Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 1-2

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

In Daniel 1 sehen wir, wie das Königtum Judas, das Gott in der Person Davids über Sein Volk eingesetzt hatte, unter die Macht Nebukadnezars fällt und der König, der Gesalbte Jehovas, durch Jehova Selbst in die Hände des Hauptes der Nationen gegeben wird, welchem Gott jetzt die Macht verliehen hatte. Das, was Jesaja angekündigt hatte (Jes 39, 7), trifft jetzt die Kinder von dem königlichen Samen; aber Gott wacht über sie und verschafft ihnen die Gunst derer, die sie zu bewachen hatten. Dies war besonders der Fall im Blick auf Daniel. Die beiden Merkmale, durch welche sich der in der Gefangenschaft befindliche treue Überrest auszeichnet, treten in diesem Kapitel klar und deutlich hervor. Das erste ist, dass sie, obwohl fern vom Tempel Gottes, doch Seinem Willen treu bleiben und sich unter den Nationen nicht verunreinigen, zweitens wird ihr Gebet erhört, und sie erhalten Verständnis, wie wir es bei Daniel in Kapitel 2 sehen, ja, selbst Kenntnis von dem, was Gott allein offenbaren kann, sowie von Seiner Absicht bei dieser Offenbarung. Dieses Verständnis besitzen sie allein, es ist ein Zeichen der Gunst Gottes und eine Frucht ihrer Treue, durch die Gnade. Wir sehen dies besonders bei Daniel, dessen Glaube und ernste Entschiedenheit auch seinen Genossen den Pfad des Glaubens bezeichnen. Dies hinderte sie nicht, den Nationen unterwürfig zu sein; denn Gott hatte für jene Zeit die Macht in die Hände derselben gelegt. Doch es ist ein Grundsatz von außerordentlicher Wichtigkeit, dass in den Tagen babylonischen Verderbens und babylonischer Macht wahre Erkenntnis, Einsicht in die Gedanken Gottes, in das, was das Geheimnis des Herrn genannt wird, da gefunden werden, wo man sich von der leisesten Berührung mit dem, was Babel darreicht, mit der Speise, die es uns vorsetzen will, unbefleckt erhält.

Andererseits sehen wir im zweiten Kapitel, wie der mächtige König der Nationen göttliche Mitteilungen empfängt, in denen ihm die Geschichte der Nationen und der ganze Plan Gottes anvertraut werden; indessen geschieht dies in einer Weise, dass Daniel, der gefangene Jüngling aus Israel und zugleich der Treue, der sich in Babel abgesondert erhielt, als derjenige erscheint, dem der Herr das Siegel Seiner Anerkennung gab, und der sich Seiner Gunst erfreute. Doch wir müssen die Einzelheiten dieses Kapitels, das einen allgemeinen Überblick von der Geschichte der Macht der Nationen gibt, beginnend mit der Nebukadnezar verliehenen Herrschaft, noch etwas genauer betrachten.

Es ist zu bemerken, dass die heidnischen Reiche als ein Ganzes geschaut werden. Sie werden weder in geschichtlicher Aufeinanderfolge gesehen, noch tritt hervor, wie sie sich Gott und Menschen gegenüber verhalten; vielmehr bilden alle Reiche zusammen vor Gott gleichsam eine Persönlichkeit, den Menschen der Erde, wie er vor den Augen Gottes steht - herrlich und furchtbar in seinem äußeren Glanze vor den Blicken der Menschen. Vier mit der höchsten irdischen Gewalt bekleidete Mächte waren bestimmt, aufeinander zu folgen; als das große Haupt derselben war Nebukadnezar selbst von Gott eingesetzt worden. In gewissen Beziehungen sollte sich eine fortschreitende Verschlechterung offenbaren, bis endlich der Gott des Himmels eine andere Macht erstehen lassen würde, die an der dann noch existierenden Gericht ausüben und das Bild von der Erde verschwinden lassen würde, indem sie anstelle desselben ein Königtum errichtet, welches ewiglich nicht untergehen wird. Trotz des fortschreitenden Verfalls der herrschenden Macht, ihren Grundsätzen und ihrem Charakter nach, sollte indes die tatsächliche Stärke der Reiche keine Verringerung erfahren. Eisen, welches alles zermalmt und zertrümmert, charakterisiert die vierte Macht. Die besondere Vortrefflichkeit, durch welche sich das Haupt von Gold auszeichnet, besteht, wie mir scheint, darin, dass es seine Machtstellung unmittelbar von Gott Selbst empfangen hat. Die unumschränkte Autorität der ersten Macht gründete sich tatsächlich darauf, dass sie von dem Gott des Himmels verliehen war, die übrigen folgten ihr, so wie Gott es in Seiner Vorsehung geschehen ließ. Während Gott, anerkannt als oberster Herrscher, dem Haupte von Gold Autorität verlieh und Seine eigene Autorität auf Erden durch diejenige des Hauptes der Nationen ersetzte, war Er für die anderen Reiche nicht die unmittelbare Quelle ihrer Autorität. Babel stellte die von Gott Selbst aufgerichtete Autorität dar. Wir fanden deshalb bei Hesekiel (und an anderen Stellen sieht man dasselbe), dass das Gericht Babels mit der Wiederherstellung Israels und des Thrones Gottes verbunden ist.

Man beachte jedoch, dass Gott hier nicht als der Gott der Erde, sondern als der Gott des Himmels auftritt. In Israel wohnte Er als Gott der Erde. Bei der Wiederherstellung aller Dinge wird Er wieder dasselbe sein. Hier aber handelt Er in Seiner Unumschränktheit als Gott des Himmels, indem Er in gewissem Sinne den Menschen Seinen Platz auf Erden einnehmen lässt (siehe Vers 37 und 38). Obgleich sie beschränkter ist, trägt diese Herrschaft doch dieselben Charakterzüge wie diejenige Adams. Sie unterscheidet sich darin, dass auch Menschen ihrer Gewalt unterstellt sind; sie ist beschränkter, da das Meer in seinen Machtbereich nicht mit eingeschlossen ist; aber sie erstreckt sich über jeden Ort, wo es Tiere des Feldes und Vögel des Himmels gibt. Am Ende ihrer Geschichte zeigt sich die Stärke des Menschen; doch ist die dann bestehende Macht viel weiter entfernt von den Beziehungen Gottes zur Welt, als sie in alten Zeiten bestanden.

Die Vermischung von Eisen und Töpferton deutet eine Veränderung in dem Charakter der kaiserlich-römischen Macht an; ein neues Element wird in sie eingeführt. Teilweise bleibt das Ursprüngliche bestehen, doch wird ein neuer Bestandteil demselben hinzugefügt. Der tatkräftige Wille des Menschen kann sich nicht mehr ausschließlich geltend machen. In die Macht des kaiserlichen Rom wird ein Bestandteil eingeführt, der sich völlig von dem unterscheidet, was seine Stärke als Kaiserreich ausmachte, das ist dem Willen des Menschen, der kein Gewissen kennt, der Vereinigung militärischer und volkstümlicher Macht in einer gewissenlosen Person. Es gibt hier zweierlei Ursachen der Schwäche: Trennung und Mangel an Zusammenhalt zwischen den einzelnen Bestandteilen. Es wird ein geteiltes Königreich sein (V. 41), und es wird zum Teil stark sein, und ein Teil wird zerbrechlich sein (V. 42). Der „Same der Menschen“ ist, wie ich glaube, etwas, das sich außerhalb dessen befindet, was die eigentliche Stärke des Königreichs ausmacht. Doch die beiden Bestandteile werden sich niemals miteinander verbinden. Wahrscheinlich ist es das germanische Element, welches hier als dasjenige bezeichnet wird, das zu dem, was ursprünglich das römische Reich ausmachte, noch hinzukam. Die Tatsache einer Teilung des Reiches tritt in Vers 44 klar hervor. Dann wird angekündigt, dass Er, der vom Himmel her herrscht, in den Tagen dieser letzten Könige ein Königreich errichten wird, das nicht zerstört werden kann und niemals in andere Hände übergehen wird. Dies ist eigentlich das einzige Königreich, das von Gottes Seite aus an die Stelle des babylonischen Reiches tritt. Der Gott des Himmels hatte Nebukadnezar mit dem Königtum bekleidet und ihm Macht und Gewalt und Herrlichkeit gegeben, indem Er alle Menschen seiner Botmäßigkeit unterwarf. Zweifellos stand es in Übereinstimmung mit dem Willen Dessen, der alle Dinge ordnet, dass die drei anderen Königreiche dem ersten gefolgt waren. Aber nur hinsichtlich des in Vers 44 erwähnten Reiches wird noch einmal gesagt: „Der Gott des Himmels wird ein Königreich aufrichten.“ Das letzte der vier Königreiche wird nach seinem Wesen und nach einigen Hauptzügen seiner Geschichte beschrieben. Was die beiden anderen betrifft, so wird nur ihr Bestehen erwähnt und das erste derselben als ein niedrigeres Königreich bezeichnet, so dass der Geist Gottes uns also die göttliche Aufrichtung des ersten mitteilt, dann das Wesen des vierten und endlich die göttliche Aufrichtung des fünften oder letzten Königreichs.

Wenn wir nun die Art und Weise ins Auge fassen, in der dieses letzte Königreich aufgerichtet wird, so sehen wir, dass dies vermittels einer gerichtlichen Handlung geschieht, die von zerstörender Wirkung ist, indem sie das Bild in Staub verwandelt und seine vollständige Vernichtung herbeiführt, so dass keine Spur von ihm übrigbleibt. Das Werkzeug dieser Zerstörung wird weder durch die Weisheit des Menschen noch durch seine klugen Anschläge gebildet. Es „riss sich los ohne Hände“. Es wirkt nicht durch eine innere Beeinflussung, die das Wesen des Gegenstandes, auf welchen es einwirkt, umwandelt. Es zerstört diesen Gegenstand gewaltsam. Gott ist es, der es aufrichtet und ihm die Gewalt gibt. Der Stein nimmt nicht allmählich an Umfang zu, um so das Bild zu verdrängen, sondern er zerstört das Bild, ehe er sich ausdehnt. Wenn er groß geworden ist (es handelt sich hier nicht nur um ein Recht, welches Gott über die Menschen verleiht; der Stein füllt vielmehr die ganze Erde), so ist er der erhabene Sitz einer alles umfassenden Herrschaft. Der Stein fällt mit zerstörender Gewalt auf die letzte Form der Macht, die in dem Bilde zum Ausdruck kommt, und zwar dann, wenn das Reich geteilt und um der verschiedenen Bestandteile willen, dessen seine Bewohner angehören, teils stark und teils schwach ist. Beachten wir noch, dass nicht Gott es ist, der das Bild in irgendeiner anderen Weise zerstört, um dann das Königreich aufzurichten; vielmehr zerschlägt das Königreich, das Er aufrichtet, als seine erste Handlung die Füße des Bildes.

Wir haben hier also in allgemeinen Umrissen die äußere Geschichte dessen, was nach Gottes Anordnung an die Stelle Seines Thrones und Seiner Regierung in Jerusalem trat, das sich in seinem öffentlichen Auftreten Gott gegenüber immer mehr verschlechterte, und dem schließlich ein Ende gemacht wird durch das Gericht, welches von dem Königreich ausgeführt wird, das Gott ohne menschliche Vermittlung aufrichtet. Das Königreich Christi, das auf die letzte Gestaltung der königlichen Herrschaft, die Gott vordem aufgerichtet hatte, fällt, vernichtet jede Spur ihres Bestehens und füllt selbst die Welt aus.

Ich habe über die vier Königreiche nichts Besonderes zu sagen. Babylon, Persien und Griechenland werden, als den Juden bereits bekannt, in dem Buche selbst mit Namen bezeichnet; und die Römer werden unter dem Namen eingeführt, welchen ihr Gebiet trug: „Die Inseln der Kittäer.“ Ich nehme daher ohne weitere Frage an, dass jeder Leser deutlich erkennen wird, dass in dieser Weissagung jene vier großen Reiche gemeint sind. Es scheint mir, dass die Prophezeiungen über diesen Punkt keinen Zweifel bestehen lassen.

Die Wirkung dieser ganzen Mitteilung, welche zugleich als Beweis dafür dient, dass Gott mit dem Überrest ist, der allein Seine Gedanken versteht, ist die, dass der stolze Heide den Gott Israels als obersten Herrscher im Himmel und auf Erden anerkennt. Der Überrest wird, wie bereits früher gesagt, hier dadurch gekennzeichnet, dass Gott ihm Seine Gedanken offenbart.

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