Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 77-79

Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 77

Psalm 77 stellt uns geistliche Befreiung und die Wiederherstellung des Vertrauens dar. Der Gerechte schreit zu Gott, und Gott schenkt ihm Gehör. Schreien ist mehr, als einen Wunsch äußern. Ein Schrei ist der Ausdruck der Schwachheit, der Abhängigkeit, des Zufluchtnehmens der Seele zu Gott, ja, auch der Aufrichtigkeit des Herzens. Am Tage der Drangsal war nicht nur Klagen, Stöhnen und Schmerz in dem Herzen gewesen, sondern der Psalmist sagt. „ich suchte den Herrn“ (Adonai, nicht Jehova). Sein erster Gedanke war gewesen, ob der Herr auf ewig verwerfen werde (V. 7–9); denn er verfolgt hier, wie wir das in den Psalmen oft beobachtet haben, im Geiste den ganzen Weg, der ihn zu dem geführt hat, was sich in den ersten Versen ausgedrückt findet 1. In Vers 10 verurteilt er diesen Gedanken und gedenkt jener Jahre, in denen die Macht Jehovas, des Bundesgottes Israels, der den Vätern als „der Höchste“ bekannt war, sich offenbart hatte (vgl. auch V. 5). Der Weg Gottes entspricht stets und notwendigerweise Seiner eigenen gesegneten und heiligen Natur und wird im Heiligtum verstanden, in dem Er Seine Gedanken denen bekannt gibt, die mit Ihm in Gemeinschaft sind. Sein Weg ist in Übereinstimmung mit dem Platze, an dem Er Sein Volk richtet, der Beziehung gemäß, in der Er zu diesem steht. (Daher der Platz des Auslegers, des einen aus tausend; Hiob 33.) Die Wege Gottes bestehen in der Anwendung der göttlichen Grundsätze Seiner heiligen Natur, insoweit Er dieser Natur gemäß zu Seinem Volke in Beziehung tritt; diese Beziehung muss jenen Grundsätzen entsprechend aufrechtgehalten werden. Das ist Sein Heiligtum; da kann man Ihm nahen. Von da aus handelt Er mit Seinem Volke, nicht nur indem Er es äußerlich leitet, sondern indem Er die Grundsätze Seiner Natur (soweit sie offenbart sind) nach Seiner Majestät in dem verborgenen Menschen des Herzens verwirklicht 2. An der heiligen Stätte Seiner Natur und Majestät handelt Er mit uns nach der Wirklichkeit unseres Zustandes, unseres wahren, moralischen, inneren Zustandes. Er weicht von diesen Wegen nicht ab, noch stellt Er Seine Majestät bloß, die durch dieselben ans Licht gestellt werden soll. Doch obwohl Gott in Seinen Wegen Seiner Natur entsprechend handelt, handelt Er doch in einer offenbarten Beziehung. Seine Wege stellen Seine Natur und Seine Majestät ans Licht, aber sie schwächen sie nie. Der Mensch, der in einer bestimmten Beziehung zu Ihm steht, muss sich derselben anpassen, muss im Innern seines Herzens mit Ihm darin wandeln; aber wenn Gott dieser Beziehung entsprechend handelt, so reinigt Er den Menschen für sie, zeigt ihm das Böse, entfernt den Stolz von ihm, um ihn zu segnen, aber hält Seine Majestät stets aufrecht. Daher erinnert sich das Herz, das sich inmitten des Bösen befindet, an das, wodurch diese Beziehung in der Erlösung entstanden ist (V. 14–18).

Israel, oder der treue Überrest, befindet sich hier nicht im Genuss der Bundessegnungen; es befindet sich vielmehr in der Drangsal, aber durch den Glauben blickt es auf eine Zeit zurück, die an die Macht Dessen erinnert, der Sich nie verändern kann. Die Seele findet Trost in der Tatsache, dass Gottes Weg im Heiligtum ist, entsprechend der Natur und den Wegen Gottes Selbst, soweit Er offenbart ist. Wenn ich als Mensch die Dinge zu beurteilen versuche, so ist Sein Weg im Meere – ich kann dessen Spur nicht verfolgen; Seine Fußstapfen sind nicht bekannt, denn wer ist imstande, Dem zu folgen, der mit einem Gedanken alle Dinge regelt? Durch den Glauben kennen wir Gottes wahre Natur und Seinen wahren Charakter in Beziehung zu uns und können darauf bauen, wie auf alles, was Er als der treue und unwandelbare Gott tut; aber wir können nicht Seine Wege in sich selbst kennen, noch darüber urteilen. Daher ist der Ungläubige unzufrieden und tadelt Gott, der Gläubige dagegen ist glücklich, weil Er den Schlüssel zu allem hat, was der Gott ist, den er kennt, und auf den er bezüglich der Leitung aller Dinge rechnen kann. Alles muss in Übereinstimmung stehen mit dem, was Gott ist. Er lenkt nicht die Dinge entgegen dem, was Er ist; aber Er ist für uns, und darum leitet Er alles für uns und macht, dass alle Dinge uns zum Guten mitwirken. Er leitet Sein Volk wie eine Herde. In Psalm 73  lernte der Geprüfte das Ende seiner äußeren Feinde kennen, denen es wohl ging, während er gezüchtigt wurde; hier lernt er die Wege Gottes mit sich kennen.

Für das praktische Leben ist dieser Psalm sehr interessant und belehrend. Die den Genuss der göttlichen Segnung entbehrende Seele ist durch die Gnade aufgeweckt worden, zu Gott zu schreien, indem das Gefühl des Verlustes dieser Segnungen auf ihr lastet. Der Gläubige sucht den Herrn, und dies lässt ihn, wie es immer der Fall ist, die Trübsal nur noch mehr empfinden. Er fühlt, wo er steht; seine Seele weist den Trost zurück. Der Gedanke an Gott ist eine Quelle der Unruhe für ihn; denn wenn der Glaube aufgewacht ist, so ist das Gewissen es gleichfalls, und dies vermischt sich mit dem Verlust der Segnungen, und der Geist ist ermattet. Die Seele wird in dem lebendigen Bewusstsein dessen erhalten, wo sie steht. Der Gläubige gedenkt der herrlichen Tage vor alters, als das Licht des Herrn über ihn leuchtete. Hat Gott ihn aufgegeben, hat Er vergessen, gnädig zu sein? Hat Er Seine Erbarmungen im Zorn verschlossen? Wäre es möglich, dass Gott ihn, einen von Seinem Volke, aufgegeben hätte? Das lenkt seine Gedanken auf Gott Selbst hin. Sollte wirklich mit ihm alles zu Ende sein? Nein, es war nichts als sein Kranksein; und nun wendet er seinen Blick zurück auf die Jahre der Rechten des Höchsten. Er gedenkt der Taten Jehovas. Und nachdem sein eigener gebeugter Geist Jehova erreicht hat, ist er bei Einem angelangt, der stets für Sein Volk war, und der von alters her für dasselbe gewirkt, ja, der es erlöst hat. Er, ihr Gott, wird nun die Quelle seiner Gedanken, nicht mehr seine eigene Lage Ihm gegenüber. Dass Er ihr Gott ist, machte sie so schrecklich. Nun kann er auch Seine Wege richtig überdenken und beurteilen. Sie sind im Meere, und keines Menschen Fuß kann ihrer Spur folgen; aber im Heiligtum sind sie stets in Übereinstimmung mit Seiner Natur und Seinem Charakter und erfüllen Seine Segensabsichten.

Psalm 78

In Psalm 78 wird das Verhalten Israels anhand der Geschichte des ganzen Volkes durch die göttliche Weisheit erörtert, während zugleich sehr Wichtige Grundsätze vorgestellt werden. Es hatte vor alters nicht nur eine Erlösung stattgefunden, zu der der Glaube seine Zuflucht nahm, sondern es war auch ein Zeugnis gegeben worden und ein Gesetz, um die Wege Israels zu leiten und zu dem Zwecke, dass die Väter sie ihren Kindern kundtun sollten. Doch die Väter waren ein widersetzliches und widerspenstiges Geschlecht gewesen. Nun, das Gesetz und das Zeugnis waren gegeben worden, damit die Kinder ihren Vätern nicht gleich werden möchten; aber sie waren ihnen gleich geworden, und ihre Geschichte wird hier dargestellt. Darum züchtigte Gott sie; es gab eine direkte, offenbare Regierung hinsichtlich ihrer Wege. Trotz alledem fuhren sie fort zu sündigen. In dem Augenblick, da sie gestraft wurden, wandten sie sich zu Ihm zurück, aber sie heuchelten Ihm nur mit ihrem Munde, ihr Herz war nicht fest gegen Ihn, und sie hielten nicht treulich an Seinem Bunde. Er aber war barmherzig und vergab ihnen, Er gedachte daran, dass sie nur Fleisch waren. Doch selbst nach den Wundertaten in Ägypten vergaßen sie Ihn; und als Gott sie in das Land Kanaan gebracht hatte, wandten sie sich dem Götzendienst zu. Als Gott das hörte, ergrimmte Er und verachtete Israel sehr. Auf dem Boden dieser Regierung, unter dem Gesetz und dem Zeugnis, verbunden mit Gnade und Barmherzigkeit, wurde Israel gänzlich aufgegeben, die Wohnung Gottes verlassen, die Bundeslade der Gefangenschaft und den Händen der Feinde überliefert. Auch das Volk wurde dem Gericht preisgegeben. Doch Jehovas Liebe zu Seinem Volke aufgrund der Gnade war nicht vermindert, und das Elend, in das sie geraten waren, ließ diese Liebe hervortreten. Er erwachte gleich einem Schlafenden und schlug Seine Feinde von hinten und gab ihnen ewige Schmach. Aber das war ein Eintreten in Gnade aufgrund Seiner Liebe zu Seinem Volke. Es war nicht Segnung unter Seiner Regierung aufgrund ihres erfüllten Gehorsams, sondern ein Einschreiten der Gnade, nachdem der Ungehorsam auf dem Grundsatz der Regierung, trotz des Mitgefühls und des Erbarmens Gottes, ein völliges Gericht herbeigeführt hatte. Unumschränkte Gnade trat jetzt auf den Schauplatz. Frühere Segnungen hatten Joseph zum natürlichen Erben gemacht; er besaß ein reiches und doppeltes Teil. Doch Gott erwählte Juda, Er erwählte Zion. Das gab diesem Ort seine Wichtigkeit. Es ist der Ort, wo die Liebe in Gnade sich zeigte als alles unter dem Gesetz gefehlt hatte, trotzdem Gott mit der größten erbarmenden Langmut handelte. Er baute Sein Heiligtum. Das wird nicht gerade als Gegenstand der erwählenden Gnade dargestellt; aber Gott erwählte David, als er in den niedrigsten Verhältnissen war, um Sein Volk zu weiden.

In diesem außerordentlich schönen Psalm finden wir Grundsätze von der höchsten Wichtigkeit. Israel, das betrachtet wird als auf den Boden der Regierung am Sinai gestellt, auf den Boden eines Gesetzes, das mit Barmherzigkeit vermischt war, hatte gänzlich gefehlt, war verabscheut und verworfen. Ein völliger Zusammenbruch war geschehen; die Bundeslade, das Bindeglied zwischen Israel und Gott, die Stätte der Versöhnung und zugleich Sein Thron, war in die Hände des Feindes gegeben. Doch Gott, dessen unumschränkte Liebe zu Seinem Volke in Macht zur Befreiung eingeschritten war, hatte Juda, Zion und David erwählt und in Gnade ein Band geknüpft, indem Er rettete, nachdem alles in Verfall geraten war. Der Glaube kann zu den erlösenden Taten Gottes, aber nicht zu dem Verhalten des Menschen unter dem Gesetz zurückkehren. Psalm 78 ist das Gegenstück zu Psalm 77. Doch alles dieses wird in Israel mitgeteilt, um das, was die Gnade in den letzten Tagen bewirken wird, zum Vorschein zu bringen, nämlich die Wertschätzung des Gesetzes in ihren Herzen, die sie anleiten wird, es ihre Kinder zu lehren (vgl. 1. Mo 18,17-19  und 2. Mo 34). Die Gnade brachte Israel wiederum unter die Bedingung des Gehorsams. Hier bringt die Macht Gottes Rettung, nachdem Israel selbst unter der Gnade gefehlt hat und das Gericht gekommen ist. Gott handelt nach Seinen Gedanken der Liebe. Ausschließlich unter Gesetz hat Israel nie gestanden; die steinernen Tafeln sind nie in das Lager gekommen (vgl. 2. Kor 3). Das Angesicht Moses glänzte erst, als er Gott gesehen hatte, nachdem er zum zweitenmal auf den Berg gestiegen und in Gnade angenommen worden war, aber was Israel betrifft, so wurde es dieses zweite Mal wieder unter Gesetz gestellt. Gnade und Gesetz wurden eingeführt, und das bedeutete Tod und Verdammnis. Dies ist unmöglich, wenn ein Stellvertreter da ist; aber diesen Platz konnte Mose natürlich nicht einnehmen. „Vielleicht werde ich Sühnung tun für eure Sünde“, sagte er; und auf dem Berge bat er Gott: „Lösche mich doch aus deinem Buche.“ „Nein“, war die Antwort, „wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich auslöschen.“ Das war Gesetz und – wie wir hier sehen und wie in 2. Kor 3  bestimmt erklärt wird – Tod und Verderben.

Psalm 79

Psalm 79 bezieht sich, wie man deutlich erkennen kann, auf den Einfall der Heiden, besonders der Heere des Nordens, die Jerusalem und den Tempel verwüstet und das Blut der Knechte Jehovas vergossen hatten. (Joel 2  redet von einem zweiten Angriff, wobei das Flehen dieses Psalmes beantwortet wird, Jesaja spricht von beiden Einfällen.) Hier werden die früheren Sünden bekannt, und das Erbarmen Gottes wird angerufen. Der Boden, auf dem die Berufung an Gott geschieht, ist derselbe wie in Joel 2  und wie in früheren Psalmen (Ps 42  u. Ps 43). „Warum sollen die Nationen sagen: Wo ist ihr Gott?“ und Gott wird gebeten, sich dadurch zu erkennen zu geben, dass Er das Blut Seiner Knechte räche. So wird Sein Volk und die Herde Seiner Weide Ihn ewiglich preisen. Der Zorn Jehovas wird gesehen, und Glaube ist so weit vorhanden, um zu sagen: „Bis wann?“ Das heißt, obwohl der Überrest sich nicht der Bundessegnungen erfreut (ja, gerade das Gegenteil ist der Fall), blickt der Glaube doch auf dieselben und sieht Jehova erzürnt über Sein Volk. Ist das aber der Fall und erweist es sich so, dass Jehova in Beziehung zu ihnen steht, so kann Er sie nicht aufgeben. Die Frage ist nun: „Bis wann?“ Indes wendet sich der Ruf selbst hier unmittelbar an Gott, nicht an Jehova. Israel ist noch nicht in seine Bundesstellung zurückgebracht. Wenn das geschieht, wird es in einer gekannten Bundesbeziehung stehen, und zwar in Gnade, und das wird nie wieder aus dem Auge verloren werden. Hier ist das nicht der Fall; sie sind vielmehr vertrieben, weil sie unter einem an Bedingungen geknüpften Bunde gefehlt haben, und obwohl der Glaube an die Verheißungen sie aufrecht hält, sind sie doch noch nicht in den neuen Bund eingetreten. Sie stehen außerhalb der Segnungen, und ob sie vorwärts oder rückwärts blicken, sie haben augenblicklich nichts. Das ist nie die Stellung des Christen. Wenn sich jemand dahin stellt und die Sprache des Psalmes auf sie anwendet, so macht er sich zu einem Juden. Denn während Christus für Israel droben verborgen ist, ist der Heilige Geist zu uns herabgekommen, und zwar solange Christus droben weilt, und wir wissen, dass Christus als unser Stellvertreter angenommen und verherrlicht ist, und dass wir in Ihm sind.

Fußnoten

  • 1 Wenn man dies beachtet, wird mancher Psalm leichter verständlich, der sonst schwer zu begreifen sein würde, weil in ihm scheinbar dem Vertrauen auf Gott Leiden und Trübsale folgen; aber in Wirklichkeit sind dieselben nur der Weg gewesen, auf welchem die Seele zu dem Vertrauen gelangte.
  • 2 Dies setzt natürlich Wahrheit im Innern, die Bekehrung, voraus.
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