Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 16

Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 16 eröffnet eine Reihe sehr wichtiger Psalmen, in denen der Geist Gottes die Verbindung Christi Selbst mit dem Überrest vor unsere Augen stellt. Im 16. Psalm nimmt Christus förmlich Seinen Platz in der Mitte des Überrestes. Die Apostel Petrus und Paulus führen beide diesen Psalm an, um die Auferstehung Christi zu beweisen (Apg 2, 25 – 28; 13, 35), und in Hebräer 2, 13 wird durch Anführung des ersten Verses Seine Teilnahme an der menschlichen Natur gezeigt. Im 3. Verse ist der Sinn etwas dunkel, da die Worte „zu den Heiligen“ scheinbar in Verbindung stehen mit „meine Güte reicht nicht hinauf zu dir“; sie beziehen sich jedoch auf die Worte „du, meine Seele, hast zu Jehova gesagt“. Christus sagt zu Jehova. „Du bist der Herr, meine Güte usw.“. Er sagt zu den Heiligen: „An ihnen ist alle meine Lust“. So nimmt dieser Psalm unser ganzes Interesse in Anspruch und hat einen besonderen Wert, indem er uns zeigt, wie Christus in Gnade unter dem armen Überrest Israels Seinen Platz nimmt, und zwar den Platz des Dieners, um den Pfad des Lebens zu wandeln, den kein Mensch im Fleische in dieser Welt gefunden hatte, und der durch den Tod jenseits des Todes führte, wo „Fülle von Freuden“ ist. Christus nimmt den Platz der Abhängigkeit, des Vertrauens ein, nicht den der Gott-Gleichheit. Und wenn Er sagt, dass Er letzteres nicht tue, So muss Er ein Recht gehabt haben, es wohl zu tun; sonst hätte Er es nicht zu sagen brauchen. Statt dessen nimmt Er den Platz eines Dieners ein und nennt Jehova Seinen Herrn. Aber das ist noch nicht alles: so völlig allein Er in der Vollkommenheit dastehen mag, und so vollkommen Er war, indem Er Seinen Platz hienieden nahm, nahm Er ihn doch unter den Heiligen auf der Erde; und Er tat das nicht nur als eine Tatsache, sondern mit der völligsten Zuneigung zu ihnen. An ihnen ist alle Seine Lust. Es ist Seine Freude, sie die Herrlichen der Erde zu nennen.

Fügen wir hinzu, dass es nicht die himmlischen Heiligen sind, denen Er Sich hier zugesellt, noch dass diejenigen, von denen Er redet, mit Ihm im Himmel einsgemacht werden; nein, Er verbindet Sich mit ihnen hienieden. Einige mögen zum Himmel gehen auf jenem „Wege des Lebens“, den Er Selbst gebahnt hat; aber Er verbindet Sich mit ihnen und sie mit Sich unter dem Titel von „Herrlichen der Erde“.

Bemerken wir ferner, dass der ganze Psalm diesen Geist atmet und diesen Charakter der Abhängigkeit offenbart, der für den armen Überrest so köstlich ist. Es heißt hier nicht: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten.“ Mit diesen Worten stellte Er Sich auf einen göttlichen Platz: Sein Leib war ein Tempel, und Er Selbst hat ihn wieder aufgerichtet. Vielmehr stützt Er Sich hier als Mensch auf Jehova und ist in dieser Stellung ebenso vollkommen wie in der ersteren. „Meine Seele wirst du dem Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe.“

Doch betrachten wir diesen Psalm etwas mehr im einzelnen. Wir haben schon einige Worte über die ersten Verse gesagt. Da aber die darin enthaltenen Grundsätze von der größten Wichtigkeit sind wegen der Stellung, die Christus hier einnimmt, möchte ich noch einmal darauf zurückkommen.

Der Messias wendet Sich als Mensch an Gott, dass Er Ihn bewahren möge. Er nimmt die Stellung eines Menschen ein; nicht bloß wie ein Jude, der schon zu Jehova in Beziehung stand und Ihn anrief, sondern wie ein Mensch in Verbindung mit Gott. Er setzt Sein Vertrauen auf Gott, und das führt Paulus in Hebräer 2 als ein Zeugnis dafür an, dass der Messias ein wahrhaftiger Mensch war. Weiter tritt Er in die Stellung eines Dieners ein, indem Er zu Jehova sagt (denn hier nimmt Er Seinen Platz vor Jehova): „Du bist der Herr.“ Dies ist eine ganz bestimmte und besondere Stellung. Ferner nimmt Er Seinen Platz nicht ein in göttlicher Güte gegen andere, sondern als ein Mensch vor Gott, indem Er sagt: „Meine Güte reicht nicht hinauf zu dir.“ So sagt Er auch zu dem Jüngling, der zu Ihm kam und Ihn „guter Lehrer“ nannte: „Was heißest du mich gut? niemand ist gut, als nur einer, Gott“ (Mk 10, 18). Obwohl Er indes hinsichtlich Seines Verhältnisses zum Menschen in Wahrheit ganz allein stand, da alle Sünder waren, nimmt Er doch Seinen Platz unter dem Überrest, den Herrlichen der Erde. Geschichtlich tat Er dies, als Er zur Taufe des Johannes kam, mit denen, die der Geist auf dem heiligen Pfade der Buße zu Gott leitete. Sie gingen zuerst dahin, und Er vereinigte Sich mit ihnen in Gnade. Doch erwarten wir selbst hiervon die volle Verwirklichung erst in den letzten Tagen.

Er will von keinem Gott, außer Jehova, hören; viele werden der Schmerzen derer sein, die einem anderen nacheilen. Jehova Selbst ist Sein Teil, und Jehova er hält Ihn in dem sicheren Genuss dessen, was Er nach dem Vorsatz Gottes genießen sollte. Lieblich waren die Örter, in denen die Messschnüre für Ihn gefallen waren. Jehovas Erbteil auf der Erde war Sein Teil, und dieses Erbteil war hauptsächlich in Israel. Das war Sein Teil. Aber zuerst kam der Pfad, den Er zu gehen hatte, und auch hierin pries Er Jehova, der Ihn immer durch Seinen Rat leitete. Das Geheimnis Jehovas war bei Ihm, um Ihn zu leiten; und wenn Er, fern von den Menschen, alles in der Stille und Tiefe Seines Herzens erwog, so waren Seine eigenen innersten Gedanken Licht und Leitung. So ist es immer wenn wir in Gemeinschaft mit Gott sind: denn obwohl diese Gedanken im Herzen sind, sind sie doch immer das Licht Gottes in dem Herzen, die sittliche Frucht der Wirksamkeit Seines Geistes. Bei Christo sehen wir die bestimmte Leitung und Führung Jehovas und auch dieses innerliche Verständnis der Seele, die Folge des göttlichen Wirkens in ihr. In Ihm war dies selbstredend vollkommen. Es ist gut, während man einerseits alles durch das Wort beurteilt, diese Tätigkeit der Seele, die durch Gott geleitet und unterwiesen ist, nicht zu vernachlässigen; der Sinn des Geistes offenbart sich darin in sittlicher Unterscheidungskraft.

Außer dieser Leitung sehen wir bei Christo einen bestimmten Vorsatz des Herzens: Er hatte Jehova stets vor Sich gestellt. Nur dieser Führung folgte Er, und weil Jehova nahe und zu Seiner Rechten war, so war Er überzeugt, dass Er nicht wanken würde. Das war nicht ein Abhängigsein von Sich Selbst, sondern Vertrauen auf Jehova. Es war in Wahrheit „der Weg des Lebens“, obwohl noch nicht in sichtbarer Kraft offenbart (vgl. Röm 1, 4). Darum freute Sich Sein Herz in allen Lagen, und Er ging durch den Tod mit unumwölkter Hoffnung. Sein Fleisch würde in Sicherheit ruhen; als Mensch fürchtete Er den Tod nicht. Jehova, auf den Er vertraute, würde Seine Seele dem Scheol nicht lassen, noch zugeben, dass Sein Frommer die Verwesung sehe. Seele und Leib, obwohl jene an den Ort der abgeschiedenen Geister und dieser an den Ort der Verwesung ging, würden weder da gelassen, noch der Verwesung preisgegeben werden. Jehova würde Ihm den Weg des Lebens kundtun, durch den Tod hindurch, aber auch jenseits desselben. Und in welch herrlicher Weise hat Er das getan! Dieser Weg des Lebens führte zu herrlicheren Freuden, als die Segnung Israels war, in dessen Mitte Er gekommen war. Dahin konnten Ihm freilich die Herrlichen der Erde nicht folgen (Joh. 13, 33. 36; 21, 19); erst musste Er für sie die Wasser des Jordan austrocknen und, indem Er hindurchging, ihn auch für sie zu einem Wege machen. Denn wenn dieser Weg wirklich der Weg des Lebens war, so musste er, nachdem er durch den Tod geführt hatte, zu dem leiten, was jenseits des Todes liegt: in die Gegenwart Dessen, vor dessen Angesicht Fülle von Freuden ist und Lieblichkeiten in Seiner Rechten immerdar.

Das ist der glückselige Ausgang und herrliche Erfolg des Weges des Herrn durch diese Welt, in der Er Seinen Platz inmitten der Heiligen nahm, und wo Er im Vertrauen auf Jehova, in dessen Hände Er Seinen Geist befahl, den Weg verfolgte, der (wenn Er unsere Sache auf Sich nahm) durch den Tod führen musste, und den Er dann in der Auferstehung wiedergefunden hat, um so als Mensch zu Dem zu gehen, vor dessen Angesicht Fülle von Freuden ist. Der Geist der Heiligkeit kennzeichnete von Anfang bis Ende das Leben des Sohnes Gottes, als solcher ist Er in Kraft erwiesen durch die Auferstehung; aber als Mensch ist Er erhöht worden in die Gegenwart Gottes. Das Leben der Heiligkeit und des Vertrauens fand da seine vollkommene Freude. Und Er ist unser Vorläufer; Gott sei dafür gepriesen, und gepriesen der Name des Hochgelobten, der diesen Weg gegangen ist 1!

Bleiben wir hier einen Augenblick stehen, um die Verbindung von diesem allem mit anderen Teilen der Schrift, die wir bereits anführten, ins Auge zu fassen. Es wird uns helfen, die Stellung Christi in der Mitte Israels besser zu verstehen sowie den Unterschied zwischen den Beziehungen Israels und denen der Kirche oder der Versammlung zu Ihm. Zugleich werden wir die göttlich vollkommenen Gefühle Christi Selbst in dieser Stellung kennen lernen. Er verbindet Sich mit den Heiligen in Israel; nur nimmt Er freiwillig die Stellung ein, in die sie als Zeugnis ihrer Umkehr zu Gott berufen wurden. Wir sehen (Heb 2, 13), dass diese Verbindung stattfindet mit „denen, welche geheiligt werden“. Christus bildet mit dem treuen Überrest, der so für Gott offenbart wird, eine Gesellschaft. Er schämt Sich nicht, sie Brüder zu nennen, indem Er ihre Sache auf Sich genommen hat und deshalb Mensch, Fleisch und Blut, geworden ist, weil die Kinder, die Gott Ihm gegeben, Blutes und Fleisches teilhaftig waren. Er ist in Wirklichkeit Mensch geworden, aber dies ist geschehen, um die Interessen der Heiligen zu den Seinen zu machen und ihre Segnung sicherzustellen 2, – die Segnung des Überrestes, der Kinder, die Gott zur Herrlichkeit führen wollte, und die unterschieden werden von der Masse des Volkes Israel, für die sie ein Zeichen sein sollten. Man vergleiche Jesaja 8, 18, wo von dem Zustand dieses Überrestes und der Erwartung besserer Tage die Rede ist. Der Prophet lässt die Kirche, die nicht der Gegenstand der Prophezeiung ist, ganz beiseite, und geht, wie wir das oft finden, von der persönlichen Verbindung Christi mit den Heiligen in Israel zu der Stellung und dem Teil dieser Heiligen in den letzten Tagen über. Das wird uns in dieser Stelle in Jesaja mit solcher Deutlichkeit gezeigt, dass sie uns sehr behilflich sein kann, um die Art und Weise zu verstehen, wie der Geist Gottes von der früheren Geschichte der Heiligen in Israel gleich zu den letzten Tagen übergeht und die Kirche ganz auslässt. Christus im Geiste hat nur jene Heiligen im Auge, d. h. Seine Verbindung mit dem Überrest Israels und insofern mit der ganzen Nation, und Er geht über die ganze Geschichte der Kirche hinweg, um Sich in den letzten Tagen aufs neue in derselben Verbindung mit der Nation wiederzufinden. „Binde zu das Zeugnis“, sagt Er in Jesaja 8, 16. 17, „versiegle das Gesetz unter meinen Jüngern. Und ich will harren auf Jehova 3, der sein Angesicht verbirgt vor dem Hause Jakob, und will auf ihn hoffen.“ Dies hat seine Erfüllung gefunden, als Er das verworfene Heiligtum und der Stein des Anstoßes wurde. Dann aber geht die Stelle zu der schließlichen Herrlichkeit über, wenn Israel Ihn besitzen wird als den Sohn, der ihnen geboren ist (Jes 9, 6. 7). – Es ist unmöglich, die Prophezeiungen des Alten Testamentes zu verstehen, wenn man nicht die Kirche ganz beiseite lässt. Diese hat ihr Teil im Himmel, aber Christus kann neben ihr Seine Verbindung mit Seinem irdischen Volke betrachten.

Kehren wir jedoch zu Psalm 16 zurück Der Leser wird im 4. Verse eine Anspielung auf die Abgötterei bemerken, worüber Jehova so viel mit Israel rechtet. Wir sehen in Matthäus 12, 43 – 45 und in Jesaja 65, dass die Juden in den letzten Tagen in Götzendienst verfallen werden. Der prophetische Geist Christi erkennt allein Jehova an, und erst nachdem alle Abgötterei beseitigt sein wird, wird Christus Sich in späteren Tagen an dem Teil erfreuen, das Jehova Ihm mit den Herrlichen der Erde gegeben hat. Die Gewissheit dieser Hoffnung steht mit der Auferstehung in Verbindung, die die notwendige Bedingung zu deren Erfüllung ist und die die Gunst Jehovas Seinem Gesalbten zusichert kraft der Macht, die nicht zugeben wird, dass Sein Heiliger die Verwesung sehe. Deshalb weist der Apostel in Apostelgeschichte 13, 34 auf „die gewissen Gnaden Davids“ hin, das ist auf die Erfüllung aller Verheißungen Gottes an Israel, als Beweis dafür, dass Christus aus den Toten auferstehen sollte, um nicht mehr zur Verwesung zurückzukehren.

Nichts (es sei denn Sein Tod) könnte schöner sein als der Ausdruck der Gefühle des Herrn, wie wir sie in diesem Psalm finden, in dem Er Selbst der Stellung Ausdruck gibt, die Er, und zwar mit den Heiligen, eingenommen hat. Jehova ist Sein Teil. Wie wahr ist das gewesen! Was besaß Er außer Jehova? Doch hatte Er auch Seine Wonne an den Heiligen. Sehen wir das nicht bei Seinen Jüngern bewahrheitet? Mit dem ersten Schritt des geistlichen Lebens in den Gläubigen des Überrestes, der sich darin offenbarte, dass sie sich der durch Johannes gepredigten Taufe der Buße unterwarfen, machte Er Sich eins, Er, der doch gewiss keiner Buße bedurfte. Und so stellte Er als ein treuer Mensch, ein Israelit, Jehova stets vor Sich. So ruhte Er, selbst angesichts des Todes und im Tode, in dem Vertrauen, dass Er Ihn auferwecken werde. So vertraute Er auf Ihn auf diesem Wege des Lebens durch den Tod hindurch und trotz des Todes, (welchen Weg Er für uns öffnete); und dort, das weiß Er, ist Jehova, Gott, Sein Vater, dort ist „Fülle von Freuden, Lieblichkeiten in Seiner Rechten immerdar“. Das ist die höchste, die der Seele und dem Geiste Christi eigene Freude: nicht die Herrlichkeit, sondern die Gegenwart Gottes.

Fußnoten

  • 1 Der Leser vergleiche, als besonders hierauf Bezug habend, Johannes 12,23.24 und den Platz, den der Herr infolgedessen in den Kapiteln 11 - 13 einnahm (siehe Verweistext unten).
  • 2 Indem Er so Mensch geworden ist und in Seinem Werke als Mensch Gott verherrlicht hat, hat Gott Ihm auch Gewalt gegeben über alles Fleisch (Joh 17,2).
  • 3 Dieser Ausspruch wird in Hebräer 2,13 angeführt mit den Worten: „Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen.“
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