Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 3-7

Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Wo erblicken wir denn den Überrest in dem die Juden betreffenden Abschnitt dieser Welt? Welchen Platz nimmt derselbe ein? – Die großen Grundsätze seiner Stellung werden in den Psalmen 3  – 7 entwickelt.

Es ist somit nicht schwer zu erkennen, wie die beiden ersten Psalmen die Grundlage des ganzen Buches bilden, obschon der Hauptteil seines Inhalts gerade die Folge der Nichterfüllung der beiden Psalmen ist zu der Zeit, auf die sich dieser Inhalt bezieht. Diesen Aufbau des ganzen Buches finden wir in ähnlicher Weise in einer großen Anzahl einzelner Psalmen wieder: der Gegenstand, von dem sie handeln, ist in dem oder den ersten Versen niedergelegt, und dann folgen die oft ganz entgegengesetzten Umstände, durch die der Gerechte hindurchgeht, um zu dem zu gelangen, was im Anfang des Psalmes ausgedrückt ist.

Die folgenden fünf Psalmen (Ps. 3–7) entwickeln daher im allgemeinen und dem Grundsatz nach die Lage des Überrestes, sowie die Gedanken und Gefühle, die durch den Geist Christi in ihm hervorgebracht werden inmitten des Zustandes der Dinge, der in Israel die Folge der persönlichen Verwerfung Christi ist. Die Umstände, in denen sich die Gerechten befinden, werden geschichtlich erst in den Psalmen 9 und 10 erwähnt. Daher lassen uns diese Psalmen das Wirken des Geistes Christi in den Gerechten in den entsprechenden moralischen Früchten erkennen, um so den Zustand des treuen Überrestes, des heiligen Samens in Juda darzustellen, wenn alles in Verfall ist. Die Grundzüge des Zustandes dieser Heiligen, die verschiedenen Gefühle, die dieser in ihnen wachruft, werden uns hier vorgestellt. Wir finden nicht jene starken Ausdrücke, die durch den Druck der Umstände hervorgebracht werden; aber jeder Abschnitt in ihrem inneren Leben, die mancherlei Gefühle, die der Geist Christi in Beziehung zu Gott hervorbringen muss, werden uns vor Augen gemalt.

Psalm 3

Dieser Psalm redet zunächst von der Lage des Überrestes im allgemeinen, im Gegensatz zu Psalm 2, sowie von der Stütze und dem Vertrauen des Glaubens in dieser Lage. Der Bedränger des Gerechten sind viele; sie erheben sich und triumphieren über ihn, als sei keine Rettung für ihn bei Gott, aber Jehova ist sein Schild. Er legt sich nieder in Frieden, und durch den Glauben sieht er seine Feinde geschlagen und ihre Macht zerbrochen. Von Jehova ist die Rettung, und Sein Segen ist auf Seinem Volke. Man beachte, dass wir uns hier wieder in den letzten Tagen befinden; obschon umgeben von seinen Feinden, bleibt der Gerechte in Frieden und sieht prophetisch ihre Vernichtung und den Segen über Israel. Der Psalm drückt Vertrauen auf Gott inmitten zahlreicher Feinde und in hilfloser Lage aus. Christus ist gewiss völlig in diese Stellung eingetreten; aber der Psalm versetzt uns in die letzten Tage, nachdem erwiesen ist, dass Psalm 2 nicht in Erfüllung gegangen ist, als Christus Sich zum ersten Male Israel als Messias vorstellte.

Psalm 4

unterscheidet sich von dem vorigen und von späteren ähnlichen Psalmen darin, dass er nicht einfach das Vertrauen auf Gott zum Ausdruck bringt, sondern nach Gerechtigkeit gegen die Männersöhne ruft, die alle Herrlichkeit, die dem Volke Jehovas und besonders Seinem König gehört, in Schande verkehren; doch Jehova hat den Frommen für Sich abgesondert. Das Licht des Angesichts Jehovas ist seine Hilfe. In Ps 3, 4 und Ps 4, 1 wird auf die, schon erfahrene Gnade Jehovas Bezug genommen.

Psalm 5

In Psalm 5 vernehmen wir das Schreien des Gerechten unter Berufung auf den Charakter Gottes, der dem des Gerechten entsprechen muss und Ihn zwingt, auf den Gerechten zu hören und den Gesetzlosen zu richten. Wenn der Gerechte die Gottseligkeit liebt, so liebt Jehova sie sicherlich, wenn der Gerechte die Gesetzlosigkeit verabscheut, so tut es Jehova gewiss. Dies entspricht der Anrede „gerechter Vater“ in dem Gebet des Herrn in Johannes 17, nur dass dort die Antwort der Himmel ist, hier dagegen die Erde – die notwendige Folge des Unterschiedes zwischen der Stellung Christi hienieden und der des Überrestes.

Psalm 6

In Psalm 6 steht der Überrest auf einem anderen Boden. Die Gerechten sind unterdrückt, ihre Seele ist beängstigt, die Schwere der Drangsal lastet auf ihrem Geiste, und da ihr Gewissen nicht gereinigt ist, fürchten sie, dass Jehova im Zorn wider sie sei, und sie bitten, dass Jehova sie nicht strafen möge in Seinem Zorn, noch sie züchtigen in Seinem Grimm. Wohl haben sie als Nation diesen Zorn verdient, aber das erlöste Herz ruft im Blick darauf die Gnade an. Sie erwarten, durch Seine Güte gerettet, und zwar vom Tode gerettet zu werden, und fordern die Übeltäter auf, von ihnen zu weichen; denn Jehova hat die Stimme ihres Weinens gehört.

Psalm 7

Psalm 7 ist eine Anrufung Jehovas aufgrund des gerechten, ja, selbst mehr als gerechten Verhaltens der Heiligen gegen ihre Feinde: Jehova möge aufstehen und erwachen zu dem Gericht, das Er befohlen hat, damit durch die Rettung des Überrestes mittels des Gerichts die Schar der Völkerschaften der Erde Ihn umringe! Dann wird Er die Völker richten. Das zukünftige Gericht wird hier also in bestimmter Weise dargestellt. Doch noch ein anderer Punkt wird hervorgehoben: der Herr richtet (oder beurteilt) den Gerechten; wenn aber ein Mensch nicht umkehrt, sondern in seiner Gesetzlosigkeit vorangeht, so wird Sein Zorn ihn verfolgen.

In diesem allem sehen wir, wie Sich der Geist Christi mit dem jüdischen Überrest verbindet, und in gewissen Beziehungen können wir Christum Selbst entdecken, wie Er durch die Umstände hindurchgeht, die Ihn befähigten, in diejenigen des Überrestes in Wahrheit einzutreten; denn wir haben gesehen, dass ihre Wirkung auf Seine eigene Seele niemals dieselbe ist wie bei dem Überrest. Es handelt sich hier nicht um Seine Geschichte, sondern um Seine Teilnahme an dem Überrest, und es gibt zwei Grundsätze, die Christum auf der Erde und den Überrest in den letzten Tagen miteinander verbinden: einerseits führt Er die Heiligen in Gnade in die Stellung ein, die Er auf der Erde einnahm 1, und andererseits trat Er in die ihrige ein. Die Gerechten haben der Natur und den Grundsätzen ihres Lebens nach die Gefühle des Geistes Christi, so wie dieser Geist sie in ihnen ihrem Zustande gemäß hervorrufen würde. Ihre Bitten sind der Ausdruck davon; und Gott billigt ihre Forderungen (obschon sie selbst kein klares Verständnis darüber haben), indem Er ihnen in den Psalmen die Ausdrücke dafür darreicht. Was sich kundgibt, ist ein Bedürfnis und zugleich ein Begehren, das durch das Leben in ihnen vor dem Herzen Dessen Gültigkeit hat, der die durch Christum gelegte Segensgrundlage in Rechnung bringen kann, so dass Seine Nachsicht gerechtfertigt erscheint, obschon die Gerechtigkeit hinsichtlich der Juden noch nicht offenbart ist. Ihre Kenntnis von dem, was Jehova ist und immer war, sei es im Blick auf ihre Lauterkeit oder ihre Unterdrückung seitens der Feinde, lässt sie eine Errettung erwarten, die unmöglich zu sein scheint 2.

Ehe wir weitergehen, möchte ich noch auf einen kurzen, aber beachtenswerten Ausdruck hinweisen; es ist die Frage: „bis wann?“ die wir in Psalm 4, 2; 6, 3 und anderswo finden. Sie drückt die Glaubenserwartung des Überrestes aus. Gott kann Sein Volk nicht für immer verstoßen: bis wann wird Er so mit ihm handeln, als wenn Er es verstoßen hätte, und Sich um die Unterdrückung nicht kümmern? Daher wird auch an einer anderen Stelle (Ps 74, 9) gesagt: „Keiner ist bei uns, welcher weiß bis wann.“

Als Ganzes betrachtet, geben uns die bisher besprochenen Psalmen also eine allgemeine Darstellung von dem Zustand des Überrestes der Juden vor Gott in den letzten Tagen, sowie von den Grundsätzen, auf denen sie als Gerechte stehen; jedoch finden wir hier noch nicht die starken Ergüsse ihrer Gefühle unter dem schweren Druck der Drangsale. Ist denn Christus fern von ihnen allen? Gewiss nicht, sonst würden die Psalmen nicht da sein. Christus trat durch Sein Mitgefühl in ihre Lage ein, Er bildet darin den Glauben ihrer Herzen durch Seinen Geist und befindet Sich so auf die beste Weise mit ihnen in ihrem niedrigen Zustand. Seine eigenen persönlichen Gefühle, während Er hienieden war, kommen in diesen Psalmen nicht zum Ausdruck 3, obschon Er – kostbare Wahrheit! – durch Seine eigenen Leiden in ähnlichen Umständen gelernt hat, „den Müden durch ein Wort aufzurichten“ (Jes 50, 4).

Fußnoten

  • 1 Vergleiche z. B. Mt 17,24-27. Diese Stelle könnte nun gewissermaßen als ein Vorausempfang zukünftiger Segnungen betrachtet werden; aber doch offenbarte der Herr den Seinigen den Namen des Vaters.
  • 2 Die Verse 22-24 in 3. Mose 9 zeigen uns dies in treffender Weise. Die Annahme des Opfers durch Gott war nicht eher ersichtlich, bis Mose und Aaron (Christus als Priester und König) aus dem Zelte der Zusammenkunft, das sie miteinander betreten hatten, herausgekommen waren (V. 24). Dann betete das Volk an. Aber Aaron hatte vorher, in Verbindung mit der Darbietung des Sündopfers usw., das Volk gesegnet. Wir wissen heute durch das Kommen des Heiligen Geistes, dass das Opfer angenommen ist; Er ist aus dem Heiligtum hervorgetreten, während der Priester noch innerhalb des Vorhangs weilt. Infolgedessen kennen wir den vollen Wert der göttlichen Gerechtigkeit.
  • 3 Damit will ich nicht sagen, dass dies in keinem der Psalmen geschehe (Ps 22 beweist deutlich das Gegenteil), auch nicht, dass in Psalmen, die nicht ganz von Ihm handeln, keine Stelle zu finden sei, die Gefühle, die Er hatte, zum Ausdruck bringe. Ich habe im Laufe dieser Betrachtungen schon mehrere derselben angeführt und den Grundsatz, nach dem sie anzuwenden sind, besprochen. Ich rede hier nur von den Psalmen, mit denen wir gerade beschäftigt sind: Psalm 3-7.
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