Der zweite Brief an die Korinther

Kapitel 5

Der zweite Brief an die Korinther

Wie am Ende des vorigen Kapitels, so sehen wir auch in diesem, dass mit der uns vorgestellten Herrlichkeit die persönliche Gewissheit verbunden ist, daran teilzuhaben. „Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte1, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln“ (Vers 1). So konnte der Apostel im Namen aller Gläubigen sprechen. Dachte er zunächst auch an eine gewaltsame Zerstörung dieses Leibes durch die mannigfachen Leiden und Gefahren, die ihn fast täglich an den Rand des Todes brachten, so liegt doch für alle Gläubigen ein herrlicher Trost, eine selige Gewissheit im Blick auf die Hinfälligkeit der irdischen Leibes-Hütte. Auch an dieser wird die Auferstehungskraft des Christus offenbar werden, und unser Teil wird alsdann völlig und für immer mit Christus in der Herrlichkeit sein, wohin Er vorausgegangen ist. Dieses köstliche Bewusstsein ermutigte den Apostel in allen seinen Drangsalen. Diese Herrlichkeit war durch die Kraft des Heiligen Geistes eine lebendige und praktische Hoffnung in seinem Herzen. Er verwirklichte sie durch Glauben; er wusste, dass sie sein war, und er sehnte sich nach ihrem völligen Besitz. Bis jetzt hinderte ihn noch der Leib der Niedrigkeit, diese irdische Hütte, daran. Deshalb sagt er: „Denn in diesem freilich seufzen wir, uns sehnend, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden, so wir anders, wenn wir auch bekleidet sind, nicht nackt erfunden werden“ (Verse 2–3). Er seufzte aber nicht, wie leider viele in unsern Tagen, deren Gewissen nicht befreit ist, und die über ihre Annahme bei Gott in Ungewissheit sind; auch nicht, weil er die Wünsche seines Fleisches nicht vollbringen konnte, oder weil er sich überhaupt in dieser Welt als Mensch unbefriedigt fühlte; o nein, sein Seufzen hatte einen ganz andern Grund. Seine irdische Hütte hinderte ihn, in den völligen Genuss jener Herrlichkeit einzutreten, die er als die seinige erkannte, und wonach das neue Leben, dessen er in Christus teilhaftig geworden war, sich sehnte. Sein Leib war für ihn eine Bürde, die ihn an diese Erde fesselte und ihn mit dieser seufzenden Schöpfung verband, ein Gefängnis, das ihm den Vollgenuss jener himmlischen und herrlichen Freiheit noch vorenthielt und ihn hinderte, Den zu schauen, Den seine Seele liebte.

Bei der herrlichen Aussicht auf die baldige Erlösung aus dem Leib des Todes war das Herz des Apostels weniger mit dem Ablegen der irdischen Hütte als mit dem Anlegen einer neuen beschäftigt: Er sah in dem verherrlichten Christus eine Macht des Lebens, die imstande war, jeden Zug der Sterblichkeit dieses niedrigen Leibes zu verschlingen und ihn in einen verherrlichten zu verwandeln; und diese Verwandlung sollte „in einem Augenblick, in einem Nu“ bei der Ankunft des Herrn erfüllt werden (vgl. 1. Kor 15,52). Deshalb war auch sein Herz allezeit auf jenen glückseligen Augenblick gerichtet; alle seine Gedanken und Gefühle, all sein Dichten und Trachten, all sein Wirken und Ausharren stand in steter Verbindung mit der Wiederkunft des Christus zur Aufnahme Seiner Versammlung (siehe 1. Thes 4,15–18). Und nicht der Apostel allein, sondern alle, die in jenem herrlichen Augenblick Seiner Ankunft noch in dem Leib der Niedrigkeit sind, werden alsdann, wenn sie anders nicht nackt, d. h. entblößt von dem Leben des Christus erfunden werden, an dieser plötzlichen Verwandlung teilhaben, um mit Christus in den völligen Besitz Seiner Herrlichkeit einzutreten (Vers 3). „Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben“ (Vers 4). Dies war kein oberflächlicher Wunsch des Apostels, sondern ging auf die Macht des Lebens, in Christus gegründet, eine Macht, die vollkommen hinreichend war, ihn am Tod vorüber direkt in jene Herrlichkeit einzuführen. Die Gegenwart des Christus droben war das Resultat dieser Macht. Auch war die Hoffnung im Herzen des Apostels nicht bloß durch die Aussicht auf jene Herrlichkeit bewirkt, sondern er war auch selbst von Gott zu deren Empfang zubereitet; und mit ihm sind es alle wahren Christen. Sie sind für die himmlische Herrlichkeit gebildet, für jene Herrlichkeit, in die Christus, der zweite Adam, schon eingegangen ist zur Rechten Gottes. Und alle die Seinigen werden jene Herrlichkeit, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und die in keines Menschen Herz gekommen ist, mit Ihm teilen. Welch eine Hoffnung! Und Gott selbst ist die Quelle von allem; Er hat alles zuvor bereitet. Es ist Seine Herrlichkeit, und wir sind Sein Werk. Er hat uns für den Besitz Seiner eigenen Herrlichkeit fähig gemacht. In allem offenbart sich der Reichtum Seiner Gnade, die Fülle Seiner Liebe, die Größe Seiner Macht; wir sind die Gefäße dieser Gnade, die Gegenstände Seiner Liebe, die Werke Seiner Macht. Dieses Bewusstsein gibt unserm Glauben große Zuversicht. Um sich aber ohne Furcht darin zu erfreuen und es in ruhiger Gewissheit zu genießen, ist die Innewohnung des Heiligen Geistes nötig. Er ist uns von Gott als Unterpfand gegeben, bis wir zum völligen Besitz jener Herrlichkeit gelangt sein werden (Vers 5). „Daher sind wir allezeit guten Mutes und wissen, dass, während einheimisch in dem Leib, wir von dem Herrn ausheimisch sind“ (Vers 6). Ist auch unser Leib noch nicht verwandelt, das Sterbliche vom Leben noch nicht verschlungen, und sind wir auch infolgedessen noch nicht persönlich bei dem Herrn, so sind wir dennoch getrost und guten Mutes. Wir wissen, dass wir für jene Herrlichkeit gebildet sind, und wir haben den Geist als Unterpfand. Außerdem ist Christus, Der die siegreiche Macht, durch die Ihm selbst der Weg zum Himmel geöffnet worden, offenbart hat, unser Leben. Und dieses Leben bleibt unangetastet, sowohl in als außer der irdischen Hütte, d. h. bevor wir noch jene himmlische Behausung empfangen, weil Jesus schon über alle Macht des Todes triumphiert hat. So lange wir noch „einheimisch in dem Leib“ sind, sind wir noch „ausheimisch von dem Herrn“; denn wir „wandeln durch den Glauben, nicht durch Schauen“ (Vers 7). Es ist jetzt unser Glaubensvorrecht, in Gemeinschaft mit dem Herrn durch diese Wüste zu gehen inmitten der mannigfaltigen Umstände und Schwierigkeiten, und wir sind guten Mutes; doch möchten wir „lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“ (Vers 8). Die Liebe zu Ihm weckt und nährt dieses Verlangen, bei Ihm zu sein, und erhält uns eifrig, Ihm wohl zu gefallen, mag Er uns nun in oder außer diesem Leib antreffen, wenn Er kommt, um uns zu sich zu nehmen und uns Seiner Herrlichkeit teilhaftig zu machen (Vers 9).

Es gab aber für das Herz des Apostels noch einen andern Beweggrund zu einem lauteren Wandel: der ernste und feierliche Gedanke, vor dem Richterstuhl des Christus offenbart werden zu müssen. „Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbart werden, damit ein jeder empfange, was er in dem Leib getan, nachdem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (Vers 10). Dort wird alles in dem vollkommenen Licht Gottes beurteilt werden, das alle Finsternis hasst; und wir selbst werden alles erkennen, wie Gott es erkennt. Werden wir dieses Licht ertragen können? Wird es möglich sein, ohne Furcht vor diesem Richterstuhl zu stehen? Können wir jetzt, ohne zu erschrecken, an dieses Offenbarwerden denken? Es wird unmöglich sein, so lange wir nicht wirklich die Gnade verstanden haben und in ihr ruhen, so lange wir nicht Gott als die vollkommene Liebe erkennen. (Vergl. 1. Joh 4,17+18) Ist dies aber der Fall, so werden wir es wünschen, völlig im Licht zu sein. Es wäre uns dann sogar ein peinlicher Gedanke, wenn etwas verborgen bliebe. Ohne die Erkenntnis der Gnade fürchtet der Mensch das Licht. Wie kann es angesichts der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes auch anders sein? Wenn wir aber die Gnade kennen, wenn wir wissen, dass unsere Sünde völlig getilgt und unsere Missetat vor dem Auge Gottes abgetan ist, dann ist es uns eine Freude, in diesem Licht zu sein; dann wissen wir, dass Gott in diesem Licht, in das wir gestellt sind, nichts als Liebe für uns ist. Und in diesem Licht allein findet das Leben des neuen Menschen seine wahre Befriedigung. Es ist in völliger Übereinstimmung mit Gott: es liebt die Gerechtigkeit und Heiligkeit und hasst das Böse.

Wir werden nur dann in dem Licht des Richterstuhls bestehen können, wenn wir der Vollkommenheit jenes Lichtes entsprechen. Jetzt wird der Gedanke an unser Offenbarwerden vor demselben das Herz zuweilen mit Furcht und Schrecken erfüllen wollen, sobald wir nicht in der Wahrheit wandeln, wenn wir nicht die Tragweite des Werkes des Christus verstehen sowohl in Bezug auf unsere Sünden als auch auf unsern Zustand von Natur. Aber wir müssen überzeugt sein, dass nicht nur unsere   begangenen   Sünden   völlig   getilgt   sind, sondern auch die Sünde selbst, unser Zustand im Fleisch, durch das Kreuz des Christus ganz und gar vor Gott hinweggetan worden ist. Die Früchte des natürlichen Herzens sind so schlecht wie der Baum, auf dem sie wachsen, und darum muss beides, Frucht und Baum, für immer vor Gott hinweggetan werden. Dank sei der unergründlichen Gnade Gottes, dass beides für uns in Christus Jesus geschehen ist! „Welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auf erweckt worden ist“ (Römer 4,25). Gott hat „Den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm“ (Vers 21). Die Sünden und die Sünde – die gottlosen Taten und der gottlose Zustand – alles ist für immer auf dem Kreuz des Christus vor Gott beseitigt worden, und dies ist auf eine Weise geschehen, dass die Gerechtigkeit Gottes völlig befriedigt ist und die Gnade und Liebe Gottes vollkommen offenbart worden sind. Wir sind „Gerechtigkeit Gottes“ geworden. Nach unserem ersten Zustand, der nichts als Sünde war, sind wir nicht mehr vor Gott; wir sind mit Christus gestorben und begraben und mit Ihm auferweckt. Wir sind jetzt schon in Christus in das Licht Gottes gebracht. „Wie Er ist“, sagt die Schrift, „so sind auch wir in dieser Welt.“ Im Geist teilen wir jetzt schon Seine Stellung, durch den Glauben sind wir, wie Jesus, unser Herr, die teuren Gegenstände der Gunst und der Liebe Gottes. „Da ist keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind“, und „wer will uns scheiden von der Liebe des Christus?“ (Römer 8,1. 35).

Es ist auch wohl zu beachten, dass wir vor dem Richterstuhl Dessen offenbart werden, „der uns geliebt und uns von unsern Sünden gewaschen hat in Seinem Blut“, der uns während der ganzen Pilgerschaft durch diese Wüste mit so großer Langmut und Liebe getragen hat, der selbst herab kommt, um uns aus unserer Fremdlingschaft in Seine Herrlichkeit heimzuholen, um an unsern sterblichen Leibern Seine Auferstehungsmacht zu offenbaren und unsere Leiber Seinem verherrlichten Leib gleichförmig zu machen. Was kann angesichts dieser unvergleichlichen Liebe uns in Bezug auf Seinen Richterstuhl noch Furcht einflößen? Und wenn wir dort in der gleichen Herrlichkeit wie der Richter selbst sein werden, was kann uns dann noch erschrecken? Wohl werden wir vor jenem Richterstuhl beim Rückblick auf unser ganzes Leben alle unsere Schwachheiten und Torheiten im Licht Gottes erkennen und klar einsehen, mit welchem Unverstand wir oft Seine Wege beurteilt und über Seine Züchtigungen gemurrt haben, aber wir werden dennoch ohne Furcht sein; denn wir werden dann völlig Seine Gnade und Liebe, Seine Güte und Treue, Seine Langmut und Weisheit in allen Seinen Wegen mit uns erkennen; wir werden einsehen, mit welcher Geduld Er uns getragen, aus wie vielen Gefahren Er uns errettet, durch wie viele Versuchungen Er uns geleitet hat. Ja, dort werden wir die Wege Gottes vollkommen erkennen und verstehen. Das vollkommene Licht wird den ganzen Lauf unseres Lebens erhellen, und wir werden dann voll Anbetung hinsinken und die Liebe Dessen preisen, vor Dem wir stehen. Wir wissen zwar, dass dort alles nach dem Licht Gottes beurteilt wird; aber wir erschrecken nicht mehr. Unser Herz wünscht es, offenbar zu werden, weil wir ein Licht in Christus geworden sind. Der Richterstuhl des Christus ist ja zugleich der Tag der Belohnung, „damit ein jeder empfange, was er in dem Leib getan, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses.“ Wir alle werden vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, aber jetzt handelt es sich nicht um das Gericht, um ein Aburteilen: Christus hat Selbst an unserer Stelle im Gericht gestanden, der Gerechte für die Ungerechten. Alles Gericht, das uns hätte treffen müssen, traf Ihn, deshalb kann es sich nicht mehr um eine Bestrafung handeln; wir sollen vielmehr den Lohn empfangen für das Gute, das die Gnade durch uns gewirkt hat. Erkauft durch das teure Blut des Christus, gehören wir Ihm allein an; Ihm schulden wir alles, was wir besitzen, und darum ist es nicht nur unser gesegnetes Vorrecht, sondern auch unsere heiligste Pflicht, für Ihn allein zu leben. Alles aber, was wir in Seinem Dienst und zu Seiner Ehre gewirkt haben, wird am Tag der Offenbarwerdung seine Belohnung finden. Wir sollen für das belohnt werden, das nicht einmal unser Werk war, obgleich es durch uns vollbracht wurde, sondern das Werk des Geistes Gottes in uns. Alles ist von Gott. Er hat uns in Christus zu guten Werken geschaffen und auch diese zuvor bereitet, dass wir in ihnen wandeln sollen (Eph 2,10). Was Er gewirkt hat, soll uns als unsere eigene Handlung zugerechnet werden. Unaussprechliche Gnade!

Andrerseits aber ist der Gedanke an den Richterstuhl, im Blick auf unsere Verantwortlichkeit, eine höchst ernste Sache, die sehr geeignet ist, uns in unserm Dienst hienieden nüchtern und eifrig zu erhalten. Wenn wir die Gnade und das Zeugnis des Geistes in uns vernachlässigt und durch unsere Untreue jene gesegneten Früchte nicht hervorbrachten, so werden wir die Folgen davon tragen müssen; unser Lohn wird verloren sein. Ein nachlässiger Wandel entbehrt schon hienieden vieles, vor allem das süße Vorrecht der Gemeinschaft mit Gott. Er wird uns nimmer aufgeben, weil wir Sein sind; aber anstatt uns mit Seiner lieblichen Gemeinschaft zu erfreuen, muss Er uns züchtigen. Der Geist muss in unseren Gewissen wirken und unser Fleisch richten; kurz, Er muss das aus dem Weg räumen, was uns hindert, die natürliche Frucht der Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes im neuen Menschen hervorzubringen. Vor dem Richterstuhl des Christus werden wir selbst dies alles völlig erkennen; jedes Hindernis, um die gesegneten Früchte des Geistes hervorzubringen, wird dann völlig von uns verstanden werden; aber wir werden auch ebenso völlig Seine Mühe mit uns, Seine Geduld, Seine Fürsorge, seine herablassende Liebe erkennen. Alle Wege Seiner Gnade werden dann in ihren Einzelheiten vor unserer Seele stehen, und die Vollkommenheit und Zärtlichkeit Seiner Liebe in all Seinem Tun mit uns wird eine ewige Erinnerung in unseren Herzen sein. Dort werden wir das Licht ohne Wolken, ohne irgendeinen Schatten von Finsternis in seiner ganzen Vollkommenheit verstehen; und es zu verstehen, bedeutet in diesem Licht zu sein und sich desselben zu erfreuen. Gott selbst ist das Licht. Wenn wir in diesem Licht völlig offenbart sind und ein jeder an dem ihm vom Vater bereiteten Platz verharrt, werden wir die Liebe erkennen, die in ihrer völligen Weisheit und in ihren wunderbaren Wegen über alles Böse geherrscht hat. Sie hat solch arme Kreaturen voller Hochmut und Selbstsucht und aller Unreinigkeit, wie wir waren, dahin gebracht, das ungetrübte Licht der göttlichen Herrlichkeit zu genießen und uns der gesegneten Gegenwart Gottes in Christus Jesus mit ewiger Herrlichkeit zu freuen.

Es ist sehr wichtig, daran zu denken, dass Gott durch das Gericht Seine heilige Autorität behauptet, d. h. Seine Majestät bewahrt. Es wird deshalb für unser Herz von heilsamer Wirkung sein, wenn wir dieses Gericht stets vor unserer Seele haben, damit das Gefühl der unveränderlichen Majestät Gottes in uns erhalten bleibt. Dieser Gedanke erweckt und bewahrt die Furcht Gottes in unsern Herzen. Wir gedenken daran, dass Gott heilig ist; wenn dieser Gedanke unsere Herzen bewegt, werden wir uns stets beeifern, Ihm auf alle Weise wohl zu gefallen. Wir werden uns dessen bewusst sein, dass es eine ernste, feierliche Sache ist, dereinst vor diesem heiligen Gott zu erscheinen. Nur das Bewusstsein Seiner Liebe und Gnade kann uns beruhigen. Es würde unerträglich sein, wenn wir nicht unter der Gnade wären; denn wer könnte einen Augenblick den Gedanken ertragen, das wieder zu empfangen, was er im Leib getan hat? Aber unter der Gnade wird dieser Gedanke auf die rechte Weise vorhanden sein und seine gesegnete Wirkung auf uns nicht verfehlen. Der Gedanke an Seinen Richterstuhl, verbunden mit dem völligen Genuss der Gnade, bildet einen Teil unserer geistlichen Zuneigung zu Ihm. Sobald aber die Überzeugung geschwächt ist, dass die Liebe Gottes völlig und ewig auf uns ruht, ist der allein mögliche Grund, zu Gott in irgendwelcher Beziehung des Vertrauens zu stehen, aufgegeben. Doch in der süßen und friedevollen Atmosphäre der Gnade bewahrt das Gewissen die Rechte und Autorität Gottes gegenüber den listigen Angriffen des Fleisches, das stets Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit zu schwächen sucht. Zugleich wird dieses Bewusstsein uns antreiben, in heiliger Furcht, im Licht der Heiligkeit Gottes zu wandeln. Und wer jetzt in diesem Licht wandelt und dessen gesegnete Strahlen auffängt und in seine Umwelt zurückstrahlt, wird dies Licht an jenem Tag nicht fürchten. Wir werden offenbar werden mit unserem Innersten; aber wandelnd in dem Licht, in dem Gefühl der Ehrfurcht, sind wir Gott jetzt schon offenbar geworden. Dieses Werk der Offenbarung ist schon wirklich, insoweit wir in dem Licht offenbar geworden sind. Wir können auf das zurückblicken, was wir vor unserer Bekehrung waren und auf alle unsere Fehltritte während jener Zeit, und dennoch Frieden haben. Wir werden mit Demut die Gnade Gottes in allem anbeten, was Er für uns getan hat, seitdem wir Ihn kennen dürfen; aber keine Furcht, kein Gedanke an Zurechnung von Schuld wird uns beschweren. Wir werden ein tiefes Gefühl haben, was die Tiefen der Gottheit bedeuten; in Betreff der Gewissheit Seiner Gnade und unserer Annahme in dem Geliebten werden wir völlig ruhig, still und dankbar sein. Der Gedanke an Seinen Richterstuhl wird dies Bewusstsein nicht im Geringsten abschwächen können; aber er wird uns antreiben, alles in uns selbst zu richten, was böse ist. In diesem Licht richten wir alles, wie Gott selbst richtet, und verwirklichen also unsere Gemeinschaft mit Ihm. Dies ist außerordentlich köstlich. Im Bewusstsein Seiner überschwänglichen Gnade, im Genuss Seiner vollkommenen Gunst und Liebe erfreuen wir uns in Seiner Gegenwart und wandeln vor Ihm in dem Gefühl Seiner Autorität und Majestät, und nichts kann den süßen und freien Strom Seiner unvergleichlichen Liebe hindern, sich auf uns zu ergießen. Auf diese Weise rechtfertigt der Wandel einen Menschen vor dem Gewissen des andern; er ist offenbart als wandelnd im Licht. So war es mit dem Apostel, als er die Worte schrieb: „Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen, Gott aber sind wir offenbar geworden, ich hoffe aber auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein“ (Vers 11).

Hier haben wir die zwei großen, praktischen Grundsätze des Dienstes: Wer selbst mit einem guten Gewissen im Licht wandelt und von dem Gefühl dieses „Schreckens des Herrn“ durchdrungen ist, wird getrieben werden, sich in Liebe um die Herzen derer zu bemühen, welche in Gefahr sind, vom ewigen Gericht ereilt zu werden. Ein solcher hat den Schrecken des Herrn vor seinen Augen, und was ist die Folge? Er fängt an, andere zu überreden. Dies war es, was Paulus tat. Für seine eigene Person hatte der Gedanke an den Richterstuhl nichts Schreckliches mehr. Er kannte wohl die Gerechtigkeit Gottes, die alles richtet; aber er kannte auch Seine vollkommene Liebe. Beide sind in Christus vereinigt, und beide sind in Ihm das Teil eines jeden Gläubigen. Der Gläubige ist in Christus, und in Ihm besitzt er die Gerechtigkeit, welche nötig ist, um bei Gott in Gnaden zu sein und Ihn zu genießen. Er richtet durch die Gerechtigkeit, welche Er Selbst ist; aber wir sind gerecht und besitzen die Gerechtigkeit Gottes in Ihm. Dieses Bewusstsein wird nicht nur alle Furcht beseitigen, sondern wird uns auch zur Anbetung für solche Gnade hinreißen. Je mehr wir erkennen, was Gott für solche ist, wie wir sind, desto mehr werden wir die Größe der Gnade verstehen; und je mehr wir die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes erkennen, desto mehr werden wir es zu schätzen wissen, dass wir an jenem ernsten und schrecklichen Gericht keinen Anteil haben werden. Weil wir aber „den Schrecken des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen.“ Beim Blick auf jenen feierlichen Augenblick wusste der Apostel, dass er die Gerechtigkeit, welche er im Gericht sah, wirklich besaß; denn der, welcher richtet, war seine Gerechtigkeit; aber er suchte gemäß des Werkes, das ihn selbst so nahe zu Gott gebracht hatte, auch andere dorthin zu führen. Dieser Blick auf jenes Gericht und unser völliges Offenbarwerden an jenem Tag hatte eine gegenwärtige Wirkung auf seinen Wandel. Er verwirklichte es schon jetzt durch den Glauben. Er war offenbar geworden und fürchtete nicht, offenbart werden zu müssen. Er wusste, dass der Richterstuhl alle Wege Gottes mit ihm völlig enthüllen würde; aber er war Gott schon jetzt offenbar geworden; sein Gewissen war in dem Licht Gottes in Übung. Er besaß auf diese Weise eine gegenwärtige und heiligende Macht.

Wie aber der Apostel Gott offenbar geworden war, so hoffte er auch in den Gewissen der Korinther offenbar zu werden; er hoffte, dass sein Wandel und sein Dienst ihnen bekannt sein würden und dass es nicht nötig wäre, noch etwas hinzuzufügen. „Denn wir empfehlen uns selbst euch nicht wiederum, sondern geben euch Anlass zum Ruhme unserthalben, damit ihr ihn habt bei denen, die sich nach dem Ansehen rühmen und nicht nach dem Herzen. Denn wenn wir außer uns sind, so sind wir es Gott, wenn wir vernünftig sind – euch“ (Verse 12–13). Der Apostel wollte sie in den Stand setzen, sich seinetwegen vor den falschen Lehrern rechtfertigen zu können, vor jenen, die nur einen äußern Schein hatten, aber nicht nach dem Herzen bewährt waren. War nun der Apostel außer sich, ganz von Gott erfüllt und außer dem Bereich alles Sinnlichen, so war er es für Gott und mit Ihm allein beschäftigt. War er aber „vernünftig“, d. h. mit seinem Dienst beschäftigt und besonnen auf alle Mängel und Gebrechen der Kinder Gottes eingehend, so war er es für die Korinther; er war dann allein auf ihr Wohl und auf ihren Nutzen bedacht. Welch ein gesegnetes Leben! Er war entweder in einem Zustand, wo seine Seele so ganz und gar mit Gott beschäftigt war, so dass alles andere schwand, oder in einem Zustand, wo er, erfüllt von der Liebe Gottes, nur das Heil anderer suchte.

In seinem persönlichen Wandel und in seinem Dienst für das Evangelium wurde er aber nicht allein durch den Gedanken an den Richterstuhl des Christus geleitet, sondern vor allen Dingen durch die Liebe Dessen, der am Kreuz Sein Leben für Seine Feinde dahin gegeben, Der für verlorene Sünder Sein kostbares Blut vergossen hatte; deshalb sagt er: „Denn die Liebe des Christus drängt uns, indem wir also geurteilt haben, dass einer für alle gestorben ist und somit alle gestorben sind“ (Vers 14). Die Wahrheit, dass Christus für alle gestorben war, bewies, dass alle tot in Sünden waren. Dies ist der allgemeine Zustand der Seelen; deshalb suchte sie der Apostel auf, verkündigte allen das Evangelium, damit sie durch Christus Gott leben möchten. „Und Er ist für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“ (Vers 15). Man merke hier auf den Unterschied, den der Apostel zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen macht. Er sagt, Christus sei für alle, d. h. für alle Menschen gestorben, ein Beweis, dass alle tot waren; und darum drängt ihn die Liebe des Christus, allen das Evangelium zu verkündigen. Für die Gläubigen aber ist Er nicht allein gestorben, sondern auch auferweckt. Seine Auferweckung ist der Beweis ihrer Rechtfertigung. Alle ihre Sünden ließ Er im Grab zurück und machte sie Seines Auferstehungslebens teilhaftig. Sie sind jetzt völlig Sein; sie gehören Ihm mit allem, was sie sind und haben. Er hat sie für sich erkauft, und darum ist es auch die Pflicht und Schuldigkeit der Seinigen, nur für Ihn zu leben. Zugleich hat Er sie in eine ganz neue Sphäre versetzt, sie sind nun eine neue Schöpfung geworden, von der Er, Christus, Selbst das Haupt ist. Sie befinden sich gleichsam in einer andern Welt und haben alles zurückgelassen, was dem natürlichen Leben im Fleisch hier unten angehört, sind aber in Verbindung mit allem gebracht, was in Christus Jesus ist. Allem andern ist der Stempel des Todes aufgedrückt; alles ist unter dem Tod eingeschlossen. Christus, insoweit Er in Verbindung mit der Welt hier unten war, ist gestorben. Er mochte als Messias gekannt worden sein, lebend auf der Erde und in Verbindung mit den Verheißungen, welche den auf der Erde im Fleisch lebenden Menschen gegeben worden waren; aber auf diese Weise kannte der Apostel Ihn jetzt nicht mehr. Als Mensch war Er gestorben, und jetzt, nachdem Er auferstanden, hatte Er Seinen neuen und himmlischen Charakter offenbart, so dass Paulus schreiben konnte: „Daher kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleisch, wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht mehr also“ (Vers 16). Alle Beziehungen zum Fleisch und zu der Welt sind in Christus verschwunden. „Daher, wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden“ (Vers 17). Der Erlöste gehört dieser neuen Schöpfung an; er ist ein Teil derselben. Auferweckt mit Christus ist er der früheren Schöpfung entrückt; alles ist neu geworden. „Alles aber von dem Gott, Der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus und hat uns den Dienst der Versöhnung gegeben“ (Vers 18). In dieser neuen Ordnung der Dinge, in dieser Neuschöpfung ist alles von Gott geschenkt. Wir sind im Frieden, weil Gott, der Mittelpunkt und die Quelle dieser Neuschöpfung, uns mit sich selbst versöhnt hat. Wir waren Sünde und Finsternis, waren dem Leben Gottes entfremdet und waren sogar Feinde Gottes; aber Gott hat uns durch das Blut Seines Geliebten versöhnt. In Ihm hat Er jedes Hindernis beseitigt und uns angenommen und uns mit sich selbst in die innigste Beziehung gebracht. Wir sind neue Geschöpfe in Christus geworden und damit ist uns eine neue Natur geschenkt. Zugleich war dem Apostel der Dienst der Versöhnung übertragen, welcher der neuen Lebensordnung entspricht, in die er selbst eingeführt war.

Also haben wir in Vers 18 die Wirkung dessen, was Gott für die Gläubigen getan hat – „Er hat uns mit sich selbst versöhnt“. Auf welche Weise hat nun Gott diese Versöhnung zustande gebracht? Die Antwort des Apostels lautet: „Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und in uns das Wort der Versöhnung niederlegend“ (Vers 19). Gott war in Christus, als Er auf Erden war, und zwar mit dieser Absicht: die Welt zu versöhnen, die Sünde wegzunehmen und das Wort der Versöhnung in den Apostel zu legen. Solange nun die Diener Gottes noch mit diesem Dienst betraut und beschäftigt sind, ist es offenbar, dass jene, zu denen Gott Seine Diener sendet, noch nicht versöhnt sind, dass Gott aber die Absicht hat, das Versöhnungswerk durchzuführen. In Christus findet der verlorene Sünder alles, um mit Gott versöhnt zu werden und in Seine Gemeinschaft einzutreten. Gott sandte und sendet noch heute Seine Boten zu diesem Zweck, die Menschen zu bitten: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (Vers 20). Welch eine Gnade! Nicht genug, das Werk der Versöhnung in Christus für Seine Feinde vollbracht zu haben, lässt Er diese auch immer noch zum Genuss dieser Segnungen dringend einladen. Der Apostel war ein Gesandter des Christus während Seiner Abwesenheit. Er handelte an Seiner Statt. Diese Gemeinschaft war auf eine Wahrheit von unermesslichem Wert gegründet, nämlich, dass Gott „Ihn, Der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht hat, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm“ (Vers 21). Dies ist der wahre Weg, um uns mit Gott zu versöhnen, und zwar nach der völlig offenbarten Vollkommenheit Gottes. Er liebte uns, da wir noch Sünder waren. Er gab Seinen geliebten Sohn, Der Sünde nicht kannte, an Dem kein Flecken, ja nicht der leiseste Schatten oder Schein einer Sünde war. Wir aber waren nichts als Sünde, und darum musste Jesus an unserer Statt zur Sünde gemacht werden, um uns völlig aus dem alten Zustand zu erretten und in Seine Stellung vor Gott zu bringen. In dieser Stellvertretung hat Christus vollkommen Gott verherrlicht, und Gott hat uns in Ihm für immer vor den Fürstentümern und Gewalten in den himmlischen Örtern (Eph 3,10) zum Ausdruck Seiner göttlichen Gerechtigkeit und zum Gegenstand Seiner Liebe und Wonne dargestellt. Der Mensch hatte keine Gerechtigkeit vor Gott, aber Gott hat uns in Christus zu Seiner Gerechtigkeit gemacht; ja, Seine Gerechtigkeit ist in uns völlig offenbart und erwiesen worden. Unergründliche Gnade! Christus nahm den Platz des Sünders ein im Gericht, damit dieser Seinen Platz in der Herrlichkeit einnehmen möchte. Wo diese Gnade erkannt wird, da kann das Herz nicht anders, als in Demut niedersinken und mit Inbrunst Gott loben und anbeten!

Fußnoten

  • 1 „Hütte“ steht hier im Gegensatz zum „Haus“. Die erste, der irdische Leib, ist etwas Vorübergehendes, Vergängliches, ein Zelt, in dem man nur einige Tage verweilt; das andere aber ist immer bleibend.
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