und der HERR sah, dass die Bosheit des Menschen groß war auf der Erde, und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag ... Und Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen, denn die Erde ist voll Gewalttat durch sie; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde“ (1. Mo 6,5–13). Was also ist das Ende oder das Ergebnis alles Fleisches? Es ist „böse“, „nur böse“ und „böse den ganzen Tag“. Das ist eine deutliche Sprache. Das Fleisch ist böse ohne irgendetwas Gutes, böse ohne Aufhören; und beachten wir, dass das von allem Fleisch gesagt wird. Alle sind eingeschlossen. Wohl mögen wir in einigen Menschen die Natur verfeinert, ausgebildet und veredelt finden, während andere ungeschliffen und roh sind; aber in beiden Klassen ist es die gleiche fleischliche Natur. Eine Stange hartes, unbiegsames Eisen kann wohl so ausgereckt oder breitgeschlagen werden, dass sie ganz biegsam wird; aber es ist und bleibt stets dasselbe Eisen.

Doch zugegeben, dass alles das wahr ist, warum tut es uns so Not, diese Wahrheit zu erkennen? Weil wir nur dann imstande sind, zwischen Fleisch und Geist zu unterscheiden und zu wissen, von welchem dieser beiden ein Gedanke oder eine Neigung kommen mag. Es ist überaus wichtig zu wissen, dass beide, Fleisch und Geist, in uns sind; das Fleisch unverbesserlich böse, der Geist unvermischt gut. Endlose Verwirrung und Sorgen, und in manchen Fällen tiefe Niedergeschlagenheit, sind die unglücklichen Resultate, wenn wir nicht wissen und bedenken, dass beide Naturen in dem Gläubigen sind. Nichts Gutes irgendwelcher Art kann aus unserer fleischlichen Natur hervorkommen. Nehmen wir an, wir begegnen einer Person, die über ihren Seelenzustand in Wahrheit tief bekümmert ist und aufrichtig danach verlangt, Christus und die Erlösung kennen zu lernen. Es steht außer Frage, dass der Heilige Geist in dieser Seele wirkt. Ein solches aufrichtiges Verlangen nach Christus ist gut und kann nicht aus einer Natur entspringen, die sowohl Gott als auch Christus hasst und die WeIt mehr liebt als den Himmel. Jene Seele mag noch in großer Not sein, und voller Zweifel und Befürchtungen bezüglich des Ausgangs, ja, sie mag selbst jeden Trost abweisen; aber in Wirklichkeit ist schon ein göttliches Werk in ihr geschehen. Sie hat dem Zeugnis Gottes bereits geglaubt, und sobald sie dahin kommt, von sich ab auf Christus zu blicken, wird sie sich freuen. Das gute Werk hatte in dem verlorenen Sohn schon begonnen, als er zu sich selbst sagte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Der Geist Gottes wird jedes Verlangen, das Er erzeugt hat, auch völlig befriedigen. Christus Selbst ist die vollkommene Antwort auf jedes Verlangen des Herzens.

Wir lernen aus der Heiligen Schrift drei Punkte von täglicher praktischer Bedeutung, nämlich: das Fleisch widersteht dem Geist, Satan widersteht Christus, und die Welt widersteht dem Vater (Gal 5; 1. Mo 3; 1. Joh 2). Fleisch, Satan und Welt – das sind unsere drei großen Feinde; und deshalb ist es so überaus wichtig zu wissen, auf wessen Seite wir stehen. Zum Beispiel: anstatt mich mit der Frage zu beunruhigen, wo die Welt anfängt und wo sie aufhört in dem, was man Weltlichkeit nennt, habe ich einfach zu fragen: „Ist es aus dem Vater?“ In Hunderten von Fällen wird es unmöglich sein zu sagen, wo die Weltlichkeit anfängt und wo sie endet, wenn man auf die Sache selbst blickt. Es fällt uns aber nicht schwer zu entscheiden, ob es „aus dem Vater“ ist. Und wenn wir finden, dass es nicht aus dem Vater ist, so ist die Frage entschieden; es muss dann von der Welt sein. Es gibt in dieser Beziehung keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden. Die gleiche Regel gilt für die beiden anderen Feinde. Was nicht vom Geist ist, ist aus dem Fleisch, und was nicht von Christus ist, ist vom Satan.

Aber der Leser möchte vielleicht fragen: denkt die Braut im Hohenlied wohl an diese Dinge, wenn sie sagt: „Ich bin schwarz, aber anmutig“? Nein, in keinem Fall, da die jüdischen Erfahrungen stets einen mehr äußerlichen, zeitlichen und vorbildlichen Charakter tragen. Kehren wir deshalb nach dieser Abschweifung in praktische Einzelheiten zu unserem Text zurück. Die Schwärze, von der die Braut spricht, ist äußerlich, eine Verdunkelung der Hautfarbe – sie ist sonnenverbrannt; das Warnungswort des Propheten ist an ihr in Erfüllung gegangen: „Statt der Schönheit wird ein Brandmal sein“ (Jes 3,24). Und deswegen empfindet sie tief die neugierigen Blicke der Töchter Jerusalems, „Sehet mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat.“ Es gab eine Zeit, wo die Tochter Zion schön und herrlich war, ein Ruhm auf der ganzen Erde. „Und dein Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit; denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, HERR“ (Hes 16,14). Aber wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue ist sie zu dem traurigen Zustand einer armen, sonnverbrannten Sklavin herabgesunken. Der Prophet Jeremia beschreibt ebenfalls in seinen „Klageliedern“ über die Versunkenheit Jerusalems in der rührendsten Weise, was Jerusalem früher war, und auch was es durch Trübsal und Bedrängnis geworden ist. „Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie am Leib als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein, ist dürr geworden wie Holz“ (Klgl 4,7.8). Wohl mochte der Prophet in der Bitterkeit seiner Seele ausrufen: „Wie wurde verdunkelt das Gold, verändert das gute, feine Gold!“ (V. 1). Ach, mein Leser, wenn das die schrecklich bösen, bitteren und schmerzlichen Früchte der Sünde schon in dieser Welt sind, während „die Barmherzigkeit sich rühmt wider das Gericht“, was müssen sie erst sein in der zukünftigen Welt, wo alle Hoffnung zu Ende ist und Verzweiflung sich jeder schuldigen Seele bemächtigt. Kannst du zum Kreuz zurückblicken und dort deine Sünden, alle deine Sünden gerichtet sehen, hinweggetan und in dem Grab ewiger Vergessenheit versunken? Gott und der Glaube allein kennen die Kraft jenes Kreuzes und rühmen seine ewige Wirksamkeit. Aber wenn du geglaubt hast und dich des Kreuzes rühmen kannst, so richte jetzt alles Böse in deinem Herzen und deinen Wegen schonungs- und rückhaltlos, in dem Bewusstsein, dass Christus einst dafür gerichtet worden ist. Das, was Christus am Kreuz zugerechnet wurde, wird dir nicht mehr zugerechnet werden. „Glückselig der Mensch, dem der HERR die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist!“ (Ps 32).

Wenn ich sehe, dass die Sünde, über die ich traurig bin, durch Jesus getragen worden ist, und dass Er sie für immer hinweggetan hat durch das Opfer Seiner Selbst, so verschwindet aller Trug. Ich habe kein Verlangen mehr, meine Sünde zu verbergen, zu verkleinern oder zu entschuldigen. Sie ist hinweggetan auf dem Kreuz und ist nun vergeben kraft des Erlösungswerks. Angesichts einer solchen Liebe und Güte verschwindet alle Furcht. Ich bin frei und offenherzig, und ich kann nur den Herrn preisen für die grenzenlose Gnade, die Er mir bewiesen hat.

Das Wort „schwarz“ wird in der Schrift vielfach als bezeichnend für Trübsal, Schmerz und Verfolgung gebraucht. „Meine Haut“, sagt Hiob, „ist schwarz geworden und löst sich von mir ab, und mein Gebein ist brennend vor Glut“ (Kap. 30,30). Es ist in besonderer Weise so mit dem ungehorsamen Israel. Hier jedoch wird das Bekenntnis in lieblicher Weise mit dem Glauben an Christus verbunden und wird so (in moralischer Beziehung) der wahre Ausdruck aller Gläubigen. „Ich bin schwarz, aber anmutig.“ In mir selbst schwarz wie die Sünde, aber in Christus weißer als Schnee.

So wird die Sprache des gottesfürchtigen Überrestes in den letzten Tagen lauten, wenn er durch die ganze Tiefe der Trübsale Jakobs hindurchgegangen sein wird; wahrlich, er wird schwer geschlagen sein von der Gluthitze „der großen Drangsal“. Nicht allein werden die gläubigen Israeliten jener Tage von dem Antichristen, dem großen Bedränger, verfolgt werden, sondern sogar ihre eigenen Brüder nach dem Fleisch werden sich gegen sie wenden. „Hört das Wort des HERRN, die ihr zittert vor seinem Wort! Es sagen eure Brüder, die euch hassen, die euch verstoßen um meines Namens willen: Der HERR erzeige sich herrlich, dass wir eure Freude sehen mögen! Aber sie werden beschämt werden“ (Jes 66,5).

Daran denkt, wie es mir scheint, die nunmehr freudige Braut, wenn sie sagt: „Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge.“ Gleich einer zweiten Ruth werden die Weinberge, in denen sie gezwungen wurde zu arbeiten, ihr Eigentum. Und glücklich in der Liebe ihres großen Befreiers und reichen Herrn, kann sie jetzt freimütig von dem reden, was sie durchgemacht hat, und was sie noch immer in ihren eigenen Augen ist: „schwarz wie die Zelte Kedars, anmutig wie die Zeltbehänge Salomos.“

Die Söhne Ismaels benutzen, wie man sagt, die rauen, zottigen Felle ihrer schwarzen Ziegen zur äußeren Bedeckung ihrer Zelte, so dass diese für das Auge des Wüsten-Reisenden in den blendenden Strahlen der Sonne ein tiefschwarzes Aussehen haben. Und sicherlich, wenn der Mensch in seinem besten Zustand unter die unendlich helleren Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit gestellt würde, so würde er noch viel schwärzer erscheinen als die Zelte der wilden Araber. Selbst von einer brennenden Lampe ist, wie jemand gesagt hat, in den hellen Sonnenstrahlen nicht viel mehr zu sehen als der schwarze Docht. Aber o glücklicher Gedanke! wenn auch das Gefühl unserer eigenen Unwürdigkeit uns noch besorgt machen sollte, so macht es unserem Herrn doch keine Sorgen mehr. Er hat unsere Unwürdigkeit ganz und für immer aus Seinen Augen entfernt. Und das Auge des Glaubens sieht, wie Er sieht. Das Urteil Gottes und das Urteil des Glaubens sind stets gleich. „Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben“ (Lk 7,47). „Das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7).

Die „Töchter Jerusalems“, die hier angeführt werden, sind ohne Zweifel unterschieden von der Braut, obgleich sie in naher Beziehung zu ihr stehen, wie wir dies aus der wichtigen Stellung entnehmen können, die sie in dieser herrlicher Szene haben. Wenn die Braut die geliebte Stadt Jerusalem vorstellt, den irdischen Sitz des großen Königs, so dürften die Töchter Jerusalems wohl die Städte Judas repräsentieren. Daraus können wir uns auch erklären, warum sie an so manchen Stellen auf den Schauplatz treten, obwohl sie niemals in der Wertschätzung des Königs die Stelle der Braut einnehmen. Nach dem Wort des Herrn muss Jerusalem immer den Vorrang haben. „Und nun habe ich dieses Haus erwählt und geheiligt, dass mein Name dort sei in Ewigkeit; und meine Augen und mein Herz sollen dort sein alle Tage“ (2. Chr 7,16).

„Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?“ (V. 7). Eine herrliche Veränderung hat stattgefunden in dem, was die Braut beschäftigt. Der Bräutigam steht vor ihren Blicken und füllt ihr ganzes Herz aus. Das eigene Ich ist aus dem Auge verloren. Welch eine Gnade! Es ist weder das schwarze Ich, noch das liebliche Ich, mit dem sie beschäftigt ist. Wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind, ist das Resultat immer unglücklich. Unzählige Schwierigkeiten und Sorgen entstehen, sobald sich der Blick nach innen richtet, anstatt nach außen auf Christus.

Drei Dinge sind in diesem schönen Vers unserer besonderen Betrachtung wert:

1. Die aufrichtige Zuneigung des Herzens der Braut. Sie sagt nicht: „Du, den meine Seele“ lieben sollte, oder zu lieben begehrt, sondern: „Du, den meine Seele liebt „. Eine helle Flamme der Liebe zu der Person ihres Herrn und Erlösers brennt in ihrem Herzen. Sie liebt Ihn aufrichtig und innig. „Sage mir an, du, den meine Seele liebt“. Das ist ein bewusstes Nahesein: „mir“ – „du“. Welch ein gesegneter Zustand für eine Seele. Kennst auch du etwas davon, mein lieber Leser? Ach, wie oft tritt etwas zwischen die Seele und den Herrn, verhindert diese innige Gemeinschaft und stört den seligen Genuss dieser Nähe! Aber Gott sei gepriesen, der Tag ist nahe, an dem diese beiden Augen den König in Seiner Herrlichkeit schauen werden. Dann wird dieses kalte, träge Herz ganz hingerissen sein von Seiner Schönheit und für immer brennen mit einer reinen Flamme vollkommener Liebe für Ihn allein.

2. Die Braut verlangt Erquickung und Nahrung unmittelbar von Ihm Selbst. „Sage mir an, ... wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag?“ Sie geht nicht zu den Hirten Israels, die mehr die Wolle als die Schafe liebten, sondern zu dem Erzhirten selbst. Sie war zu Ihm als dem König gebracht worden, jetzt aber wendet sie sich an Ihn als den Hirten. Wie David vor alters, so ist auch Er der königliche Hirte; und o, wie gnädig, liebevoll und zärtlich wird Er noch einmal die jetzt überallhin zerstreuten Schafe Israels sammeln! Nichts könnte die Gnade übertreffen, die sich in den Versen kundgibt: „Denn so spricht der Herr, HERR: Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen Schafen fragen und mich ihrer annehmen. Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt an dem Tag, da er unter seinen zerstreuten Schafen ist, so werde ich mich meiner Schafe annehmen und werde sie erretten aus allen Orten, wohin sie zerstreut worden sind am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den Völkern und sie aus den Ländern sammeln und sie in ihr Land bringen; und ich werde sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Wohnplätzen des Landes. Auf guter Weide werde ich sie weiden, und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein; dort, auf den Bergen Israels, werden sie auf gutem Weideplatz lagern und fette Weide beweiden. Ich will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr, HERR“ (Hes 34,11–15).

3. Ihr Herz sehnt sich nach der Mittagsruhe Seiner hochbegünstigten Herde. „Sage mir an, ... wo lässt du lagern am Mittag?“ Persönliche Gemeinschaft, geistliche Speise und friedliche Ruhe sind die reichen Segnungen, nach denen ihre Seele jetzt inbrünstig verlangt. Ermüdet von dem fruchtlosen Suchen nach Ruhe und Erquickung fern von Gott, sehnt sie sich nach den grünen Weiden und den stillen Wassern Seiner Liebe und Gnade. Die, welche selbst einmal auf den finsteren Bergen umhergeirrt sind, unerfreut durch das Licht des Antlitzes Gottes, verstehen die schreckliche Dürre in ihrer Seele. Wenn die Seele aber vollständig und glücklich ist, schmecken die zarten Triebe der Weide süßer als je zuvor. Nachdem die Braut einmal den Segen der Gemeinschaft mit Gott geschmeckt hat, kennt sie nur noch das eine Verlangen, dass dieser Segen wachsen und nicht unterbrochen sein möge.

Der Gedanke, von anderen als unaufrichtig beargwöhnt zu werden, beunruhigt sie. „Denn warum“, sagt sie, „sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?“ Wer diese Genossen sind, dürfte schwer zu bestimmen sein; vielleicht die Unterhirten, die ihre Lage nicht so verstehen und beurteilen können wie der Haupthirte Selbst. Er kennt ihr Herz, und sie kann dem Seinigen vertrauen. Der Ausdruck „Verschleierte“ scheint den Gedanken an eine Beargwöhnung zu enthalten (Vergl. 1. Mo 38,15). Das ist sehr schmerzlich für ein aufrichtiges, ehrliches Gemüt, obwohl es nicht ungewöhnlich ist. Viele, die Hirten der Herde Gottes zu sein bekennen, verstehen nur sehr wenig von dem Pfad einer Seele, die mit dem Herrn wandelt, frei von allen Vorschriften und Regeln der Menschen,- die nur das Verlangen hat, dem Herrn zu gefallen, mag sie auch das Missfallen aller anderen auf sich ziehen. Es gibt eine Energie der Liebe, die sich über alle menschlichen Einrichtungen erhebt und eine unmittelbare (nicht mittelbare) Gemeinschaft mit dem Herrn unterhält; eine Energie, die nicht zufrieden ist mit der geläufigen Beobachtung menschlicher Formen. Eine solche Seele wird sehr wahrscheinlich missverstanden und missdeutet werden von denen, die sich in der mehr ausgetretenen Spur alltäglicher Religiosität bewegen; gleich Hanna, der Mutter Samuels, die mit einer innerlich geistlichen Energie betete, die selbst von Eli, dem Priester Gottes, nicht verstanden wurde. Aber der Herr kennt die Beweggründe des Herzens und die Quelle dieser Energie.

Doch gerade in dem Augenblick, da die Geliebte in ihrer Seele leidet von dem niedrigen Argwohn anderer, erscheint der Geliebte ihr zum Trost. Dies ist das erste Mal im Hohenlied, dass wir die Stimme des Bräutigams vernehmen. Und ach! welch eine Huld und Gnade strömen der fragenden Braut entgegen! Welche Worte fließen von Seinen Lippen! „Du Schönste unter den Frauen“, so lautet die erste Äußerung Seines Herzens. Wahrlich, das ist genug, um auch die tiefste Bitterkeit der Seele zu verbannen.

Sie mochte bekümmert gewesen sein über ihre äußere Erscheinung und über die unwürdigen Gedanken anderer; aber eine solche Zusicherung Seiner Liebe und Wertschätzung ist hinreichend, um alle ihre Kümmernisse zu verscheuchen und ihr Herz mit überströmender Freude zu erfüllen. Sie hatte auf sich selbst geblickt, auf das, was sie in sich selbst ist: „schwarz wie die Zelte Kedars“, eine sonnenverbrannte Sklavin, aber Er versichert ihr, dass Er sie nicht allein für schön und anmutig hält, sondern für die Schönste unter den Schönen.

„Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten“ (V. 8). Die Antwort des Bräutigams auf die Frage der Braut in Vers 7: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag?“ wird bereitwillig und deutlich erteilt, aber auch nichts mehr als das. Kein Beweis des Beifalls bezüglich der Fragen wird gegeben. Und doch sind es ohne Zweifel höchst wichtige und bedeutungsvolle Fragen.

Warum das? Ist der Geliebte nicht erfreut, solche Fragen aus dem Mund Seiner Geliebten zu vernehmen? Er sagt es nicht, so wichtig die Fragen auch.sein mögen. Er freut sich ihrer selbst und versichert sie Seines Wohlgefallens in den stärksten Ausdrücken: „du Schönste unter den Frauen!“ Seine Liebe ist unveränderlich die gleiche. Köstlicher Gedanke! Nichts von dem, was sie tut, nichts von dem, was andere über sie sagen, kann je die Liebe Seines Herzens zu Seiner Braut verändern, obwohl leider vieles von ihr gesagt und getan wird, was Er nicht billigen kann. Der Gläubige ist persönlich vollkommen in Christus, vollkommen in den Augen Gottes. Er ist „gerechtfertigt von allem“ (Apg 13,38.39); praktisch aber ist er voller Mängel.

Im vorliegenden Fall ist die Anrede des Bräutigams an die Braut und Seine Antwort auf ihre Fragen von einem anderen Geist durchweht. Woher mag das kommen? frage ich nochmals. Wünschen wir nicht die Gedanken des Meisters zu kennen? O wie kostbar ist ein heller Strahl des Lichts des Heiligen Geistes auf die geheiligten Urkunden! Dann werden wir nicht nur den Buchstaben der Schrift verstehen, sondern auch die Gedanken und Gefühle des Herzens, aus dem sie hervorgeflossen ist. Lernen wir denn, dass einem Beifall in der Heiligen Schrift niemals Ausdruck gegeben wird, es sei denn im Zusammenhang mit Wahrheit und Heiligkeit. O wie oft bitten wir um das, was wir schon haben! Wie oft bitten wir um Licht und Leitung betreffs unseres Weges, während das Licht eines wolkenlosen Himmels den Pfad bestrahlt, den wir gehen sollten.

Gibt es nicht etwas in dem Wörtchen „wenn“, was anzudeuten scheint, dass der Herr von Seiner Braut erwartete, dass sie die Spuren der Herde kenne? Es ist, als ob Er sagte: „Gewiss, du kennst sie. Meine Gedanken über alle diese Fragen, als der Hirte Israels, liegen offen vor dir. Warum liest und verstehst du sie nicht?“ Der Herr tadelt nicht, doch Seine Liebe ist treu. So sagte Er einst auch zu Philippus: „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?“ Ach, wie zärtlich leitet Er! Wie sanft und gelinde sind selbst die Verweise Seiner Liebe!

Christliche Gemeinschaft, wie sie im Worte gelehrt wird, wird oft von jungen Bekehrten sehr wenig beachtet und geschätzt. Sie gehen im Allgemeinen den Weg, der am bequemsten und angenehmsten für sie ist, ohne dass ihr Gewissen jemals geübt wird über die Frage, ob sie auch den Spuren der Herde nachfolgen. Vielleicht sind sie auf dem richtigen Weg; aber sie haben nie unter Gebet das Wort Gottes untersucht, um sich über diesen Punkt Gewissheit zu verschaffen. Wäre die Kirche ungeteilt geblieben, wie sie es am Pfingsttag war, so würde eine solche Übung und Untersuchung nicht nötig sein. Da aber die bekennende Kirche sich in so viele Parteien und Teile gespalten hat, geziemt es jedem Kind Gottes, die Schrift zu untersuchen, um so den heiligen Willen Gottes zu erkennen und zu tun.

Es ist eine betrübende Erscheinung, dass viele der Geliebten des Herrn diesen Gegenstand für unwichtig und unwesentlich halten. Dieser Gedanke entstammt nimmermehr der Bibel. Es ist höchst verunehrend für Gott und nachteilig für die Seele. Die Prüfungen, durch die wir die Braut in den verschiedenen Abschnitten des Hohenliedes gehen sehen, scheinen ganz und gar daher zu kommen, dass sie die Unterweisungen vernachlässigt hat, die ihr hier gegeben werden. Wir sagen wohl nicht zu viel wenn wir behaupten, dass nach der Errettung der Seele die nächstwichtige Frage die der kirchlichen Gemeinschaft ist. Wenn ein Christ bezüglich dieses Punktes gleichgültig ist, wenn ihm nicht viel daran liegt, den Willen des Herrn in dieser Hinsicht zu kennen, so wird er sicher seinem eigenen Willen folgen. Und was muss dann die Folge sein? Gott wird Seiner Ehre beraubt, man setzt Sein Wort beiseite und folgt nicht dem Meister nach, der Geist wird betrübt, und die Seele verliert ihre Frische. Unter solchen Umständen nimmt die „erste Liebe“ bald ab, und Friede und Freude machen allerlei Befürchtungen und Zweifeln Platz.

Wir glauben, dass verhältnismäßig nur wenige Gläubige lange in göttlicher Frische ihre erste Liebe bewahren. Das lebendige Bewusstsein der „großen Liebe“ des Herrn zu uns, und wie Er allen unseren Bedürfnissen entgegengekommen ist, verliert sehr bald seine Kraft. Wir verlassen unsere erste Liebe. Und warum ist das so? Statt zuzunehmen in der Erkenntnis des Herrn und zu suchen, Ihm allein zu gefallen, wählen wir unseren eigenen Weg, folgen unserem eigenen Willen und betrüben dadurch den Heiligen Geist; und die Folge ist, dass Dunkelheit unsere Herzen beschleicht; das Licht ist sozusagen ausgeschlossen, und wir werden schwach und ungewiss bezüglich aller Dinge.

Der Herr spricht in Mt 11 von zwei Arten von Ruhe, worüber hier eine Bemerkung wohl am Platz sein mag. „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben“. Diese Ruhe ist die unmittelbare Gabe Seiner Liebe durch den Glauben an Ihn. Alle Gläubigen, ohne Ausnahme, besitzen diese Ruhe. Alle unsere mühsamen und fruchtlosen Anstrengungen nach Errettung hören auf, wenn wir zu Jesus kommen, und die schwere Last der Sünden, unter der wir seufzten, wird für immer weggenommen. Aber der Herr sagt weiter: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen.“ Ruhe des Gewissens gibt Er durch die Vergebung unserer Sünden, wenn wir an Ihn glauben; Ruhe des Herzens finden wir im Gehorsam und in der Unterwürfigkeit unter Seinen Willen. „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir ... und ihr werdet Ruhe finden“. – Ruhe und Frieden in jeder Lage, wie schwierig sie auch sein möge. Diese Schriftstelle erklärt uns, warum so viele Seelen schon kurz nach der ersten Freude über ihre Bekehrung in Unruhe geraten, und warum sie, obgleich sie sich der Vergebung ihrer Sünden bewusst sind, unruhig und unglücklich werden, sobald sich Schwierigkeiten einstellen. Man verliert aus dem Auge, Christus in den Einzelheiten des täglichen Lebens unterwürfig zu sein und von Ihm zu lernen. Unter demselben Joch mit Christus sein bedeutet, an Seiner Seite und Schritt für Schritt mit Ihm zu wandeln. „Nehmt auf euch mein Joch.“ Das ist in der Tat ein Wandeln in Seiner unmittelbaren Nähe; und wenn es so mit uns ist, werden wir sicher „Ruhe finden“, denn alle unsere Schwachheit fällt dann auf Ihn. Wenn zwei zusammengejocht sind, kann der Stärkere den Schwächeren unterstützen; und sicherlich braucht der schwächste Christ, wenn er in demselben Joch mit Jesus, dem Starken, ist, keine Schwierigkeiten zu fürchten. Alle unnützen Befürchtungen werden vor Seiner Gegenwart verschwinden, und die Räder unseres Wagens werden sich leicht durch den tiefen Sand der Wüste fortbewegen.

Aber es könnte eingewendet werden, dass dies alles klar genug erscheine, sofern es unseren persönlichen Wandel und unsere persönliche Heiligkeit betreffe, dass aber unser Pfad und unsere Stellung in kirchlicher Hinsicht nicht so klar offenbart seien. Nichts würde jungen Christen weniger geziemen, als wenn sie über die verschiedenen Benennungen der bekennenden Christenheit urteilen wollen; aber allen, sowohl jungen als alten, liegt es ob, die Gedanken Gottes über diesen Gegenstand zu erforschen. Wir haben eine persönliche und auch eine korporative Verantwortlichkeit, und das Wort des Herrn unterrichtet uns über die eine so deutlich wie über die andere.

Nichts könnte einfacher und klarer sein, wenn es sich um den Gegenstand der kirchlichen Gemeinschaft handelt, als Mt 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ Hier haben wir in klaren Worten die wahre Grundlage aller christlichen Gemeinschaft – Christus der Mittelpunkt, und die Gläubigen durch den Geist zu Ihm hin versammelt. Beachten wir wohl, dass es nicht heißt: wo zwei oder drei sich versammeln, oder wo zwei oder drei zusammenkommen, sondern wo zwei oder drei versammelt sind. Das deutet hin auf eine versammelnde Kraft; es ist nicht die bloße Wahl oder Wirksamkeit des menschlichen Willens. Der Heilige Geist ist, wie wir alle wissen, die Kraft, die zu dem Namen Jesu hin versammelt (Vergl. Joh 14 und 16). Christus ist der Mittelpunkt Gottes, Sein Geist ist die Kraft, die zu diesem Mittelpunkt hin versammelt, und Seine Kinder sind die, die versammelt sind. Das ist die Kirche Gottes. Und das ist es, wonach wir zu trachten haben, nicht allein im Wort und im Geist, sondern auch in einer verkörperten Form.

Als unser hochgelobter Herr im Begriff stand, Seine Jünger zu verlassen, sagte Er: „Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht, noch ihn kennt. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein“ (Joh 14,16.17). Hier haben wir die sammelnde, bildende und erhaltende Kraft der Kirche Gottes.

Im Blick auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche sind besonders drei Punkte bemerkenswert: 1. „dass er bei euch sei in Ewigkeit „; nicht für eine gewisse, begrenzte Zeit, wie es der Heiland Selbst gewesen war, sondern „für immer“. 2. „Er bleibt bei euch“; als Versammlung werdet ihr Ihn „bei euch“ haben; und 3. „Er wird in euch sein“ – wohnend in jedem Gläubigen persönlich. Die gleichen köstlichen Wahrheiten wurden später in der deutlichsten Weise durch den Apostel in seinen Briefen gelehrt: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt?“ (1. Kor 6,19). „In dem auch ihr mitaufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22). Wunderbare, köstliche, gesegnete Wahrheit: der Geist „in euch“, „bei euch „, „für immer!“ O wie überschwänglich reich ist die Mitgift der Braut des Lammes!

Wenden wir jetzt einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit einer praktischen Erläuterung von Mt 18,20 zu: „Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! ... Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist“ (Joh 20,19–22). Hier haben wir ein wahres und liebliches Bild von der Versammlung Gottes. Christus in der Mitte, der Mittelpunkt, und die Jünger versammelt um den auferstandenen Jesus. Friede, Anbetung, Dienst und der Geist der Kindschaft charakterisierten sie. Eine Versammlung, die auf diesem göttlichen Boden versammelt ist, wird nicht nur Christus in ihrer Mitte anerkennen, sondern auch den Heiligen Geist als ihren unumschränkten Leiter und als die Quelle aller Auferbauung und Ermunterung. Die so Versammelten werden auf den Herrn schauen, damit sie geleitet werden mögen durch Seinen Geist zur Verherrlichung Gottes (vergl.1. Kor 12 u. 1. Kor 14).

Wenn wir nun eine so klare Vorschrift und ein so deutliches Beispiel vor uns haben, ist es dann noch nötig, den Herrn zu fragen, wo Er Seine Herde weide? Was könnte Er mehr sagen, als Er uns bereits gesagt hat? Es mag mir unmöglich sein, die Unterschiede zwischen der einen und anderen Kirchenpartei aufzuzählen, aber ich brauche nicht im Unklaren darüber zu sein, ob eine von ihnen in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes ist, das so deutlich Seinen Willen offenbart. Vielmehr sollte ich Ihn bitten, mich vor jedem Nebenpfad zu bewahren, und mich nicht meinem eigenen Willen folgen zu lassen, sondern durch Seinen Heiligen Geist in den Wegen der Wahrheit zu leiten. Und, mein lieber christlicher Leser, lasst es uns nie vergessen, dass Er versichert hat da zu sein, wo Seine Jünger zu Seinem Namen hin versammelt sind. Dort ist die Stätte ihrer Ruhe und Weide. Seine Gegenwart ist genug, um die Seele bis zum überfließen zu füllen. „Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht...“ (Ps 16,11). Ein anziehender Dienst, glänzende und bezaubernde Zeremonien, angenehme Verbindungen sind nicht Christus. Was ich begehre, was mir Not tut, ist da zu sein, wo der Glaube mit Gewissheit sagen kann: Christus Selbst ist gegenwärtig.

Wie lieblich, wenn Jesus die Seinigen findet
Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint;
Wenn innige Liebe die Herzen verbindet,
Und Tränen der Freude das Auge nur weint!
Ihr Danken und Loben
Steigt jubelnd nach oben,
Zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt,
Mit Vatergefühlen der Seinen gedenkt.

Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden
Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl;
Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden,
Mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl!
Sie rühmen und preisen
In lieblichen Weisen
Den Gott, der so Großes an ihnen getan,
Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah'n.

Weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.“ Nachdem wir den wahren Boden und Charakter christlicher Gemeinschaft aus dem Worte kennen gelernt haben, sind wir verantwortlich, auch die Jüngeren unter uns auf diese Wege zu leiten, zu den Spuren der Herde Gottes. Göttliche Nahrung für jung und alt ist nur dort zu finden. Das Lämmlein lernt bald den Fußtapfen seiner Mutter folgen und auf derselben Weide sich nähren. Der königliche Hirte Israels sorgt für die Lämmer Seiner Herde. „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, die Lämmer wird er in seinen Arm nehmen und in seinem Schoß tragen, die Säugenden wird er sanft leiten“ (Jes 40,11). Er sorgte für die Schwächsten Seiner Herde, als Er Sein Volk Israel aus Ägypten und durch das Rote Meer leitete. Nicht eine Klaue durfte zurückbleiben (2. Mo 10,26). Und Speise fand sich für alle rund um ihre Zelte her an jedem Morgen, solange sie durch die dürre, schreckliche Wüste zogen.

Unser guter Herr will es auch jetzt so haben in den Versammlungen Seiner Heiligen. Und da, wo der Heilige Geist in Seiner Wirksamkeit frei und ungehindert ist, wird Er sicherlich Milch für die Unmündigen und feste Speise für die Erwachsenen darreichen. Von der Kirche wird gesagt, dass sie die Wohnung, das ZeIt oder die Behausung Gottes sei (Eph 2,22). Zu diesem ZeIt hin, in dem Gott Selbst zu wohnen Sich herabgelassen hat, möchten wir alle Lämmer Jesu versammelt sehen; das ist unser Flehen zu Gott. O dass die Gegenwart des Herrn eine größere Anziehungskraft für die Herzen besäße als alles andere! Höre Ihn sagen, mein lieber Leser: „da bin ich in ihrer Mitte!“ und sei auch du da, wo Jesus ist! Wer oder was könnte Ihn ersetzen? Was wäre die schönste Versammlung auf Erden ohne Ihn? Ja, was würde der Himmel selbst sein ohne Seine Gegenwart? Ein leerer Raum! Doch was ist die Wüste mit Seiner Gegenwart? Das Paradies Gottes. Stets und überall ist Seine Gegenwart die Stätte des Segens, der Freude und des Glücks. Möge unser treuer Gott und Vater die vielen teuren Lämmer Christi in diesen letzten Tagen aus allen menschlichen Höfen und Umzäunungen hinausführen und sie als die eine wahre Herde sammeln um den Hirten und Aufseher unserer Seelen!

„Einer Stute an des Pharaos Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin. Anmutig sind deine Wangen in den Kettchen (Eig. rundliche Schmuckstücke, die zu beiden Seiten vom Kopfbunde herabhingen.) dein Hals in den Schnüren“ (V. 9.10). Jetzt spricht der Bräutigam nur über die Braut selbst. Den Gegenstand ihrer Fragen hat Er fallen lassen; Seine Anrede ist direkt und persönlich. Und O, wie voll und frei sind die Ausdrücke Seiner bewundernden Liebe! „Ich vergleiche dich, meine Freundin ... Anmutig sind deine Wangen ... dein Hals in den Schnüren.“

Wie oft bekleidet der menschliche Geist den Gegenstand seiner Bewunderung mit anmutigen Reizen und betrachtet dann in Selbstgefälligkeit und Selbstverehrung sein eigenes Bild. Nicht so der göttliche Geist; hier ist alles wirklich und echt. Der Herr schmückt die Braut Seines Herzens mit Seiner eigenen Anmut, und dann bewundert Er sie. Er liebte sie, Sein Name sei gepriesen! ehe irgendetwas an ihr zu bewundern war. Das ist göttlich. „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Nachdem Er sie mit Seinen eigenen Reizen geschmückt hat, bleibt nichts an ihr, was Sein Auge beleidigen oder Sein Herz betrüben könnte. „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (Kap. 4, 7). „Das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden“ (2. Kor 5,17). Sie hat mit ihrem auferstandenen, lebenden Herrn dasselbe Leben und dieselbe Stellung. Welch eine Würde, Herrlichkeit und Segnung!

In der Größe Seiner Liebe hat „er sich selbst für uns dahingegeben“, und jetzt, als der gekreuzigte und auferstandene Jesus, sind wir Seine Miterben. „Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch“ (Joh 14,27). Die Welt gibt einen Teil und behält einen Teil für sich; aber Christus gibt alles. „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben“ (Joh 17,22). In der Bewunderung Seiner Braut, obgleich sie noch in der Wüste ist, ist Er in Übereinstimmung mit Sich Selbst, weil sie vollkommen ist in Seiner eigenen Vollkommenheit. Rebekka war geschmückt mit den Juwelen Isaaks, lange bevor sie das Zelt seiner Mutter erreichte. Und von der Braut des HERRN finden wir geschrieben: „Und ich schmückte dich mit Schmuck: ich legte Armringe an deine Hände und eine Kette um deinen Hals, und legte einen Reif in deine Nase und Ringe in deine Ohren und setzte eine Prachtkrone auf dein Haupt. Und so wurdest du mit Gold und Silber geschmückt. .. Und dein Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit, denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, HERR“ (Hes 16,11–14).

„Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten von Silber“ (V. 11). Eine goldene Kette ist bekanntlich ein Zeichen von Beförderung, von hoher Gunst und Würde, wie z. B. bei Joseph und Daniel. Aber was bedeuten diese wunderbaren Worte des Königs? Er hat Seine Braut, ihre Schmuckstücke und goldenen Schnüre bewundert; und jetzt fühlt Er Sich veranlasst, noch mehr für sie zu tun. „Wir wollen dir goldene Kettchen machen mit Punkten von Silber.“

Wir? warum wir? Will uns die Mehrzahl an das Geheimnis der Heiligen Dreieinheit erinnern? Bei dem Werk der Schöpfung hieß es: „Lasst uns Menschen machen in unserem Bild nach unserem Gleichnis.“ (1. Mo 1,26) Und das Werk der Erlösung gab Anlass, wie wir wissen, zur Offenbarung der verschiedenen Personen der Gottheit. „Wenn jemand mich liebt“, sagt der Herr, „wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Und von dem Heiligen Geist sagt Er: „Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein“ (Joh 14).

Was aber haben wir unter den „goldenen Kettchen mit Punkten von Silber“ zu verstehen? Es handelt sich hier ohne Zweifel um einen Kopfschmuck, vielleicht eine Art Diadem, ein Kranz oder eine Krone. Ist es ein goldener Kranz mit Punkten von Silber? Die bereits angeführte Stelle aus dem Propheten Hesekiel gibt diesem Gedanken viel Wahrscheinlichkeit. „Und ich setzte eine Prachtkrone auf dein Haupt; und so wurdest du mit Gold und Silber geschmückt.“ Wird demnach der zurückgebrachte königliche Stamm Juda noch einmal diese herrliche Krone im Land Israel, in der heiligen Stadt Jerusalem tragen? Ja, der Herr Selbst wird sie auf sein Haupt setzen. -Wunderbare Gnade! Anbetungswürdige, göttliche Liebe!

Könnte Juda, könnten wir je vergessen, dass die erhabene Stirn des Königs von Salem einst auf dieser Erde mit einer Dornenkrone geschmückt war? Keine irdischen Juwelen zierten jene Krone; aber Sein kostbares Blut spendete reiche Rubinen-Tropfen von ewigem Glanz und unvergänglichem Wert. Wache auf, wache auf, meine Seele! und sinne über die Gnade und Liebe Jesu! Wie wird dir sein, wenn jene einst durchbohrte Hand deine Stirn mit einem Kranz unverwelklicher Herrlichkeit schmücken wird? Wird dein Auge gefesselt werden durch die Krone? Nein! der erste Anblick Seines herrlichen Angesichts wird dein Auge fesseln und dein ganzes Herz einnehmen auf ewig.

In der Art und Weise, wie der Herr Seine Liebe offenbart, gibt es immer etwas, das dem Herzen überaus kostbar ist. Hier sagt Er der Braut selbst, was in Seinem Herzen ist. Dieses befriedigt das erste Verlangen der Liebe, den Wunsch nach persönlicher Gemeinschaft. Jesus weiß wohl, wie Er das Herz mit tiefer, unergründlicher Freude erfüllen kann. Wird das aber immer so sein? Ja, und nochmals ja! Seine Liebe wird ewig währen; Er verändert Sich nicht. Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. In der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft ist Er derselbe. Welch eine Freude für das Herz, wenn es so unmittelbar, so persönlich und so deutlich von Ihm angeredet wird! Unter den Myriaden der Erlösten gibt es keinen, der von Ihm übersehen oder vernachlässigt würde. „Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“, das wird das ewige Thema des Gesangs der Erlösten bilden. Seine Liebe in ihrer ewigen Fülle und Kostbarkeit wird alle Herzen erfüllen und sie alle zu lieblich gestimmten Harfen machen, die das Lob Seiner nie endenden Liebe ewiglich erklingen lassen.

Liebe, die mich überkleidet
Und entrücket dieser Zeit,
Liebe, die mich droben weidet
Und mich schmückt mit Herrlichkeit;
Liebe, dir sei Preis und Ruhm
Hier und dort im Heiligtum!

Die Wahl des ersten Vergleichs verrät göttliche Weisheit und ist belehrend für die Seele: „Einer Stute an des Pharao Prachtwagen vergleiche ich dich, meine Freundin.“ Die mystische Braut des wahren Salomo wird hier an Ägypten erinnert, aus dem Er sie einst mit Seinem ausgestreckten Arm erlöste, und an den Pharao, aus dessen eiserner Gewalt Er sie befreite. Höchst eindrucksvolle Andeutungen für die Kinder Israel und moralisch auch für uns! Die Wahrheit Gottes ist gleich einem Kreis. Die Liebe, die uns aus Ägypten erlöste und uns nach Kanaan bringt, mit allen ihren Segnungen auf dem Weg dahin, ist ein vollkommener, ununterbrochener Kreis von Gnade und Wahrheit. Und sicherlich wird jeder besondere Teil dieses Kreises uns ewiglich in Erinnerung bleiben. Die Gnade, die uns in der Welt begegnet, führt uns zu dem Herzen Gottes, aus dem sie hervorfließt. „Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst fern wart, durch das Blut des Christus nahe geworden“ (Eph 2,13).

Die edle Stute mit ihrem glänzenden Geschirr darf man wohl als das Sinnbild der Stärke, des Ebenmaßes, der Schnelligkeit, der königlichen Würde und der Willigkeit im Dienst betrachten. Kaum hat der Wagenlenker seinen Sitz eingenommen, so sind auch seine edlen Tiere bereit, anzuziehen. Jede Verzögerung macht sie ungeduldig. Ihr Scharren und Stampfen, das stolze Emporwerfen des Kopfes, das Zucken jeder Muskel – alles zeigt ihm deutlich, dass sie bereit sind, wenn er nur fertig ist. Und dann, wie gehorsam sind sie, trotz ihrer Stärke, dem geringsten Druck des Zügels! Erkennst du, mein Leser, in dieser Bereitwilligkeit und Unterwürfigkeit ein Bild deines eigenen Dienstes? Ist er so beschaffen? Oder ist das Gegenteil der Fall? Ach, prüfe alle deine Wege unter dem Strahl des Auges deines Herrn und Meisters. Gibt es etwas auf Erden, das du mehr fürchten würdest, als aus Seinem Dienst entlassen zu werden? Bedenke, o bedenke, dass, obgleich du für immer als Sohn in deines Vaters Haus sein wirst, obgleich du als Sünder durch die Gnade für ewig errettet bist, dir dennoch als Diener, wenn du deine Zeit nutzlos verbringst oder dein Werk lässig treibst, dein Dienst genommen und einem anderen gegeben werden kann. - O langmütiger Herr, erhalte Deine Diener stets umgürtet, gehorsam und bereitwillig zum Dienst, stets nur für das eine besorgt, Deinen Willen zu tun!

„Während der König an seiner Tafel war, gab (oder ist, gibt) meine Narde ihren Duft“ (V. 12). Es besteht ein unermesslicher Unterschied zwischen den anziehenden Eigenschaften der Natur und den geistlichen Tugenden. Honig, die Süßigkeit der Natur, war im Alten Bunde bei allen Opfern verboten. Ein wenig Honigseim, mit dem Ende eines Stabes zum Mund geführt, mag die Augen hell machen und das Herz des Kriegers erfrischen am Tag der Schlacht (1. Sam 14,27), aber es kann nicht das Herz des Herrn der Heerscharen erquicken. Die liebenswürdigen Eigenschaften der Natur sind ohne Zweifel wertvoll für die Familie, für den gesellschaftlichen Kreis und für die Welt im Allgemeinen, aber durchaus untauglich für den Altar Gottes oder den Tisch des Königs. Das Süße wie das Saure der Natur sind für den Heiligen Israels gleich verwerflich. „Die aber, welche im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen“ (Röm 8,8).

Wir bedürfen einer neuen Natur, des Lebens des auferstandenen Jesus in der Seele, bevor wir irgendetwas Gott Wohlgefälliges tun oder ein Ihm annehmliches Opfer darbringen können. „Ihr müsst von neuem geboren werden.“ „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Gal 5,22.23). Das göttliche Leben, das durch den Heiligen Geist Früchte hervorbringt, ist die wohlriechendste und erfrischendste Frucht in den Augen des Heilands. Die „Narde“ hat für Ihn „einen duftenden Wohlgeruch“, und ihr Wert ist unvergänglich. Die Alabasterflasche mit Salbe, die einst das Haus in Bethanien mit lieblichem Duft erfüllte, hat ihren Wohlgeruch für Ihn heute noch nicht verloren, „Sie hat getan, was sie konnte“, so lautete das rückhaltlose, ungeschmälerte Lob Seiner Liebe. Und: „Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (Mt 26,13).

Es ist verkehrt zu denken, dass wir dem König nichts darzubringen hätten, während Er zu Tisch sitzt. Allerdings geben wir Ihm von Seinem Eigenen, aber das macht die Sache nur umso lieblicher für Ihn und uns. Was ist lieblicher als Gnade? Der Israelit musste einen Korb, gefüllt mit den Erstlingsfrüchten des Landes, herzubringen und ihn vor dem HERRN, seinem Gott, niedersetzen (5. Mo 26). Wahrer Gottesdienst, wahre Anbetung ist Gemeinschaft. Wenn der Bräutigam seine „guten Salben“ hat, so besitzt die Braut ihre „Narde“; doch alles ist Gnade. Der Tisch ist Sein, die Salbe und die Narde sind ebenfalls Sein. „Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde, du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über“ (Ps 23,5).

Das Herz erreicht nicht eher die Höhe der Anbetung, als bis es überfließt. Dann hat es um nichts mehr zu bitten, nichts mehr zu wünschen. Bei wahrer Anbetung strömt das Herz über. Und wie lieblich, wie köstlich und wie gesegnet ist sie. Wenn der Heilige Geist von der Fülle Jesu unseren Seelen mitteilt, wie bald strömt dann das Herz über! Und dieses Überströmen des Herzens von der Fülle Christi ist wahre, himmlische Anbetung. Daher der wichtige Unterschied zwischen einer Versammlung zum Gebet oder zur Anbetung. Zu der Versammlung zum Gebet sollten wir mit leeren Gefäßen kommen und so zum Herrn schreien, als wenn wir eher den Himmel erstürmen, als ohne Antwort weggehen möchten. Zu der Versammlung zur Anbetung jedoch sollten wir kommen mit vorhergegangenem Selbstgericht, wohl vorbereitet für den Tisch des Königs und fähig, uns an Seinen reichen Gaben zu laben und die Beute Seines Sieges, die Frucht der Erlösung, zu genießen. So werden wir stets alle unsere Bedürfnisse gestillt und jedes Verlangen befriedigt finden. Haben wir denn um nichts zu bitten an dem Tische unseres Herrn? Um nichts, es sei denn um ein weiteres Herz; anders müsste ja der König etwas, was uns Not ist, vergessen haben. Und wie wäre das möglich? Wie könnten wir anders als befriedigt sein in dem Empfangszimmer des Königs, im Allerheiligsten, wo wir die reichen Spenden Seiner Tafel genießen? Wie könnten wir anders als unseren Gott und Vater und unseren Herrn Jesus Christus loben und preisen, bewundern und anbeten, lieben und verehren?

Die Braut hat jetzt den Höhepunkt des Segens erreicht. Sie erfreut sich in Ruhe und Frieden der Gegenwart des Königs, während Er an Seinem Tisch ruht. Die Tätigkeiten des Dienstes haben der Ruhe der Anbetung Platz gemacht. Die versengenden Strahlen der Sonne, die Verfolgung, die Armut, die Sorgen – alles ist vergessen in der Fülle der Freuden, die Seine Gegenwart verleiht. Die Flasche ist zerbrochen, die kostbare Narde fließt, der Wohlgeruch erfüllt das Haus, das Haupt und die Füße Jesu werden gesalbt, und Sein Herz ist hingerissen durch das Entgegenkommen ihrer Liebe.

„Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht“ (V. 13). Wenn das Wagenross den Gedanken an einen bereitwilligen Dienst erweckt, und die Narde das Symbol göttlicher Anbetung ist, könnte dann nicht das „Bündel Myrrhe“ das Sinnbild eines täglichen und stündlichen Zeugnisses für Christus sein? Und was wäre als Folge einer tiefen und ununterbrochenen Gemeinschaft mit dem Herrn natürlicher als ein solches Zeugnis? Wird nicht das Herz in solch glücklichen Zeiten zum Zeugnis gestärkt? Unser Dienst wird kraft- und wirkungslos werden, sobald die persönliche Gemeinschaft mit dem Herrn vernachlässigt wird. Wie kam es, dass David im Terebinthental einen solchen Heldenmut offenbarte? (1. Sam 17). War es die rasche Handlungsweise jugendlicher Unerfahrenheit? Durchaus nicht. Sein Glaube hatte sich durch eine verborgene Gemeinschaft mit dem Herrn zu den Gedanken aufgeschwungen, die Gott über Sein Volk hatte. Daher seine Tapferkeit, als er an die Öffentlichkeit trat. „Gepriesen sei der HERR, mein Fels, der meine Hände unterweist zum Kampf, meine Finger zum Krieg!“ konnte er singen (Ps 144,1).

Auch wir werden durch unseren hochgelobten Herrn in Joh 7,37 über dieselbe Wahrheit belehrt: „An dem letzten, dem großen Tag des Festes aber stand Jesus da und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke.“ Umsonst werden wir suchen, die Werkzeuge zur Stärkung und Erquickung anderer zu werden, wenn wir nicht selbst täglich und reichlich an der Hauptquelle trinken. Jedes neue Zeugnis für Christus sollte das Ergebnis neuer Gemeinschaft mit Ihm sein. O wie notwendig ist es für die Diener des Herrn, sich hieran stets zu erinnern! Vergiss es nicht, meine Seele, sondern wie einst Mose im Lande Midian, so setze auch du dich nieder an der Quelle – der Quelle des lebendigen Wassers. „Und er saß an einem Brunnen“ (2. Mo 2,15). So nahe bei dem Brunnen, war Moses in der Lage, den sieben Töchtern des Priesters von Midian behilflich zu sein und ihre Herden zu tränken. Dieses liebliche Bild mag vielleicht mehr anwendbar sein auf Christus, wie Er der Braut die Quellen Seiner erlösenden Liebe öffnet; sicherlich aber ist es auch eine sehr belehrende Unterweisung für den Evangelisten. Möchten wir in unseren Herzen allezeit der Quelle des Lebens so nahe sein, dass wir ein Kanal lebendigen Wassers auch für andere werden können.

Das Herz der Braut, gleich der Frau am Jakobsbrunnen in späteren Tagen, strömt über. Sie muss die Herrlichkeit des Namens ihres Erlösers ausrufen und anderen mitteilen. Ihr Geliebter ist ihrem Herzen teurer als ein Bündel kostbarer Myrrhe dem Kaufmann. „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe.“ Das ist die gesegnete Frucht des Naheseins und der Gemeinschaft mit Ihm. Beachte auch, mein Leser, die tiefe Zuneigung, die Er in dem Herzen erzeugt. Die Braut kann in Wahrheit sagen: „mein Geliebter“. Glückliche, gesegnete Braut! „Mein Geliebter ist mir ein Bündel Myrrhe, das zwischen meinen Brüsten ruht.“ Dort, so nahe wie möglich ihrem Herzen, birgt sie ihre süß duftende Myrrhe. Und nun, wohin sie sich auch wenden mag, überall verbreitet sie den herrlichen Wohlgeruch ihres kostbaren Schatzes.

Ein Bündel Myrrhe, im Busen getragen, durchduftet die ganzen Kleider und verbreitet seinen Wohlgeruch nach allen Seiten hin, sei es daheim oder draußen, bei der Arbeit oder bei der Ruhe, im Heiligtum oder im gesellschaftlichen Kreis; still, aber sicher, erfüllt der balsamische Duft des Gewürzes die ganze Umgebung. Und selbst wenn die Person sich entfernt hat, bleibt doch der Duft zurück, als ein Zeugnis von dem Wert Dessen, der ihrem Herzen am nächsten ist. Herrliches Vorbild. Bist du auch deinem Jesus so treu, mein lieber Leser? Ist Er tief im Inneren deines Herzens verborgen? und begleitet dich der süße Wohlgeruch Seines Namens, wohin du auch gehen magst? und bleibt er zurück, selbst nachdem du weggegangen bist? Das sind herzerforschende Fragen. „Handelt damit, bis ich komme“, so lauteten die Abschiedsworte des verworfenen Jesus an Seine Jünger; und über die Denkzeichen Seiner Liebe, in der Er für uns starb, hat Er in wunderbarer Gnade geschrieben: „Dieses tut zu meinem Gedächtnis!“ Er hat nicht von uns verlangt, irgendetwas Großes für Ihn zu tun, oder irgendein Opfer von hohem Wert auf Seinen Altar zu legen. Nein, was Er wünscht, ist, dass wir während Seiner Abwesenheit stets Seiner eingedenk seien als des hienieden verworfenen Christus, und dass wir Ihm einen Platz in unseren Herzen einräumen. „Gedenkt meiner“, das war Seine letzte Bitte; bringt alles in euren Herzen zu mir in Beziehung. – Haben wir das getan? Tun wir es jetzt? Hat die Braut des Lammes Ihm diesen Platz in ihrem Busen gegeben und Ihn dort verborgen während der langen, finsteren Nacht Seiner Abwesenheit? Ach, die Wünsche Seiner Liebe sind in Vergessenheit geraten! Nebenbuhler sind eingelassen worden; und schmerzlich ist es, Ihn draußen zu finden, wie Er in Seiner unermüdlichen Liebe an die Tür klopft, bis (um mit der bildlichen Sprache des Hohenliedes zu reden) „Sein Haupt voll Tau ist und seine Locken voll Tropfen der Nacht“ (Kap. 5,2). Aber „die Nacht ist weit vorgerückt, und der Tag ist nahe“ (Röm 13,12). Ja, der glückliche Tag naht heran, an dem auf Grund Seiner langmütigen Gnade die Liebe Seines himmlischen und irdischen Volkes Seiner eigenen Liebe vollkommen entsprechen wird.

„Eine Zypertraube (Der traubenförmige Blütenbüschel der Zyperpflanze) ist mir mein Geliebter, in den Weinbergen von En-Gedi“ (V. 14). Das Bündel Myrrhe wird vor den Blicken im Busen verborgen; aber die Zypertraube ist ein Gegenstand für das Auge, sie wird offen in der Hand getragen. Die Myrrhe ist der Lebenssaft des arabischen Balsambaumes, der durch die geborstenen Teile der Rinde hervortröpfelt, ähnlich wie das Blut aus den Adern oder die Tränen aus dem Auge. Die Zypertrauben wachsen in dichten Büscheln und sind ebenso schön wie wohlriechend. „Dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne“ (Eph 3,17), war das Gebet des Apostels. Zugleich sollen wir „allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib offenbar werde“ (2. Kor 4,10).

Wie unterschiedlich sind die Gedanken, die durch einen Baum in uns erweckt werden, der in voller Blüte steht, und die ein verwundeter Baum hervorruft, dessen Lebenssaft gleichsam aus seinen Adern fließt. Der eine ist das Bild der Lebenskraft, der andere das Bild des Todes. Die zarte Knospe, die ihren Weg durch den harten Bast des Winters findet, ist immer ein treffendes und interessantes Bild von der Auferstehung; die Blüten und Früchte sind die Offenbarungen der Kraft des Lebens und der reichen Segnungen für den Menschen. Das winzige Samenkorn, das dem Boden anvertraut und mit Erdschollen bedeckt wird, mag eine Zeitlang hoffnungslos verloren scheinen; aber wenn die warme Frühlingssonne kommt, wird bald durch die in dem Körnlein schlummernde Lebenskraft jedes Hindernis überwunden, das zarte Blatt erscheint, und in kurzer Zeit wogt die goldene Ähre triumphierend im Wind.

Wie lieblich sind alle diese Dinge, und noch Herrlicheres finden wir in dem Stab Aarons vorgebildet, der durch die Wirkung der Gnade Gottes sprosste und Blüten trieb (4. Mo 17). In einer Nacht brachte der dürre Stab, ein Stück totes Holz, Knospen, Blüten und Früchte hervor. Herrliches Vorbild von einem auferstandenen Christus, der in der Auferstehung Frucht bringt. Hier lernen wir in Vorbildern und Schatten, dass wir einen auferstandenen Jesus nötig haben, unseren großen Hohenpriester, damit Er uns durch die Wüste in das Land Kanaan führe. Die Gnade herrscht in dem Priestertum und errettet das Volk. Nichts weniger als der priesterliche Dienst Jesu kann unseren Bedürfnissen begegnen. Er, der starb, um uns rein zu machen, lebt jetzt, um uns rein zu erhalten. Er ist alles: unser Opfer, unser Priester und unser Sachwalter bei dem Vater. Das Blut der Versöhnung und das Wasser der Reinigung flossen zugleich aus der geöffneten Seite Jesu hervor.

Wie lieblich für das Auge und duftend für das Herz ist unser auferstandener, erhöhter und verherrlichter Herr. Seine Person, Sein Dienst, Seine Beziehungen zu uns sind von unendlicher Kostbarkeit, und sie bleiben immer gleich. „Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden, ... alles an ihm ist lieblich“ (Kap. 5). „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (KoI 2,9). Die Fülle der Gnade und Herrlichkeit wohnt in Ihm. „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“ (Kol 3,1.2). O, welche Bündel und Trauben von anziehenden Eigenschaften finden wir hier. Hätten wir nur Augen, sie zu sehen, und Herzen, sie zu verstehen!

Die Weingärten von En-Gedi waren berühmt wegen ihrer reichen Früchte und köstlichen Gewürze. Was schön für das Auge, lieblich für den Geschmack und angenehm für die Sinne ist, konnte man dort in Überfluss finden. Diese Gegenden waren außerdem dadurch berühmt, dass David mit seinen Getreuen dort einen Bergungsort fand, als er von Saul verfolgt wurde (1. Sam 24,1–4). Die fruchtbaren Täler und die Festen in den umliegenden Bergen gewährten dem Gesalbten Gottes und seinen Gefährten Schutz, Nahrung und Erfrischung.

Und doch, wie schwach und unvollkommen ist das Bild, das alle die guten und kostbaren Dinge dieser Erde von den unermesslichen Reichtümern Christi zu geben vermögen! Aller Überfluss kommt von Ihm. Nichts ist reich, das Er nicht reich gemacht, nichts süß, das Er nicht süß, nichts voll, das Er nicht voll gemacht hätte; und doch ist alles, was wir jetzt von Seiner Fülle kennen, nur wie ein Tropfen aus dem Ozean. Alles Gute kommt von oben, und alles redet von Ihm. Das wirklich Gute, das in dem Geschöpf gefunden wird, erinnert nur an Ihn, in dem alle Vollkommenheit ihren Mittelpunkt findet, an Ihn, den Menschen Christus Jesus – Gott mit uns. Wandeln wir umher im Felde oder im Garten, im Tal oder auf den Bergen, bewegen wir uns in unserem gewöhnlichen täglichen Wirkungskreis, o möchte dann jeder zweite Gedanke Ihn zum Gegenstand haben, den „geliebten“ abwesenden Herrn! Die blutende Myrrhe und die blühende Zypertraube mögen uns wohl das Kreuz und die Herrlichkeit in Erinnerung rufen und uns anleiten, Dessen zu gedenken, „der unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“ (Röm 4,25).

Kein Holz hat je solche Frucht getragen für Gott und den Menschen, wie das Kreuz auf Golgatha. Dort wurde die Frage der Sünde geordnet, entsprechend den Forderungen der Herrlichkeit Gottes; und dort wurde zugleich der Feind überwunden und seine ganze Kraft völlig vernichtet. Das Kreuz ist die Grundlage unserer Vergebung, unseres Friedens, unserer Versöhnung, unserer Annahme, ja aller Segnungen für Zeit und Ewigkeit. Dort hat Gott sich offenbart in vollkommener Liebe und vollkommener Gerechtigkeit, als Den, der die Sünde hasst, aber den Sünder liebt. In dem Kreuz triumphierte die Liebe; doch Heiligkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit wurden entfaltet und verherrlicht. Auf diesem festen Boden empfängt der größte Sünder völlige und freie Vergebung in dem Augenblick, da er an Christus glaubt; die Vergebung ist so vollkommen wie das Werk des Kreuzes selbst. Dort wurden die Sünden hinweggetan, die Sünde gerichtet, so dass der Gläubige jetzt im Blick auf die vielen Sünden seines Lebens wie auch auf die in ihm wohnende Sünde völlig ruhig sein und in heiligem Triumph ausrufen kann: „Er wurde unserer Übertretungen wegen hingegeben“ (Röm 4,25). Wo sind die Übertretungen geblieben? Hinweggetan – für immer dahin! Er, der für unsere Sünden starb, ist „aus den Toten auferweckt worden durch die Herrlichkeit des Vaters“, und damit ist die Frage der Sünde für ewig geordnet. „Er ist unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“ (Röm 4,25). Der auferstandene Jesus ist Gottes eigener Zeuge, dass der Gläubige gerechtfertigt ist. Das Werk ist vollbracht. Christus ist auferstanden; und die Folgen des Glaubens sind jene vielen duftenden Trauben des reichsten Segens für die Seele. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir mittelst des Glaubens auch den Zugang haben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. . . Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,1–2 und 11).

„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben“ (V. 15). Was ist es, so möchte der eine oder andere Leser fragen, das ein durch die Sünde beflecktes und entstelltes Geschöpf in den Augen Jesu schön machen kann? Wo, wann und wie kann dies gefunden werden? Nichts anderes ist ja nötig, um den Freudenbecher der Seele zum Überfließen zu füllen. Was sind alle Reichtümer, Würden und Herrlichkeiten dieser Welt im Vergleich mit solchen Worten von Seinen Lippen: „Siehe, du bist schön, meine Freundin!“? – Das Evangelium der Gnade Gottes, mein Freund, gibt dir Antwort auf jene Fragen. Siehe, wenn eine Seele zu Jesu gezogen wird, wird sie von Ihm aufgenommen und in das Licht der Gegenwart Gottes, in den vollen Wert Seines vollendeten Werkes und in die unvergleichliche Schönheit Seiner anbetungswürdigen Person versetzt. Das ist Gnade, die Gnade Gottes im Evangelium Seines Sohnes für jeden, der glaubt. „Von allem, wovon ihr durch das Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen (durch Jesus) jeder Glaubende gerechtfertigt“ (Apg 13,38.39). Und alle, die glauben, sind „begnadigt (oder angenehm gemacht) in dem Geliebten“, auf Grund des am Kreuz vollbrachten Werkes (Eph 1,6.7). Sein kostbares Blut reinigt uns von aller Sünde (1. Joh 1). Darum wie „schön“! Die Schönheit der Engel wird vollkommen sein nach ihrer Art und Ordnung, aber der aus Gnaden errettete Sünder wird strahlen in der Schönheit des Herrn Selbst für immer und ewig.

Viele halten alles dieses für wahr, und doch fragen sie zitternd: Kann solch ein Platz, kann solch ein Segen je mein Teil sein? „Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet werden“, ist die Antwort des Himmels einem jeden zitternden Sünder gegenüber. Ja, so lautet die himmlische Botschaft der vollkommenen Gnade für alle, die fragen: „Was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ Glaube an Jesus, vertraue auf Ihn, so unrein und verderbt du auch sein magst, und schneller als deine Gedanken ihren Gegenstand wechseln können, bist du „schön“ in Seinen Augen. Glaube nur, das Werk ist vollbracht, vor langer Zeit. O vertraue nicht auf deine eigenen „toten Werke“. Das Evangelium ist zu einfach, um einer Erklärung zu bedürfen. Es ist eine Botschaft, die geglaubt, eine Einladung, die angenommen werden muss; eine Stimme der Liebe, die dich eindringlich bittet, dich mit Gott versöhnen zu lassen, eine Ankündigung der Vergebung und des Friedens durch Jesus Christus (Apg 10,36; 13,38.39). Beachte es wohl, mein Leser! es ist nicht eine Verheißung der Vergebung und des Friedens, sondern eine Verkündigung dieser gesegneten Dinge.

Das ist ein höchst beachtenswerter Unterschied. Ferner ist es weder durch Gesetz noch durch Verheißung, dass die Seele so reich gesegnet wird, sondern durch Jesus Christus. In dem Augenblick also, wo ein Sünder an Jesus glaubt, werden ihm Vergebung, Rechtfertigung und Versöhnung verkündigt durch das Wort Gottes.

Nehmen wir ein Beispiel als Erläuterung der Gnadenwege Gottes mit dem Sünder. In Sach 3 sehen wir den Hohenpriester Josua vor dem Herrn stehen. Er ist ein Vorbild der Gnadenhandlungen Gottes mit Jerusalem in den letzten Tagen. Dieses Kapitel erklärt, wie ich glaube, warum die Braut des Königs so „schön“ ist in Seinen Augen. Zugleich enthält es die Geschichte eines jeden durch Gnade erretteten Sünders. Josua ist mit schmutzigen Kleidern angetan. Satan ist da, um ihm zu widerstehen; er sucht immer die Segnungen der Seelen zu verhindern. Aber der Herr nimmt sich des Schutzlosen an. Er stößt niemanden von sich, der zu Ihm kommt. Er tadelt den Widersacher, bringt ihn zum Schweigen, und spricht und handelt für Josua. Die schmutzigen Kleider werden weggenommen; seine Sünden sind vergeben. Nicht ein Fetzen bleibt zurück, auf den Satan sich berufen könnte. Also gereinigt von allen seinen Befleckungen, werden ihm Feierkleider angezogen. Er wird bekleidet mit dem Kleid Gottes, und ein reiner Kopfbund wird ihm aufgesetzt. Und nun, wie „schön“! – Was sollen wir sagen? „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen“ (Off 1,5–6). Sowohl die königliche als auch die priesterliche Krone sind unser; wir sind bekleidet mit der höchsten Würde, aus königlichem Geschlecht, und als Priester in Anbetung in die innigste Nähe zu Gott gebracht! Und wie köstlich ist der Gedanke, dass alles, von Anfang bis zum Ende, das Werk Gottes ist, und darum ist es für immerdar vollkommen. Der HERR hat Jerusalem erwählt. „Siehe, ich habe deine Ungerechtigkeit von dir weggenommen, und ich kleide dich in Feierkleider. Und ich sprach: Man setze einen reinen Kopfbund auf sein Haupt“ (Sach 3,4). Alles ist von Gott, durch Christus Jesus, auf Grund des Werkes des Kreuzes. Die Gnade herrscht, Gott ist verherrlicht, der Glaube triumphiert, Satan ist vernichtet und der Sünder für ewig gerettet.

Indem wir vereinigt sind mit dem auferstandenen Jesus, sind wir auch eins mit Ihm in der Auferstehung (Eph 2). Das gibt uns unsere wunderbare Stellung in Seinen Augen. Alle, die in diese neue Stellung gebracht sind, sind schön, wie Christus schön ist. Nur dass Er in allen Dingen den Vorrang hat, wie geschrieben steht: „Du bist schöner als die Menschensöhne“ (Ps 45). So finden wir denn auch die gleichen Ausdrücke der Bewunderung auf Bräutigam und Braut angewendet; von beiden wird dasselbe gesagt, denn die Braut ist der Abglanz des Bräutigams. Duften die Kleider der Braut von dem Wohlgeruch der Myrrhe, so heißt es von dem Bräutigam: „Myrrhen und Aloe, Kassia sind alle deine Kleider.“ Welch ein gesegneter Gegenstand für unsere Betrachtung: Einheit mit Christus als dem Auferstandenen und Verherrlichten! Wie verächtlich würde uns die Welt mit allen ihren Verbindungen und Beziehungen erscheinen, wenn wir sie mehr von diesem Gesichtspunkt aus betrachteten.

Was hier von Israel oder von dem Überrest in prophetischer Weise gesagt wird (“Siehe, du bist schön, meine Freundin“), ist jetzt schon in tieferem Sinn wahr von der Kirche Gottes, der Braut des Lammes. Zugleich ist der große Grundsatz des Liedes beiden gemeinsam: die Liebe des Herrn ist vollkommen. Er liebt Israel, Er liebt die Kirche, und zu seiner Zeit wird Er Zuneigungen in beider Herzen wachrufen, die Seinen Zuneigungen vollkommen entsprechen. Die moralische Anwendung unseres Buches auf den Christen ist daher von großer Bedeutung. Es handelt sich um Herzens-Gemeinschaft. Aber wir tun stets gut, den Unterschied zwischen dem Platz des Juden in den letzten Tagen und dem Platz des Christen in der Gegenwart im Auge zu behalten.

Wenn auch die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen ist, so sind doch die Beziehungen zwischen Christus und der Kirche bereits gebildet. Wie der Apostel sagt: „Ich habe euch einem Mann verlobt, um euch als eine keusche Jungfrau dem Christus darzustellen“ (2. Kor 11,2). Kostbare Wahrheit! Die Kirche Gottes ist die Braut des Erlösers, des Sohnes des Vaters. Kennst du, mein Leser, die Gefühle der Liebe, die einem so nahen und innigen Verhältnis eigen sind? Genießt du, statt in jener peinlichen Ungewissheit zu sein, die so oft die Gemüter derer verwirrt, die ein solch nahes Verhältnis erst in der Zukunft erwarten, die ruhige, friedliche Zuneigung und Freude, die aus dieser bewussten Verbindung hervorgehen? Wenn es so ist, dann wird auch das Verlangen deines Herzens nach der Wiederkunft deines Herrn groß sein. Denn Liebe ist der wahre Grund für den Ruf: „Komm, Herr Jesu; komme bald!“

Du bist schön, meine Freundin ..., deine Augen sind Tauben.“ Es ist sehr belehrend zu sehen, wie wir in der Schrift mit der Taube in Verbindung gebracht werden. Vom 8. Kapitel des ersten Buches Mose bis zu den Zeiten des Neuen Testaments nimmt sie einen bemerkenswerten Platz im Wort Gottes ein.

Zuerst hören wir von ihr in Verbindung mit der Arche und dem Ölbaum. Herrliche Sinnbilder der Errettung und des Friedens Gottes! Die Taube pflückte und hielt das Ölblatt fest, als die Gerichte Gottes die Erde bedeckten. Und so lange die Wasser nicht weggetrocknet waren, konnte sie keinen Ruheplatz für ihre Füße finden. Die unter dem Gericht liegende Welt war kein Aufenthaltsort für sie. Weiterhin finden wir, dass die Taube, und zwar sie allein von allem Gevögel als Opfer dargebracht werden konnte, und so als Vorbild des Herrn Selbst diente. Dasselbe Vorbild wird also für beide gebraucht, für den Herrn und für Seine Braut, wenn auch selbstverständlich in verschiedener Weise. Wunderbare Einheit! „Denn so wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind: so auch der Christus“ (1. Kor 12,12). Beachte, mein Leser, der Apostel spricht von dem, was ein Bild der Kirche ist; anstatt aber zu sagen: „so auch die Kirche“, sagt er: „so auch der Christus. Er sieht die Kirche in Ihm. Christus und die Kirche sind ein Leib.

Auch der Heilige Geist wird durch die Taube sinnbildlich dargestellt. „Und Johannes zeugte und sprach: Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel hernieder fahren, und er blieb auf ihm.“ (Joh 1,32) Einfalt, Reinheit, Harmlosigkeit und Treue scheinen in der Taube eine bildliche Darstellung zu finden. Wenn daher das Auge des Christen einfältig, keusch und beständig auf Christus gerichtet ist, so kann man von ihm sagen: „Deine Augen sind Tauben“.

„Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig; ja, unser Lager ist frisches Grün. Die Balken unseres Hauses sind Zedern, unser Getäfel Zypressen“ (V. 16.17). Wie schön sind diese Worte! Die Braut spricht nicht von sich selbst; sie hört die Ausdrücke Seiner sie bewundernden Liebe, aber sie sagt nichts von sich selbst, nicht einmal, dass sie einer solchen Liebe unwürdig sei. Wie tief bewegt sie auch sein mag, das eigene Ich wird völlig außerachtgelassen. Das ist wahre Demut. Man kann viel über das verdorbene und unwürdige „Ich“ reden und doch das Herz voll Stolz haben. Wahre Demut spricht nie von sich selbst, weder Gutes noch Böses. Aber das ist eine schwer zu erlernende Lektion. Christus ist unser einziges vollkommenes Vorbild. Unser hochgelobter Herr erniedrigte Sich Selbst; Er nahm den niedrigsten Platz ein. Der erste Adam erhöhte sich selbst und wurde erniedrigt; der letzte Adam erniedrigte Sich; und Gott „hat ihn hoch erhoben“ (Phil 2,9). Folge darum Jesus, meine Seele! Harre allein auf Gott, vertraue auf Ihn! „Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 18,14). Dieser Grundsatz erstreckt sich auf alle Einzelheiten des täglichen Lebens und ist von unendlicher praktischer Bedeutung. Man kann ihn täglich, ja stündlich in den beiden Naturen ausgedrückt finden. Die arme menschliche Natur ist immer bereit, auf die Lüge des Versuchers zu lauschen: „Ihr werdet sein wie Gott“. Die göttliche Natur dagegen ist zufrieden mit dem Platz, den Gott ihr anweist, bis Er ihr zuruft: „Rücke höher hinauf“ (Lk 14,10).

Wenn nichts anderes als Christus vor den Blicken steht, so ist das Herz völlig befriedigt. Wir sind dann bereit“ den niedrigsten Platz einzunehmen. Alles was zu unserem Glück nötig ist, wird in Ihm gefunden. Er ist nicht allein schön für das Auge, sondern auch holdselig für das Herz. Viele sind schön, aber nicht holdselig; Christus ist beides. „Siehe, du bist schön, mein Geliebter, ja, holdselig.“ O welche harmonischen Verbindungen, welche Vollkommenheiten finden wir in Jesus! Hier, und hier allein, kann das Herz wahre Ruhe finden. Darum fügt die Braut sehr bezeichnend hinzu: „Ja, unser Lager ist frisches Grün.“ Die grünen Auen und stillen Wasser der reichen Gnade des HERRN sind wohlbekannte, ausdrucksvolle Bilder der Ruhe und Erquickung, welche die Schafe Christi unter Seiner Hirtenhut genießen. „Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern.“ Auen mit frischem Grün und stille Wasser sind das tägliche Teil derer, die „den Spuren der Herde“ nachfolgen (V. 8). Der Hirte schlägt sein Zelt nicht innerhalb der Stadtmauern auf. Dort gibt es kein zartes Gras, keine stillen Wasser. Nein, fern von den geräuschvollen Straßen, in ländlicher Stille lässt Er Seine Herde lagern. „Die Stadt“ ist in diesem Buch unzweifelhaft ein Sinnbild der Welt, während „das Land“ die himmlischen Orte vorstellt. Sobald die Braut sich verführen lässt, die Stadt zu betreten, warten ihrer nur Beschämung und Sorgen. Der Bräutigam ist dort nicht zu finden; Seine Aufenthaltsorte sind die Weinberge, die Gärten, die würzigen Hügel, die mit Balsambäumen bedeckten Berge und Täler, wo die Lilien blühen.

Das Wörtchen „unser“ in: „unser Lager ist frisches Grün“, „unsere Behausung“, „unser Getäfel“, drückt das Bewusstsein der vollen, gesegneten und beglückenden Gemeinschaft mit dem „Geliebten“ aus. Es ist gleich den köstlichen kleinen Wörtchen „uns“ und „wir“ im Epheserbrief. O herrliche Vereinigung, gesegnete, ewige Einheit mit Christus! Eins im Leben, eins in Gerechtigkeit, eins in der Annahme, eins im Frieden, eins in der Ruhe, eins in der Freude, eins in himmlischer, ewiger Herrlichkeit!

Wahrlich, freudenlos würde der lieblichste Schauplatz auf Erden, und freudenlos die vielen Wohnungen droben sein, wenn nicht unser hochgelobter Herr, der göttliche Bräutigam unserer Herzen, dort wäre. Aber das sichere Verheißungswort lautet: „und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein“. Und: „auf dass, wo ich bin, auch ihr seit.“ – Es ist genug, teurer Herr! Für ewig bei Dir und Dir gleich!

Sinne einen Augenblick hierüber nach, mein Leser. Hier ist vollkommene Ruhe, süße Erquickung für dich zu finden. Auf ewig bei dem Herrn zu sein im Paradies Gottes, in den vielen Wohnungen des Vaterhauses, das bringt das Maß unseres Glückes und Segens zum Überströmen.

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