Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 8

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Dieses Kapitel gibt uns eine Schilderung von Ereignissen, welche die Juden betreffen, ihr Land jedoch von einer anderen Seite her berühren. Die zwei Reiche Persien und Griechenland, oder die Reiche des Ostens, welche auf das babylonische folgten (unter dem die Weissagung gegeben wurde), werden nur zu dem Zwecke erwähnt, um die Länder zu bezeichnen, in welchen sich jene Ereignisse zutragen sollten, und um uns dieselben in ihrer geschichtlichen Reihenfolge sehen zu lassen. Das persische Reich wird durch den König von Griechenland niedergeworfen, und dessen Reich teilt sich nachher wieder in vier Königreiche, aus deren einem sich eine Macht erhebt, die den Hauptgegenstand der Prophezeiung bildet.

In der Deutung finden wir die bestimmte Erklärung, dass die hier berichteten Ereignisse „in der letzten Zeit des Zornes“, d. h. des Zornes gegen Israel (Dan 11, 36), geschehen werden. Von dieser Zeit des Zornes redet Jesaja (Jes 10, 25); sie endet mit der Vernichtung des Assyrers, der (V. 5) das hauptsächliche Werkzeug des Zornes ist. Alle die oben angeführten Stellen zeigen uns, besonders wenn man ihren Zusammenhang genau prüft, dass die Ereignisse, von denen diese Weissagungen handeln, in den letzten Tagen in Erfüllung gehen werden. Es wird sein „eine Zeit der Drangsal für Jakob“; doch wird er aus ihr errettet werden. Der Herr Selbst gedenkt dieser Zeit (Mt 24) und richtet die Aufmerksamkeit Seiner Jünger auf das, was Daniel bezüglich derselben sagt (vgl. Dan 12, 1-11  mit den Worten des Herrn). Es scheint mir, dass die Prophezeiung selbst sich nicht so ausschließlich auf die letzten Tage bezieht, wie dies bei der Deutung der Fall ist 1. Es wird hier nicht von der letzten Zeit des Zornes gesprochen, sondern von der Tatsache, dass sich ein kleines Horn aus einem der vier Königreiche erhebt, die auf Alexander folgen würden. Nichtsdestoweniger ist der Hauptzweck des Geistes, das zu offenbaren, was zur Zeit des Endes geschehen wird (V. 17).

Untersuchen wir jetzt die hauptsächlichen Charakterzüge des kleinen Horns etwas näher. Die Macht, die als „das kleine Horn“ bezeichnet wird, erweitert ihr Gebiet nach Osten zu und gegen das angenehme Land oder die Zierde (der Erde), das heißt, wie mir scheint, gegen Jerusalem oder Zion hin. Dieses Horn erhebt sich gegen das Heer des Himmels und wirft einige von dem Heere und von den Sternen zur Erde nieder und zertritt sie.

Welches sind nun die Personen, die unter dem Ausdruck: „das Heer des Himmels und die Sterne“ verstanden werden müssen? Erinnern wir uns, dass wir das jüdische System vor uns haben. Halten wir dies fest, so macht die Anwendung der Stelle keine Schwierigkeiten mehr. Der Ausdruck findet seine Anwendung auf diejenigen, die (wenigstens ihrem Bekenntnis nach) den Thron Gottes umgeben, und namentlich auf solche unter ihnen, die besonders vor den anderen hervorleuchten. Es handelt sich hier nicht um die Treuen, die zum Himmel emporblicken, von denen in Kapitel 7 die Rede ist. Das Heer des Himmels zu sein, drückt eine Stellung und nicht einen Herzenszustand aus (vgl. V. 24). Indes setzt die vorliegende Stelle voraus, dass die Juden sich wieder in dieser Stellung vor Gott befinden, wenn auch nur zu dem Zwecke, damit Sein Gericht an ihnen vollzogen werde. Das will sagen: das Auge Gottes ist wieder auf sie gerichtet, indem Er sie aufs neue als solche betrachtet, die in Beziehung zu Ihm stehen, die ein Gegenstand sind, mit welchem Er Sich beschäftigt, als ein Volk, das trotz der noch weiterbestehenden Macht der Nationen doch immer noch verantwortlich ist für das Verhältnis, welches früher zwischen ihm und Gott bestand. Nur wenn ihr Zustand nicht der Stellung entspricht, die sie aufs neue vor Ihm einnehmen, so macht sie gerade die Tatsache, dass sie sich in dieser Stellung befinden, zu Gegenständen der Gerichte Gottes.

Außerdem beachte man, dass hier von Frevel die Rede ist, nicht aber von dem verwüstenden Gräuel, den jemand aufstellt; und auch in der Deutung ist es der Frevel, der zu seinem Höhepunkt gekommen ist.

Dieses Horn ist also das Werkzeug der Züchtigung, die an den Juden vollzogen wird, und zwar nachdem dieselben - wenigstens ihrem Bekenntnis nach - wieder in Beziehung zu Jehova getreten und in ihr Land zurückgekehrt sind, indem sie als Sein Volk auftreten und doch den Frevel gegen Ihn auf die Spitze treiben. Ein Teil von ihnen wird von dem Horn völlig vernichtet werden. Doch dies ist nicht alles; das Horn tut selbst gegen den Fürsten des Heeres groß. Es treibt seine Vermessenheit so weit, dass es sich Ihm widersetzt, dass es gegen Christum in Seiner Eigenschaft als Fürst Israels auftritt, gegen den kommenden Richter, das Haupt Israels, welches Jehova Selbst ist; denn Der, welcher kommt, ist, wie wir gesehen haben, der Alte an Tagen. Indessen wird hier alles unter einem jüdischen Gesichtspunkt betrachtet. Er ist der Fürst Israels. Aus dem Umstande, dass es Sein Opfer ist, welches weggenommen, Sein Heiligtum, welches niedergeworfen wird, erkennen wir, dass es sich um Jehova handelt, doch wird Er als Fürst des Heeres dargestellt 2. Der Gottesdienst, den die Juden Jehova darbringen, wird unterdrückt, Sein Heiligtum niedergeworfen und eine Zeit der Mühsal dem beständigen Opfer auferlegt (so verstehe ich den Vers) um des Frevels willen, und das kleine Horn 3 wirft die Wahrheit zu Boden, handelt und hat Gelingen. Die Zeitdauer, welche für das ganze Gesicht angegeben wird (wobei besonders des Frevels, der die Veranlassung zu dem Gesicht bildet, Erwähnung geschieht) und in welche möglicherweise die Dauer des verwüstenden Frevels mit einbegriffen ist, mit einem Wort: der ganze Zeitraum des Frevels und der darauf folgenden Verwüstung (der Zertretung des Heiligtums und des Heeres) beträgt zweitausenddreihundert Abende und Morgen.

Aus Vers 19 ersehen wir, dass sich die Deutung auf die Zeit des Endes bezieht; dies ist von großer Wichtigkeit für das Verständnis der ganzen Stelle 4. Folgendes wird sich in der letzten Zeit des Zornes (über Israel) ereignen, wenn der Frevel der Juden seinen Höhepunkt erreicht hat. Ein König, frechen Angesichts und der Ränke (oder dunkler Sprüche) kundig, wird aufstehen, eine Art Lehrer oder Rabbi, aber stolz und von kühnem Auftreten. Er wird stark sein, aber nicht durch seine eigene Macht. Er wird große Verheerungen anrichten, wird Gelingen haben und handeln, indem er Starke, oder eine große Menge von Personen, und besonders „das Volk der Heiligen“, das ist die Juden (Dan 7, 27), verdirbt. Er ist schlau, und seine Betrügerei ist von Erfolg. Er wird in seinem Herzen grosstun und durch falsche, gottvergessene Sicherheit viele verderben. Endlich wird er sich gegen den Fürsten der Fürsten auflehnen, und dann wird er ohne menschliche Vermittlung vernichtet werden. Mit anderen Worten: Zur Zeit des Endes, wenn Gott Seine Ratschlüsse enthüllen wird und Sein Zorn über Israel sich seinem Ende nähert, indem der Frevel dieses Volkes bereits seinen Höhepunkt erreicht hat, wird ein König in einem Teile des vormals griechischen Reiches erstehen, dessen Macht sich gegen Osten, Süden und gegen Jerusalem hin auffallend vergrößern wird; das heißt, sie wird in der gegenwärtigen asiatischen Türkei festen Fuß fassen und Jerusalem zu ihrem Zielpunkt haben. Diese Macht wird viel Zerstörung anrichten, und ihre Stärke wird groß sein, doch wird es nicht ihre eigene Stärke im eigentlichen Sinne sein. Der König wird von irgendeiner anderen Macht abhängig sein. Er wird auch das jüdische Volk verderben. Indessen findet sich hier noch etwas anderes als nur eine zerstörende Macht; es offenbart sich eine Weisheit, die in gewisser Hinsicht an diejenige Salomos erinnert. Der König ist sehr schlau, und es gelingt ihm, die Juden zu verderben, indem er sie in eine Sicherheit einwiegt, in der sie Jehovas vergessen. Er tritt also den Juden gegenüber nicht nur als Eroberer, sondern auch als Lehrer auf, indem er List übt und einen trügerischen Frieden benutzt. Zum Schluss lehnt er sich gegen Christum in Seiner Eigenschaft als Fürst der Fürsten oder der Könige der Erde, das heißt in Seinem Charakter irdischer Oberhoheit, auf. Er wird durch Gottes Macht ohne Menschenhand vernichtet.

Dieser König ist ein anderer als das kleine Horn in Kapitel 7, welches das große westliche Tier beherrscht. Er ist ein König des Ostens, der nicht aus dem römischen Reiche ersteht, sondern aus dem vormals griechischen Reiche, das in Syrien und den angrenzenden Ländern bestanden hat, ein König, der seine Kraft nicht aus seinen eigenen Hilfsmitteln schöpft. Er wird sich (in seiner Weise) in die religiösen Angelegenheiten der Juden mischen; indessen scheint mir das von ihm Gesagte mehr dem Verwüster zu entsprechen, den Gott um der Frevel Seines Volkes willen dem Feinde gestatten wird zu senden, als dem, der mit dem Volke für eine Zeit einen Bund eingeht, um es nachher völlig zu verderben und zu dem schrecklichsten Abfall zu bewegen. Es ist einer, der das Volk unterdrücken wird und der seine Wirksamkeit im Osten entfaltet, wie das in Kapitel 7 beschriebene Horn den Westen beherrscht 5. In Verbindung mit diesem kleinen Horn wird der Verwüstung gedacht. Der 11. Vers 6 bildet eine Art Einschaltung, die ausschließlich den Fürsten des Heeres zum Gegenstand hat. Die beiden Dinge, deren dort zuletzt Erwähnung geschieht (nämlich dass das Opfer weggenommen und Sein Heiligtum niedergeworfen wird), werden in Verbindung mit dem Fürsten des Heeres eingeführt, um die Beschreibung der Verwüstung Israels, zu der sie gehören, zu vervollständigen, ohne dass jedoch, wie mir scheint, derjenige, der dies tut, genau bezeichnet wird. In des Königs eigener Geschichte, die wir am Schlusse des Kapitels finden, werden sie nicht erwähnt. Sie gehören zu der Verwüstung, die in den Tagen stattfindet, von welchen in Vers 11 die Rede ist.

Fußnoten

  • 1 Dies scheint mir deshalb so, weil Ereignisse, die unter den Nachfolgern des Seleukus, des ersten Königs des Nordens, eintraten, als Vorbild oder als teilweise und vorläufige Erfüllung dessen gedient haben, was in den letzten Tagen eintreten wird. In Kapitel 11 und hier finden wir eine Beschreibung von dem, oder wenigstens eine starke Anspielung auf das, was Antiochus Epiphanes getan hat. Ich glaube, dass das elfte Kapitel einen geschichtlichen Bericht hiervon gibt. Der eigentliche Zweck, den Gott bei dieser Weissagung im Auge hat, ist der, die Ereignisse der letzten Tage darzustellen; darum ist in der Deutung nur von diesen die Rede. Man möge beachten, dass keine Deutung einer rätselhaften oder dunklen Prophezeiung, sei es im Alten oder im Neuen Testament, einfach nur eine Deutung ist. Vielmehr wird in der Deutung stets die Offenbarung weiterer Absichten Gottes hinzugefügt, sei es durch äußere Gerichte, welche das geistliche Urteil Seines Volkes rechtfertigen, zu einer Zeit, da nur der Glaube in die Gedanken Gottes einzudringen vermochte, sei es durch einige neue Züge, aus welchen die Bedeutung, die die Ereignisse für die Heiligen haben, hervorgeht. Ein tatsächliches Gericht legt das offen an den Tag, was vorher nur ein geistliches Urteil zu unterscheiden vermochte, und wird dadurch zu einer Deutung. Es mögen aber auch andere Umstände hinzugefügt werden, und dann dient dies dazu, die Absichten, die Gott in der Sache hat, zu offenbaren. Mit einem Wort: Gott teilt entweder Seinem Volk mit, worin der wahre Wert des Vorhergehenden besteht, oder Er gibt durch Offenbarung Seiner Gerichte ihren Gedanken betreffs des Vorhergesagten die gehörige Richtung. Dadurch wird die Übereinstimmung mit Seinen Gedanken in ihnen praktisch befestigt.
  • 2 Ich war etwas im Zweifel, ob das Heer des Himmels nicht die Mächte der Erde bedeuten könne (die Juden wären dann in diesem Ausdruck einfach mit eingeschlossen, da sie unter der Regierung Gottes stehen sollten, in welcher Stellung sie der Geist der Weissagung tatsächlich sieht). Ich verwerfe diesen Gedanken nicht; doch tritt die Tatsache bestimmt hervor, dass der Geist in besonderer Weise die Juden im Auge hat (siehe V. 13). Vers 24 könnte uns zu der Annahme leiten, dass das Horn außer den Juden noch andere verdirbt. Der zur Rechten Gottes erhöhte Christus ist das Haupt jeder Gewalt; in besonderer Weise aber ist Er das Haupt der Juden. Wollte jemand sogar die Bezeichnung: „Fürst der Fürsten“ auf letztere Oberherrschaft beziehen, so würde die Ähnlichkeit des Ausdrucks für diese Anwendung sprechen. Die Verbindung, in welcher das Heer und das Heiligtum in Vers 13 angeführt werden, scheint mir darauf hinzuweisen, dass der Geist besonders diejenigen Juden im Auge hat, welche die Stätte des Thrones Jehovas umgeben.
  • 3 Im Hebräischen findet in bezug auf die handelnde Person ein Wechsel in der Geschlechtsbezeichnung statt. Er, der groß tut (V. 11), ist männlich, während das Wort „es warf zu Boden“ (am Schluss von Vers 12) weiblich ist und somit mit „Horn“ übereinstimmt, welches im Hebräischen weibliches Geschlecht hat. Vielleicht tritt der Wechsel aus dem Grunde ein, um die Person des Königs mehr hervorzuheben.
  • 4 Das Gesicht redet besonders von den Seleuciden, den Nachfolgern Alexanders des Großen in Asien, und wie ich nicht zweifle, sind es ihre Taten, vor allem die des Antiochus Epiphanes, deren in dem Gesicht Erwähnung geschieht, obwohl, wie schon bemerkt, Vers 11 und die erste Hälfte von Vers 12 für sich dastehen. Es ist daher nicht notwendig, die 2300 Abende und Morgen auf irgend etwas anderes als die Taten der Seleuciden zu beziehen, was Vers 26 bestätigt. Die Deutung (Vers 23-25) bezieht sich nur auf die letzten Tage. Es ist darin keine Rede von dem Heiligtum, sondern nur von der Zerstörung des Volkes der Heiligen (der Juden) und von der Auflehnung gegen den Fürsten der Fürsten.
  • 5 In Kapitel 7 wird die Macht oder das Horn, das im Westen herrscht, beschrieben, in Kapitel 8 das des Ostens. Kapitel 9 beschreibt dann den Zustand Jerusalems unter der westlichen Macht, Kapitel 10 und 11 seinen Zustand unter der Herrschaft der östlichen Mächte, wobei zugleich das Auftreten des eigenwilligen Königs geschildert wird.
  • 6 Die erste Hälfte von Vers 12 bis zu „um des Frevels willen“ gehört noch zu dieser Einschaltung. Auf diese Weise beziehen sich die 2300 Tage nur auf die Zeit, von welcher die Geschichte berichtet. In der Deutung, die von dem handelt, was noch zukünftig ist, wird betreffs ihrer nur gesagt, dass das Gesicht Wahrheit sei.
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