Die Apostelgeschichte

Kapitel 22

Die Apostelgeschichte

In allem Geschehen um Paulus in Jerusalem ist es nicht schwer, die Hand Gottes zu erkennen, die hinter der Szene waltete. Obwohl die ganze Stadt in Aufruhr war, verübte keiner einen tödlichen Schlag, und genügend Zeit verging, bis der Oberste eingreifen konnte. Daß Paulus ihn dann auf Griechisch ansprach, bewirkte einen günstigen Eindruck auf den Obersten und verschaffte ihm die Erlaubnis, von den Stufen der Burg aus zu der aufgebrachten Volksmenge zu sprechen. Paulus wählte dann Hebräisch zu seiner Ansprache, worauf eine völlige Stille eintrat und das, was er zu sagen hatte, aufmerksam gehört wurde.

Es fällt auf, daß wir in der Apostelgeschichte zwei vollständige Berichte von der Bekehrung des Kornelius finden. In Kapitel 10 berichtet Lukas als ein Geschichtsschreiber, und dann gibt er in Kapitel 11 wieder, wie Petrus sie dargestellt hat. In Kapitel 15 haben wir einen sehr kurzen dritten Bericht, als auf dem Apostelkonzil in Jerusalem Petrus sich auf dieses Ereignis bezieht. Ebenso haben wir auch drei Berichte über die Bekehrung des Paulus. In Kapitel 9 berichtet Lukas als Geschichtsschreiber; in Kapitel 22 berichtet er, wie Paulus selbst sie seinem eigenen Volk erzählt hat, und in Kapitel 26, wie er sie heidnischen Machthabern erzählt. Beide Bekehrungen waren epochemachend und von der allergrößten Bedeutung. In dem einen Fall erfolgte die entscheidende formale Berufung von Heiden durch das Evangelium zu den gleichen Segnungen wie Juden, und zwar unter den gleichen Bedingungen; und im anderen war es die Berufung des Erzverfolgers, damit er zu einem Werkzeug würde, das Evangelium in die heidnische Welt hinauszutragen.

Wenn wir den Bericht in Kapitel 22 lesen, beeindruckt uns das von Gott gegebene Geschick, das Paulus beim Aufbau dieser Ansprache anwandte. Er begann damit, ihnen seine früheren Lebensjahre zu schildern, als seine Lebensweise noch ganz und gar mit ihren Vorstellungen übereinstimmte. Er mußte ihnen vollkommen erscheinen hinsichtlich seiner Abstammung, seiner Erziehung, seines Eifers und auch seines Hasses gegenüber den Christen. Dann geschah der Einbruch in sein Leben vom Himmel her, der sich klar als ein Handeln Gottes auswies. Nun ist jede wahre Bekehrung ein Ergebnis göttlichen Wirkens, doch sie geschieht im allgemeinen durch irgendein menschliches Werkzeug, und Gottes Wirken wird nur durch den Glauben erkannt. Bei Paulus gab es kein menschliches Instrument, hier wirkte etwas völlig Übernatürliches ein, das sich an Auge und Ohr wandte -- ein großes Licht und eine machtvolle Stimme -- und ihn hingestreckt auf den Boden warf. Die Art seiner Erzählung nötigte seine Zuhörer zu dem Eindruck, daß die Tatsache der in ihm stattgefundenen Veränderung, die sich ihnen als ein unerträgliches Ärgernis darstellte, von Gott bewirkt worden war.

Die Stimme, die ihn anhielt, war die Stimme Jesu, und hier erfahren wir den ganzen Ausspruch, der vom Himmel her geschah: „Ich bin JESUS VON NAZARETH, den du verfolgst.“ Die beiden Wörter „von Nazareth“ fehlen in Kapitel 9; auch in Kapitel 26, wo er zu den Heiden spricht, erscheinen sie nicht, aber hier, wo er zu den Juden spricht, sind sie von ungeheurer Bedeutung. Sie hatten Seinem Namen jene Wörter angehängt als Makel und Schande; aber jetzt war Jesus von Nazareth im Himmel!

Mögen wir uns an dieser Stelle warnen lassen, die Namen und Titel unseres Herrn nicht auf unbillige und vorschnelle Weise zu zerteilen, obwohl es durchaus nützlich ist, die Bedeutung der einzelnen Ausdrücke zu bedenken. Wir möchten erwartet haben, daß Er gesagt hätte: „Ich bin der Eine, der ich in den Tagen meines Fleisches Jesus von Nazareth war“; dann hätte jener Name ausschließlich auf Seine Anwesenheit auf Erden verwiesen. Aber Er sagte nicht „Ich war“, Er sagte „Ich bin“. Er streift Seine Namen nicht ab, denn Er ist in sich eins und unteilbar.

Obwohl Paulus seine Bekehrung so darstellt, daß hier Gott allein handelte, erzählt er, wie Ananias von Gott benutzt wurde, ihm das Augenlicht wiederzugeben und ihm die Berufung mitzuteilen, daß er ein Zeuge sein sollte, nachdem er getauft wäre. Auch betont er ausdrücklich, daß Ananias ein frommer und wohlangesehener Mann in der jüdischen Gemeinde zu Damaskus war. Beachten wir wohl, daß Paulus sowohl den verherrlichten Heiland sehen als auch Seine Stimme hören sollte; und das, was er sah und hörte, sollte er bezeugen. Deshalb spricht er von dem Evangelium, das er predigte, als von dem „Evangelium der Herrlichkeit des Christus“.

Beachten wir auch, wie die Taufe und das Abwaschen der Sünden hier miteinander verbunden sind, genau so wie wir es in Kapitel 2,38 und bei der Taufe des Johannes finden. Ananias fügt hinzu: „indem du den Namen des Herrn anrufst“; diese Aufforderung weist auf die christliche Taufe und nicht auf die des Johannes hin. Die Taufe hat ihre besondere Bedeutung im Fall des Juden; von daher erklärt sich ihre herausragende Stellung, die sie am Pfingsttag und auch bei der Bekehrung des Saulus einnahm. Es waren die Juden, die Christus verworfen hatten, und jetzt mußten sie ihr stolzes Haupt beugen und im Symbol der Taufe in den Tod hinabsteigen, um Seinem Namen Anerkennung zu geben. Sie war das äußere Zeichen ihrer Unterwerfung unter den, den sie zurückgewiesen hatten, und nur so konnten ihre Sünden abgewaschen werden.

Paulus erzählt dann, was ihm bei seinem ersten Besuch in Jerusalem begegnete; auch in Kapitel 9,26 wird diese Reise erwähnt. Aber weder dort noch in Galater 1 wird das Gesicht im Tempel erwähnt, nur hier lesen wir davon. Es ist bemerkenswert, daß die beiden Apostel Petrus und Paulus den Zustand einer Verzückung erleben mußten und ein Gesicht hatten, das ihren Dienst an den Nationen betraf -- Petrus, damit er durch die jüdischen Gebräuche durchbrechen und den Nationen das Reich Gottes aufschließen möchte, Paulus, damit er die Evangelisierung der Heiden als seine Lebensaufgabe annehmen sollte. Auf diesem Weg wurde mit doppeltem Nachdruck herausgestellt, daß das Herzubringen der Heiden der wohlbedachte Wille und Vorsatz Gottes war.

Dank seiner Vergangenheit mochte Paulus fühlen, daß er vorzugsweise geeignet war, seiner eigenen Nation das Evangelium zu bringen, und so wagte er es, das dem Herrn vorzustellen, doch nur um gesagt zu bekommen, daß die Juden das Zeugnis aus seinem Munde nicht annehmen würden und er deshalb weit weg zu den Nationen gesandt werden sollte. Alles dies redete er zu der Volksmenge, und beim Nachlesen des Berichts spürt man die überzeugende Kraft seiner Worte. Dachte er, daß wenigstens einige aus seinem Volk überführt werden müßten? Doch da stand jenes Wort des Herrn, vor zwanzig oder mehr Jahren gesprochen: „Sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen“; und es wurde bekräftigt durch die besondere Botschaft des Heiligen Geistes, daß er nicht nach Jerusalem gehen sollte. In jenem Augenblick bewahrheiteten sich die Worte des Herrn. Indem Paulus noch die Heiden erwähnte und daß Gott auch ihnen Seine Erbarmungen zuwendet, trieb es seine Zuhörer zur Raserei. Sie wollten seine Worte nicht hören. Mit ungestümer Heftigkeit forderten sie seinen Tod. Als Paulus dem Auftrag nachkam, den Gott ihm an die Nationen gegeben hatte, da wurde ihm die Freude geschenkt, das Werkzeug zu sein, auch aus seinem eigenen Volk den „Überrest nach Wahl der Gnade“ zu erreichen; aber als er sich von diesem Weg abwandte und seine volle Aufmerksamkeit auf sein eigenes Volk richtete, blieb sein Zeugnis ohne Segensfrucht.

Die maßlose Wut der Volksmenge und ihr Geschrei in hebräischen Lauten durchkreuzte augenscheinlich die Absicht des Obersten; nunmehr war eine Vernehmung unter Auspeitschen in jenen Tagen der zulässige Weg, einen Zeugnisbefund zu erzwingen. Diese Maßnahme wurde dadurch verhindert, daß Paulus seine römische Staatsbürgerschaft erwähnte. Unter Gottes Hand ergab sich für Paulus die Gelegenheit zu einem weiteren Zeugnis vor den höchsten Männern seiner Nation. Auf Befehl des Obersten wurde für den nächsten Tag das Synedrium zusammengerufen.

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