Der Brief des Jakobus

Kapitel 3

Der Brief des Jakobus

Mit Kapitel 3 beginnt eine neue Reihe von Ermahnungen. Jakobus verläßt das Thema über die Werke des Glaubens, um seine Brüder zu ermahnen wegen der allgemein verbreiteten Schwäche, gerne über andere zu bestimmen, auch wenn man noch nicht im geringsten gelernt hat, sich selbst zu zügeln. „Seid nicht viele Lehrer, meine Brüder.“ Wenn wir einen Blick auf Römer 2,17-21 werfen, erkennen wir, daß der Jude sehr davon eingenommen war, andere zu belehren, und, gläubig geworden, blieb ihm diese Neigung zweifellos noch erhalten. Es lag ihm, als Lehrer aufzutreten, und es lag ihm weniger, belehrt zu werden und mit Sanftmut das eingepflanzte Wort zu empfangen.

Andere Schriftstellen lassen keinen Zweifel daran, daß es Gott gefällt, unter anderen Gaben in der Versammlung Lehrer zu erwecken, und alle diese Gaben sollten wir dankbar annehmen. Die Verse vor uns sprechen nicht im mindesten dagegen, aber sie warnen uns vor dem Wunsch, der dem Fleisch so natürlich ist, beständig zu belehren und für andere Leute Gesetze zu machen. Die Tatsache, daß solche, die lehren, ein schwereres Gericht empfangen, verglichen mit solchen, die belehrt werden, mag uns wohl veranlassen, uns zurückzuhalten.

Jakobus bringt hier nur zur Geltung, was der Herr Jesus selbst in Matthäus 23,13-16 lehrte, als Er sich an die Schriftgelehrten und Pharisäer wandte, die die selbsternannten religiösen Lehrer damaliger Tage waren. Im Licht dieser Verse gibt es offensichtlich unterschiedliche Grade in der Schwere des göttlichen Gerichts, so daß von denen, die mehr Licht und Einsicht haben, auch mehr erwartet wird und sie nach strengeren Maßstäben gerichtet werden. Außerdem ist deutlich, daß wir gemäß dem Platz, den wir einnehmen, beurteilt werden, ob wir dahin von Gott berufen worden sind oder nicht. Keiner von uns sollte sich in die Stellung eines Meisters oder Lehrers drängen. Anderseits, wenn Gott wirklich einen Bruder berufen hat, ein Lehrer zu sein oder irgendeinen anderen Dienst aufzunehmen, wehe ihm, wenn er sich um seine Verantwortung drückt und sein Pfund in ein Schweißtuch einbindet.

Die einfache Wahrheit ist, daß wir alle oft straucheln. Die meisten Verstöße haben mit unserem Reden zu tun; und in unseren Worten Gott gegenüber zu straucheln, ist besonders ernst, wenn wir Lehrer sind, weil wir durch Worte lehren. Mose illustriert den Gedanken. Er war ein von Gott erweckter und ausgerüsteter Lehrer, und deshalb sollten seine Worte Gottes Worte sein. Wenn er im Wort strauchelte, traf ihn ein weit schwereres Gericht, als es einen gewöhnlichen Israeliten in seiner Sünde getroffen hätte.

Wie sind Zungensünden so alltäglich! Wir alle straucheln oft, und in unseren Worten sehr oft. Daher ist es so, daß man von einem Menschen, der nicht im Wort strauchelt, als von einem „vollkommenen Mann“ sprechen kann, der sozusagen den letzten Schliff erlangt hat. Er ist außerdem fähig, sich selbst in allem zu beherrschen. Wenn wir an uns selbst denken oder auch auf andere schauen, mögen wir wohl fragen, wo wir diesen so selbstbeherrschten und vollkommenen Mann finden. Wir kennen ihn nicht. Nun, das sollte uns lehren, daß wir langsam sind, den Platz eines Lehrers einzunehmen; denn es ist so überaus wichtig, daß jemand, der danach strebt, ein Lehrer über andere zu sein, zuerst Lehrer über sich selbst ist.

Der Apostel fährt noch fort, in leicht verständlicher Sprache über unsere Zunge zu sprechen, und benutzt dazu zwei ausdrucksvolle Bilder: zuerst den Zaum oder das Gebiß, um Pferde zu leiten; zweitens das Ruder, um Schiffe zu steuern.

Das Gebiß ist ein sehr kleines Gerät im Vergleich zu der Größe eines Pferdes, doch durch diese einfache Vorrichtung gewinnt ein Mann die vollständige Herrschaft und, sobald das Tier daran gewöhnt und fügsam ist, genügt sie, seinen ganzen Körper zu lenken.

Schiffe sind groß und werden getrieben von starken Winden oder in unseren Tagen von Schiffsschrauben, die mit Dampfmaschinen oder Motoren verbunden sind, doch gesteuert werden sie mittels eines Ruders, das, verglichen mit der Masse des Schiffskörpers, sehr klein ist.

So ist auch die Zunge ein kleines Glied. Und doch ist sie ein Instrument, das Großes bewirken kann, sei es zum Guten oder zum Bösen. Wenn Zungen der Menschen die frohe Botschaft verkündigen, o wie lieblich sind dann deren Füße auf den Bergen! Ach, da die Zunge gewöhnlich der Kommunikation unter Menschen dient, bezeichnet Jakobus sie mit Recht als „ein Feuer, die Welt der Ungerechtigkeit“. Klein wie sie ist, rühmt sie sich großer Dinge. Sie kann gleich einem kleinen Feuerfunken sein, aber wie manche verheerende Feuersbrunst ist durch einen kleinen Funken entstanden!

Der Apostel hatte zuerst in Kapitel 1,26 auf die Gefahren der Zunge angespielt. In Kapitel 2 stellt er den Werken des Glaubens den bloßen Gebrauch der Zunge gegenüber, die sagt, man habe Glauben. In diesem Kapitel nun gebraucht er in den Versen 6-8 zur gleichen Sache eine überaus scharfe Sprache. Doch will jemand, der die von der Zunge angerichteten furchtbaren Verheerungen kennt, sagen, er habe übertrieben? Was für Schaden ist schon unter Christen durch vorschnelles, törichtes und böses Schwatzen entstanden? Wenn wir lesen, „die Zunge ist unter unseren Gliedern gesetzt, als die den ganzen Leib befleckt“, so zeigt der Zusammenhang, daß Jakobus den menschlichen Körper meint. Doch es würde ebenso wahr sein, wenn wir es auf die Versammlung beziehen, die der Leib Christi ist, dessen Glieder wir alle sind. Durch die Zunge ist mehr Verunreinigung in die Kirche Gottes gebracht worden als durch irgend etwas anderes.

Dabei hat die Zunge nicht nur direkte unheilvolle Wirkungen, sondern vielfach auch indirekte. Der ganze Lauf der Natur kann durch sie angezündet werden. Triebe und Kräfte können erregt und die niedrigsten Leidenschaften zur Betätigung angestachelt werden. Wenn die Zunge dazu benutzt wird, können wir ganz sicher sein, daß sie sich selbst vom Feuer der Hölle anzünden ließ. Sie wurde vom Teufel versklavt und für seine Zwecke mißbraucht. Er war es, der den Funken schlug und mit Hilfe der Zunge das Böse zu einer Feuersbrunst anfachte.

Ein anderes Merkmal, das die Zunge kennzeichnet, tritt in den Versen 7 und 8 vor uns, und das ist ihre Unbezähmbarkeit. Der Mensch vermag alle Arten von Geschöpfen zu zähmen, aber seine eigene Zunge kann er nicht zähmen. Der Grund dafür ist ziemlich einsichtig. Durch Reden besitzt das Herz die großartige Möglichkeit, sich selbst mitzuteilen, deshalb müßte zuerst das Herz gezähmt werden, wenn die Zunge gezähmt werden soll. Und eben das ist dem Menschen unmöglich. Dazu ist Gottes Gnade und Gottes Kraft erforderlich. Aus sich selbst bringt die Zunge nur das tödliche Gift hervor, das sich im menschlichen Herzen verbirgt.

Eine weitere Eigentümlichkeit wird in Vers 9 und den folgenden Versen erwähnt. Es besteht eine seltsame Inkonsequenz der Zunge, wenn Gottes Volk in Betracht kommt. Unbekehrte Menschen preisen Gott nicht, und auch nicht den Vater. Sie kennen Gott überhaupt nicht wirklich, und um so weniger kennen sie Ihn als Vater. Christen kennen Ihn und preisen Ihn; und doch gibt es Zeiten, wo überaus gegensätzliche Äußerungen über ihre Lippen kommen. Manchmal gehen sie sogar so weit, daß sie Menschen verfluchen, die im Ebenbild Gottes erschaffen sind. So kommen aus demselben Mund Segen und Fluch hervor. Kein Wunder, daß Jakobus so nachdrücklich sagt: „Dies, meine Brüder, sollte nicht so sein.“

Darüber gibt uns die Natur selbst eine Belehrung. Wir finden Quellen süßen, frischen Wassers und auch Quellen salzigen oder bitteren Wassers. Aber nie kommt es vor, daß eine Quelle aus derselben Öffnung beides sprudelt. Wir finden Fruchtbäume verschiedener Art, und ein jeder bildet seine eigene Frucht. Aber niemals verletzt ein Baum dieses Grundgesetz der Natur, daß er nicht Früchte der ihm eigenen Art hervorbrächte. Warum beobachten wir denn ein solch befremdliches Phänomen unter Christen?

Die Antwort weist auf zweierlei hin. Christen waren zunächst einmal sündige Geschöpfe, die eine sündige Natur besitzen, genau wie alle übrigen Menschen. Jetzt aber sind sie wiedergeboren und besitzen folglich eine neue Natur, ohne daß die alte Natur ausgerottet ist. Deshalb gibt es in ihnen, wenn wir so sagen dürfen, zwei Quellen: die eine kann nur Böses hervorbringen, die andere nur Gutes. So erklärt sich die sonderbare Mischung, die der Apostel so energisch verurteilt.

Hier könnte vielleicht jemand bemerken, daß man einen Gläubigen, wenn es so um ihn steht, nicht hart verurteilen sollte, wenn seine Zunge die bitteren Wasser der alten Natur hervorquellen läßt. Ach, die so sprechen, vergessen, daß das Fleisch, unsere alte Natur, durch das Kreuz gerichtet und verurteilt worden ist. „Die Sünde im Fleisch“, wie Römer 8,3 diesen Ausdruck verwendet, ist verurteilt, und der Gläubige, der dies weiß, ist verantwortlich, sie als gerichtet und verdammt zu behandeln, d.h., ihr nicht zu erlauben, daß sie sich betätigt. Ein Gläubiger IST daher ernstlich ZU TADELN, wenn seine Zunge das böse Fleisch herauskommen läßt.

Der Apostel Jakobus erläutert uns nicht die Wahrheit über das Kreuz Christi. Dieser Dienst war nicht ihm, sondern dem Apostel Paulus anvertraut. Was Jakobus aber mitteilt, steht völlig in Einklang mit dem, was der Römerbrief entfaltet. Der weise Mensch soll seine Weisheit mit einer Sanftmut vorstellen, die zugleich seine Werke und seine Lebensführung prägt. Wenn sich das Gegenteil kundtut - bitterer Neid und Streit, dem auch alle Zungenübel entspringen - ein solcher tut groß und lügt gegen die Wahrheit.

Was ist diese Wahrheit, gegen die wir allzuoft lügen? Jeder Ausbruch des Fleisches, ob durch die Zunge oder auf andere Weise, ist praktisch eine Leugnung der Tatsache, daß die Sünde im Fleisch im Kreuz Christi verurteilt wurde. Was ist Wahrheit? Das Kreuz Christi oder meine verletzende Streitsucht und meine scharfe Zunge? Unmöglich können beide die Wahrheit sein. Das Kreuz Christi ist Wahrheit, mein Böses ist eine Lüge wider die Wahrheit.

Es ist auch eine Lüge gegen die Wahrheit, daß wir aus Gott geboren sind und daß Er uns anerkennt als einsgemacht mit der neuen Natur, die unsere Natur ist als geboren aus Ihm, und nicht mehr mit der alten Natur, die wir durch natürliche Abstammung von Adam her haben.

Vers 15 unterscheidet zwei Arten von Weisheit sehr deutlich. Wenn wir die beiden Naturen, die diesen Weisheiten zugrunde liegen, klar zu unterscheiden wünschen, müssen wir sorgfältig Römer 7 lesen. Die Weisheit, die von Gott ist, bringt die Wesenszüge der neuen Natur zur Entfaltung, und die andere Weisheit jene der alten Natur. Letztere sind irdisch geprägt, sinnlich oder natürlich, sogar teuflisch; denn die menschliche Natur ist leider unter die Macht des Teufels gefallen und hat seine Wesenszüge angenommen.

Vers 16 faßt sie zusammen. An ihrer Wurzel liegen Neid und Eifersucht. Dies war die ursprüngliche Sünde des Teufels. Durch sein neidisches Streben nach Selbsterhöhung kam er zu Fall. Ein solches Streben gebiert den Streit, der seinerseits Zerrüttung und jede schlechte Tat zur Folge hat. Der gefallene Mensch sieht Weisheit darin, sich so zu verhalten. Der Durchschnittsmensch hält es für klug, Pläne zu machen und für sich selbst zu kämpfen, immer darauf aus zu sein, als die Nummer eins zu gelten, wie man sagt.

Wir groß ist der Gegensatz zu der Weisheit von oben, die Vers 17 in Einzelheiten beschreibt. Ihre Merkmale können nicht von der Art sein, daß sie auf großen Erfolg in dieser Welt aus sind, aber sie sind zur Freude für Gott und das erneuerte Herz. Wer sich darin übt, darf Gott auf seiner Seite wissen. Beachte, daß Reinheit an erster Stelle steht, noch vor Friedsamkeit. Wenn wir darüber nachdenken, erscheint das einleuchtend, da alles von Gott kommt. Er schließt keine Kompromisse mit dem Bösen, und deshalb kann kein Friede sein außer in Reinheit. Immer wieder war das die Botschaft der Propheten. Siehe beispielsweise Jesaja 48,22; 57,21; Jeremia 6,14; 8,11; Hesekiel 13,10.16.

Friedfertigkeit und Milde, Nachgiebigkeit und Barmherzigkeit sollten uns kennzeichnen, aber immer im Bund mit der Reinheit, ohne Zugeständnisse gegenüber dem Bösen.

Es gibt bei der Behandlung dieser Frage noch eine andere Seite. Obwohl die Weisheit von oben zunächst rein ist, und danach erst friedsam und gelinde, verhält sie sich doch immer friedenstiftend. Niemals kennzeichnet sie ein streitsüchtiger Geist. Der letzte Vers dieses Kapitels macht dies sehr klar. Solche, die Frieden stiften, werfen eine Saat aus, aus der als Ernte die Frucht der Gerechtigkeit hervorgeht. Friede und Gerechtigkeit sind nicht getrennt im Christentum, und noch viel weniger streiten sie gegeneinander. Vielmehr gehen sie Hand in Hand.

Eine alte Prophezeiung erklärte: „Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit ewiglich“ (Jes 32,17). Sie wird sich erfüllen im Reich Christi, doch das Evangelium bringt uns heute schon Frieden auf genau demselben Grundsatz. Römer 3 spricht von Gerechtigkeit, die im Tod Christi offenbart und aufgerichtet worden ist. Römer 4 spricht von Gerechtigkeit, die dem Gläubigen zugerechnet wird. Daher beginnt Römer 5 mit den Worten: „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“

Weil dies so ist, bedeutet Frieden zu stiften für den Christen nichts anderes, als praktische Gerechtigkeit zu üben, die dann zur gegebenen Zeit ihren Ertrag - Frieden - hervorbringen wird. Die Reinheit muß immer an erster Stelle stehen, aber sogar sie muß in friedlichem, nie streitsüchtigem Geist erstrebt werden.

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