Der Brief an Philemon

Der Brief an Philemon

Wenn man diesen kurzen Briefes gelesen hat, wäre es gut, die letzten zwölf Verse des Briefes an die Kolosser zu lesen und dabei besonders auf die verschiedenen Namen zu achten, die Paulus dort erwähnt. Nicht weniger als acht von den in Philemon genannten sind auch im Kolosserbrief zu finden. Bei einigen davon erfahren wir etwas über ihre Vergangenheit.

Philemon war ein geliebter Freund und Mitarbeiter des Apostels und wohnte offensichtlich in Kolossä. Appia scheint seine Frau gewesen zu sein und Archippus sein Sohn, der auch ein begabter Mann war mit einem ganz bestimmten Dienst, der ihm vom Herrn anvertraut war. Das Haus Philemons war ein Versammlungsort für Gottes Volk, so daß Paulus von „der Versammlung in deinem Haus“ schreiben konnte.

Onesimus, um den es in diesem Brief hauptsächlich geht, war früher einer der Sklaven Philemons gewesen, wie Vers 16 zeigt. Er hatte seinem christlichen Meister unrecht getan und war dann entlaufen (V. 15.18). Durch Gottes große Gnade war der entlaufene Sklave jedoch mit Paulus in Kontakt gekommen, als dieser in Rom im Gefängnis saß, und hatte sich durch ihn bekehrt (Vers 10). Seine Bekehrung war so durchgreifend, daß Paulus kurz danach von ihm als einem „treuen und geliebten Bruder“ (Kol 4,9) sprechen konnte.

Zu der Zeit stand Tychikus im Begriff, Rom zu verlassen und nach Kolossä zu reisen und Paulus' Brief an diese Versammlung mitzunehmen. Der Apostel nahm diese günstige Gelegenheit wahr, in seiner Begleitung Onesimus zu seinen Leuten zurückzuschicken. So konnte er zu seinem Meister zurückkehren, dem er einst so unrecht getan hatte. Für Onesimus war es keine leichte Sache, Philemon zu begegnen, obwohl die Gnade Gottes ihn in der Zwischenzeit zur Bekehrung geführt hatte. Paulus hatte einen rücksichtsvollen Brief geschrieben, der vieles erklärte und Fürsprache einlegte, und Onesimus sollte ihn selbst überbringen. Diesen kurzen Brief haben wir vor uns, und Gott hat es für gut befunden, ihn als inspiriert in Sein Wort einzufügen. Er füllt seine eigene Nische innerhalb der Wahrheit, die uns in der Schrift offenbart wird.

Erstens zeigt er uns, wie der bekehrte Sünder seine Füße auf Wege praktischer Gerechtigkeit lenkte. Als Onesimus seinem Meister Philemon unrecht tat, war er ein unbekehrter Mann. Jetzt war er ein geliebter Bruder geworden, aber das befreite ihn nicht von den Verpflichtungen, die durch seine frühere Sünde entstanden waren. Was Gott angeht, war diese Sünde vergeben wie alle seine anderen Sünden (Apg 13,39). Aber Philemon gegenüber waren ein Bekenntnis und Wiedergutmachung nötig. Wie die Wiedergutmachung in diesem Fall aussah, zeigt der Brief. Hier haben wir schon eine wichtige Lektion. Wenn wir jemandem offenbar Schaden zugefügt haben, gibt es keinen wirksameren Beweis unserer Reue als den, zu bekennen und wiedergutzumachen, soweit das in unserer Macht steht. Das ist immer ein schwieriger Prozeß, aber es geht um praktische Gerechtigkeit. So etwas ist ein sehr eindrucksvolles Zeugnis und dient zur Ehre Gottes.

Zweitens unterstreicht und betont der Brief die Höflichkeit als eine Tugend, die Christen wohl ansteht. Es ist klar, daß der Christ Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Durchschaubarkeit zeigen soll, die das Gegenteil sind von Heuchelei und Schmeichelei, die in der Welt so weit verbreitet sind. Doch soll er nicht so weit gehen, daß die Aufrichtigkeit zur gefühllosen Härte wird. Er soll die Rechte anderer beachten und anerkennen und sich höflich und einfühlsam ausdrücken. Wie schön drückt Paulus in Vers 7 aus, wie er die Gnade und Güte schätzte, die er bei Philemon sah.

Auch wie er in den Versen 8 und 10 auf das Thema Onesimus zu sprechen kommt, ist taktvoll und feinfühlig. Er bittet, wo er apostolische Autorität hätte ausüben und befehlen können. Er stellt Onesimus als sein geistliches Kind vor, das ihm in einer schwierigen Zeit in seiner Gefangenschaft geschenkt wurde - eine Überlegung, die darauf abzielt, das Herz Philemons zu berühren. Auch in Vers 13 und den folgenden Versen sind gottgegebener Takt und Höflichkeit zu sehen. Paulus hätte Onesimus gern als Helfer in seiner schweren Zeit behalten, aber er meinte, ohne die Einwilligung Philemons wäre das eine ungerechtfertigte Anmaßung gewesen. Sein früherer Meister hatte gewisse Rechte, die Paulus gewissenhaft beachtete. Er erkannte an, daß, wenn er den Nutzen durch Onesimus' Hilfe gehabt hätte, es eine „Wohltat“ Philemons gewesen wäre. Diese Wohltat wollte er nicht beanspruchen und Philemon erst im nachhinein davon unterrichten, so daß dieser nicht anders gekonnt hätte, als gezwungenermaßen einzuwilligen. Nein, er schickt Onesimus zurück. Er wollte die Wohltat, wenn überhaupt, als Philemons freiwillige Gabe erfahren.

Vielleicht jedoch kehrte Onesimus zurück an den Ort, wo er einst der Sünde gedient hatte, und zu dem Meister, dem er unrecht getan hatte, um ihm besser und für immer zu dienen (Vers 15). Auf jeden Fall sollte jetzt alles auf einer neuen Grundlage geschehen. Wie höflich und taktvoll teilt der Apostel Philemon diese Tatsache mit, indem er darauf hinweist, daß er ihn jetzt nicht nur als Sklaven, sondern als geliebten Bruder besitzen würde. Unter diesen neuen Umständen wäre Onesimus' Dienst von ganz anderer Qualität, auch wenn die Quantität geringer ausfallen sollte oder wenn er ihn aus freien Stücken zurück nach Rom schickte, damit er dem Apostel helfe oder im Dienst Christi woandershin ginge.

Offensichtlich hatte Onesimus damals, als er noch nicht bekehrt war, Philemon unrecht getan. Sein früherer Meister hatte durch Veruntreuung von Geldern oder nachlässigen Dienst einen Verlust erlitten. Paulus weiß das oder vermutet es zumindest und übernimmt die volle Verantwortung für angemessene Erstattung. Der entstandene Schaden soll Paulus angerechnet werden. Mit eigener Hand schreibt er einen Schuldschein: „Ich will bezahlen“. Aber was für ein Meisterstück sind die folgenden Worte: „Daß ich dir nicht sage, daß du auch dich selbst mir schuldig bist.“

Also war Philemon selbst durch Paulus bekehrt worden; und wenn er in seiner Buchhaltung ein Konto auf den Namen des Paulus eröffnete und es mit dem finanziellen Verlust durch Onesimus belastete, müßte er ihm den Wert des hingebungsvollen Dienstes gutschreiben, der ihm durch großen Widerstand und Leiden Leben und ewiges Heil gebracht hatte.

Wir brauchen nur ruhig darüber nachzudenken, um zu merken, wie unwiderstehlich die Wirkung dieser Worte gewesen sein muß. Wenn Philemon bis dahin vielleicht dazu neigte, übermäßig gerecht und hart zu sein, wie wird das zerschmolzen sein! Was bedeutete sein Verlust überhaupt! Wie schäbig mußte das alles erscheinen, auch wenn es um Tausende ging, angesichts der großen Schuld der Liebe, die er dem Apostel schuldete. Das muß auf Philemon einfach überwältigend gewirkt haben.

Der Apostel war sich dessen ganz sicher, wie aus den Versen 20 und 21 hervorgeht. Sein Vertrauen zu Philemon war so groß, daß er annahm, er werde noch über das hinausgehen, was der Apostel ihm im Blick auf die Behandlung des Onesimus so eindringlich ans Herz legte. Das war doch eine schöne Anerkennung für Philemon! Kein Wunder, daß Paulus ihn als den „Geliebten“ anredet.

Weil wir wissen, welch schlimmer Schaden für den Namen Christi im Volk Gottes wegen ähnlicher Geschichten angerichtet wird, können wir diesen wichtigen Brief nicht genug betonen. Es geht um folgende Punkte:

Der schuldige Teil soll in aller Demut zu dem hingehen, dem er etwas schuldet, es bekennen und anerkennen, daß der andere ein Recht auf Wiedergutmachung hat.

Wem Unrecht getan wurde, der soll den reuigen Schuldigen in Gnaden aufnehmen und dabei berücksichtigen, was Gott in ihm alles gewirkt hat, sei es eine Bekehrung wie bei Onesimus, oder eine Einsicht und Zurechtbringung, wie es bei vielen von uns sein mag.

Der vermittelnde Teil sollte frei sein von allem, was nach einem diktatorischen Geist aussieht, sollte brennende Liebe zu beiden Parteien haben, die sich äußert in höflichen und taktvollen Bitten.

Schließlich zeigt uns dieser Brief eindrücklich, worum es beim Vermitteln geht, und macht den Vers anschaulich: „Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus“ (1. Tim 2,5). Gott ist es, der durch die Sünde verunehrt wurde. Der Mensch ist der Schuldige. Der Mensch Christus Jesus ist der Mittler.

Wir erkennen uns selbst in Onesimus und seiner traurigen Geschichte wieder. Auch wir waren „unnütz“. Wir haben Gott Unrecht angetan und waren folglich Seine Schuldner und konnten unsere Schuld nicht bezahlen. Auch wir sind vor Ihm weggelaufen, weil wir Ihn fürchteten und so weit wie möglich von Ihm entfernt sein wollten. Unsere Entfremdung war die Frucht der Sünde.

Die Mittlerschaft des Paulus veranschaulicht, wenn auch nur schwach, was Christus getan hat. Können wir nicht auch unseren Heiland reden hören, als Er auf dem Kreuz mit unseren Ungerechtigkeiten beladen, das Gericht ertrug, das wir verdient hatten? Sollen wir Ihm nicht ewig dafür danken, daß Er im Blick auf alles, was wir wegen unserer Sünden schuldig waren, zu Gott sagte: „So rechne dies mir an.“

Es gibt allerdings einen Unterschied. Wo Paulus schreiben mußte: „Ich will bezahlen“, benutzt unser auferstandener Heiland nicht die Zukunftsform. Als Ergebnis Seines Todes und Seiner Auferstehung sagt Er in den Evangelien: „Ich habe bezahlt“. Er ist wegen unserer Übertretung hingegeben und ist wegen unserer Rechtfertigung auferweckt worden. Deshalb sind wir durch den Glauben gerechtfertigt und haben wir Frieden mit Gott. Deshalb bleibt das Bild weit hinter der Wirklichkeit zurück.

Auch in dem Punkt stimmt unser Bild nicht: Gott mußte nicht dazu überredet werden, Seine Gnade zu erweisen, wie es bei Philemon der Fall war. Er ist selbst die Quelle der Gnade. Er braucht aber eine gerechte Grundlage, auf der Er Seine Gnade erweisen kann, so wie Paulus dem Philemon einen Grund für die Gnade gab, indem er alle Verpflichtungen des Onesimus auf sich nahm. Mittlerschaft muß, wenn sie richtig und wirkungsvoll sein soll, solche Verpflichtungen akzeptieren, denn nur dann kann Gnade durch Gerechtigkeit herrschen.

Gott sei Dank für die wirkungsvolle Mittlerschaft unseres Herrn Jesus, deren Ergebnisse ewig gültig sind. In diesem Punkt hilft uns wieder unsere Geschichte.

Erstens bittet Paulus einfach um die Aufnahme dessen, den er zurückgesandt hatte (V. 12.17). Er sollte nicht ignoriert und schon gar nicht abgewiesen, sondern aufgenommen werden. Wie voll und ganz hat Gott uns, die wir geglaubt haben, aufgenommen.

Zweitens sagt er: „Damit du ihn für immer besitzen mögest“ (V. 15). Früher waren die Beziehungen zwischen Onesimus und seinem Meister so, daß sie abgebrochen werden konnten und tatsächlich durch das Fehlverhalten des Onesimus abgebrochen wurden. Jetzt sollte die neue Beziehung so sein, daß sie nicht mehr abgebrochen werden konnte. Genauso verhält es sich mit Gottes gnädigem Handeln uns gegenüber. Als Frucht des Werkes Christi stehen wir vor Ihm in einer Beziehung, die ewig und unveränderlich ist.

Drittens äußert Paulus an Philemon eine Bitte, die sich so anhört, als könne dieser ihr beim besten Willen nicht entsprechen. „Wenn du mich nun für deinen Genossen hältst“, sagt er, „so nimm ihn auf wie mich“ (V. 17). Philemon hätte erwidern können: „Beim besten Willen, das kann ich einfach nicht. Aufnehmen will ich ihn, aufnehmen für immer auch. Aber es wäre bloß Heuchelei, so zu tun, als ob ich mich dazu durchringen könnte, ihn so zu aufzunehmen, wie ich dich, mein lieber Paulus, aufnehmen würde.“

Wir wagen zu sagen, daß das, was Philemon kaum getan haben konnte, Gott getan hat. Jeder, der glaubt, angefangen von Paulus bis zu uns und bis zum Schwächsten von uns und dem Neubekehrten, hat keine andere Stellung vor Gott als „begnadigt in dem Geliebten“ (Eph 1,6). Wir sind aufgenommen worden in der Annehmlichkeit und Gunst Christi selbst. Das ist etwas, das man mit Worten nicht ausdrücken kann und das unglaublich wäre, stände es nicht so in Gottes Wort.

Darin stimmt das Bild wieder völlig überein, auch in den zugrundeliegenden Tatsachen, die das Ganze bestimmen. Wie schon gesagt, die Verbindung zwischen Paulus, dem Mittler, und Onesimus, dem Schuldigen, war die Liebe. Zwischen Paulus und Philemon, dem unrecht getan worden war, war es Genossenschaft.

Wenn wir durch den Glauben zu dem verherrlichten Menschen Christus Jesus aufblicken, dem einen Mittler, erkennen wir mit Anbetung, daß zwischen Ihm und Gott völlige Gleichheit besteht, denn Er ist Gott. Deshalb ist Er groß genug, „daß er seine Hand auf uns beide legte“ (Hiob 9,33). Er kann Seine Hand auf Gott legen, weil Er Sein „Genosse“ ist (Sach 13,7). Doch hat Er Seine Hand auch auf uns gelegt, zu unserem ewigen Segen. Er hat uns an Seinen eigenen Platz gebracht und in Seine eigene Beziehung, indem Er uns in der Stärke Seiner ewigen LIEBE verbindet.

Doch auch hier müssen wir wieder feststellen, wie der Vergleich hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, denn Gott, der Vater, liebt so wie Christus, der Sohn. Die Liebe des Vaters und die Liebe Christi sind wunderbar ineinander verflochten.