Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 6

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

In diesem Kapitel tritt noch eine andere Form der Bosheit, außer derjenigen Babels, vor unsere Blicke. Kores hatte zwar persönlich eine bessere Gesinnung, und Gott, der dieselbe in ihn gepflanzt hatte, benutzte ihn, um Sein Volk für eine Zeit wiederherzustellen, damit der Messias kommen und Sich ihm darstellen könnte - die letzte Probe, welcher Gott Sein geliebtes Volk unterwarf. Es ist deshalb auch nicht Kores, den wir hier als Werkzeug der Bosheit finden, welche Daniel umzubringen trachtete - jenes menschlichen Willens, der nie die Treue gegen Gott ertragen kann. Auch handelt es sich hier nicht um Götzendienst, noch um eine Verhöhnung Jehovas, sondern um die Selbsterhebung des Menschen, der jeden Gedanken an Gott verbannen und gar keinen Gott haben möchte. Dies ist einer der Züge, welche die Tiefen des menschlichen Herzens kennzeichnen.

Im allgemeinen gefällt dem Menschen ein Gott, der ihm bei der Befriedigung seiner Leidenschaften und Begierden behilflich ist, sehr gut; ein Gott, der seinen Absichten dient, die auf die Einigung seines Reiches und die Befestigung seiner Macht gerichtet sind, passt ihm. Der religiöse Teil der menschlichen Natur wird durch Götter dieser Art zufriedengestellt und ist gern bereit, ihnen Verehrung darzubringen, obwohl derjenige, der als Herrscher in seinem Reiche solche Götter aufstellt, es nur aus politischen Gründen tun mag. Arme Welt! Der wahre Gott passt weder ihrem Gewissen noch ihren Lüsten. Dem Feinde unserer Seelen gefällt es wohl, wenn er in dieser Weise den religiösen Neigungen unserer Natur Nahrung geben kann. Eine solche Religion führt Götter ein, die mit den Wünschen des natürlichen Herzens, welcher Art diese auch sein mögen, übereinstimmen; doch berufen jene Götter niemals das Herz in ihre Gemeinschaft, noch üben sie eine Einwirkung auf das Gewissen aus. Sie mögen wohl dem Menschen die Beobachtung von Zeremonien und Satzungen auferlegen, denn diese gefallen dem Menschen; aber sie sind nie imstande, zwischen sich und einem erwachten Gewissen Beziehungen herzustellen. Die Befürchtungen und Wünsche des Menschen bilden den Bereich, in welchem sie ihren Einfluss ausüben. Sie erzielen nichts im Herzen, was über die Tätigkeit natürlicher Freuden und Befürchtungen hinausgeht.

Andererseits offenbart sich der Hochmut des Menschen zuweilen in einem Charakter, auf welchen das eben Gesagte keinerlei Anwendung findet. Der Mensch will selbst Gott sein und nach seinem eigenen Willen handeln; sein Hochmut kann alles das, was ihm diesen Platz streitig machen will, nicht ertragen und sucht sich desselben zu entledigen. Er kann nicht leugnen, dass, wenn es wirklich einen Gott gibt, ihm dieser überlegen sein muss; und dies ist ihm, da er allein und unabhängig dastehen will, unerträglich. Daher muss Gott beseitigt werden. Diese Gesinnung machen sich die Feinde der Treuen zunutze. Die Grausamkeit ist hier weniger erfinderisch, nur zeigt sich ihre List darin, dass sie, indem sie der höheren Macht schmeichelt, es ausschließlich auf die Übertreter und Verächter des Wortes derselben abgesehen zu haben scheint.

Da es sich um einen Kampf mit Gott Selbst handelt, so sehen wir, dass gegen Menschen hier mit größerer Nachlässigkeit und geringerer Leidenschaft vorgegangen wird. Leidenschaftlichkeit verbindet sich weniger mit dem Hochmut des Menschen als mit seinem Willen. Der Mensch, so hoch auch seine Stellung sein mag, ist der Sklave derjenigen, welche ihm den Weihrauch ihrer Schmeicheleien darbringen. Der Eigenwille zeigt sich mehr als sein eigener Herr. In dem vorliegenden Falle sieht sich der durch seine Eitelkeit betrogene König durch Gesetze gebunden, die offenbar zu dem Zwecke erlassen worden waren, um seine Untertanen vor seinen Launen zu schützen, die jedoch den Anschein hatten, als gäben sie seinem Willen und seiner Weisheit die Eigenschaft der Unwandelbarkeit, eine Eigenschaft, welche Gott allein zukommt. Daniel wird in die Löwengrube geworfen. Gott bewahrt ihn. Dasselbe wird Er am Ende des Zeitalters im Blick auf den Überrest tun. Das Strafgericht, welches die Feinde Israels über die Treuen unter dem Volke zu bringen trachteten, kommt an ihnen selbst zur Ausführung. Indessen geht die Wirkung dieses Gerichts weiter als in den früheren Fällen. Nebukadnezar verbot, dass irgend etwas Böses über den Gott Israels geredet würde, und er erhob den König des Himmels, durch welchen er gedemütigt worden war. Darius aber befiehlt, dass an jedem Orte der Gott Daniels und Israels anerkannt werde, als der einzig lebendige Gott, dessen Königreich ewig währt, und der tatsächlich den Mann, welcher Ihm vertraute, errettet hatte. Darius scheint wirklich einige Achtung vor Gott und der Frömmigkeit Daniels gehabt zu haben. Er nennt Ihn nicht seinen Gott, sondern den Gott Daniels, doch erweist er Ihm Ehre und nennt Ihn sogar den lebendigen Gott.

So sehen wir, dass Götzendienst, Gottlosigkeit und ein Hochmut, der sich über alles erhebt, die kennzeichnenden Züge der großen Reiche, welche uns von Daniel vor Augen gestellt werden, sowie die Ursachen ihres Gerichts sind. Das Gericht hat die Wirkung, dass der Gott der Juden als der lebendige Gott, der da rettet, und als der Höchste, der über das Königtum der Menschen herrscht, anerkannt wird. Dieselben Züge werden sich in den letzten Tagen wiederfinden. Damit endet der erste Teil des Buches.

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