Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 10

Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 10 verfolgt den Gegenstand weiter und enthüllt die Entwicklung vom Anfang bis zum Ende der geistlichen Geschichte – nicht eines Schafes Christi, sondern – des Hirten auf der Erde. Deshalb verweilte der Herr nicht bei dem Gericht, das Ihm der Unglaube abnötigte und im Gegensatz zur Befreiung des Glaubens stand. Hingegen entwickelte Er die Wege der Gnade, die, wie immer, im ausdrücklichen Widerspruch zu dem jüdischen System stehen. Sie waren allerdings verbunden mit dem Mann, der um des Herrn willen aus der Synagoge geworfen, von Ihm gefunden und in ein volles Bewusstsein seiner Herrlichkeit außerhalb des Judentums geführt wurde. Ausschließlich dort ist wahre Anbetung möglich. Folglich entfaltete unser Herr diese neue Entwicklung – seine eigene Geschichte als Mensch von Anfang an.

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern  anderswo hinübersteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber“ (V. 1). Jesus handelte nicht so. Er war entsprechend jeder Forderung der Schrift durch die Tür eingetreten. Obwohl Er der Sohn war, hatte Er sich jeder Anordnung unterworfen, welche von Gott für den Hirten seines irdischen Volkes aufgestellt worden war. Er hatte das Werk ausgeführt, das Gott für Ihn in der Prophetie und in Vorbildern aufgezeichnet hatte. Was wurde vom Gesetz gefordert oder festgelegt, und Er hätte es nicht vollständig erfüllt? Er wurde zur bestimmten Zeit, am richtigen Ort, aus dem verheißenen Geschlecht und von der genau gekennzeichneten Mutter entsprechend dem geschriebenen Wort Gottes geboren. Gott hatte schon im Voraus dafür gesorgt, dass jeder wichtige Wesenszug klar herausgestellt war, an dem man den wahren Christus Gottes erkennen konnte. Alle Kennzeichen wurden von Jesus insoweit erfüllt, wie sie damals schon erfüllt werden konnten, denn es sei zugegeben, dass die Prophezeiungen, die sich auf die Unterwerfung aller Menschen und das Gericht sowie die Herrschaft über die Erde beziehen, erst noch erfüllt werden müssen. „Diesem“, sagte Er, „tut der Türhüter auf“ (V. 3). Das wurde verwirklicht. Beachte die Wirksamkeit des Heiligen Geistes in Simeon und Anna – ohne von den Übrigen zu sprechen – und vor allem in Johannes dem Täufer! Gott wirkte in seiner Gnade in Israel; und es gab dort gottesfürchtige Herzen, die auf Ihn vorbereitet waren.

„Und die Schafe hören seine Stimme.“  Das finden wir in den Evangelien geschildert, insbesondere von Anfang an in dem des Lukas. „Und er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus.“  Ganz offensichtlich bezieht der Herr sich auf die Erfahrung des Blinden. Zweifellos wurde er aus der Synagoge gestoßen; doch Christus gibt dieser bösen Tat seine eigene Auslegung im Licht der göttlichen Ratschlüsse. Dieser Mann erkannte in jenen schmerzlichen Augenblicken wohl kaum, dass in Wirklichkeit die Gnade ihn hinausführte. Wenn es auch kurze Zeit vor des Herrn eigener öffentlicher und endgültiger Verwerfung geschah, so wirkte hier doch derselbe Grundsatz. Ein Jünger ist nicht über seinem Herrn. Wenn jemand vollkommen sein will, muss er werden wie sein Herr (Mt 10, 25). „(Er) geht vor ihnen her“ (V. 4). Das bezieht sich anscheinend auf das, was bisher geschehen war und später seine volle Erfüllung finden sollte. Der Herr hatte schon die Feindschaft und Verachtung der Menschen, und insbesondere der Juden, geschmeckt. Er kannte aber auch die Tiefen der Schande und Leiden, durch welche Er bald hindurchgehen musste, bevor die Schafe öffentlich abgesondert werden konnten. Jedenfalls, sei es in Wirklichkeit, sei es im Vorbild, Jesus ging voraus und die Schafe folgten, „weil sie seine Stimme kennen.“  Das bewirkt ihr geistlicher Instinkt, und darin liegt ihre Sicherheit. Sie brauchen nicht geschickt den Irrtum zu erkennen und zurückzuweisen, sondern einfältig an Christus und der Wahrheit festzuhalten. Wir sehen das in dem einst Blinden verwirklicht. Welche Bedeutung hatten die Pharisäer für sein Gewissen? Nicht die geringste. Sie fühlten im Gegenteil, dass er sie belehrte. „Einem  Fremden aber werden sie nicht folgen“ (V. 5). Genauso wenig folgte er den Pharisäern. Jetzt konnte er jedoch mit den neuen Augen, die der Herr ihm gegeben hatte, ihre hohle Anmaßung und ihre Feindschaft gegen Jesus als umso abscheulicher erkennen, weil sie diese mit den Worten: „Gib Gott die Ehre“ (Joh 9, 24) verbanden. „Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen.“  Sie fliehen nicht, weil sie das schändliche Kauderwelsch der Fremden gelernt haben, sondern „weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen.“  Sie kennen die Stimme des Hirten und folgen ihr. Dies bewirkt die Liebe zum Guten und nicht Geschick beim Aufspüren des Bösen. Einige haben die Kraft, das Ungesunde zu erkennen und zu unterscheiden. Das ist jedoch nicht das wahre, unmittelbare und göttliche Hilfsmittel für die Sicherheit der Schafe Christi. Es gibt einen viel natürlicheren, direkteren und sichereren Weg. Er besteht ganz einfach darin, dass wir ohne die Stimme Christi keine Ruhe finden können. Dem, was nicht die Stimme Christi ist, folgen die Schafe nicht. Was wäre auch schicklicher für die Schafe oder des Herrn würdiger?

Da diese Gedanken nicht verstanden wurden, stellt der Herr im Folgenden die Wahrheit noch klarer heraus. Er beginnt in Vers 7 mit: „Ich bin die Tür der Schafe.“  Beachten wir: Er spricht nicht von der Tür des Schafhofs, sondern der Schafe! Er selbst ist durch die Tür eingetreten – natürlich nicht durch die „Tür der Schafe“. Er ging durch die Tür in den  Schafhof. Er war mit jedem Zeichen und Merkmal in sittlicher, übernatürlicher, prophetischer und persönlicher Hinsicht, die Gott seinem alten Volk mitgeteilt hatte, um Ihn daran zu erkennen, eingetreten. Auf welche Weise Er auch gekommen war, das Volk, welches das Gesetz gebrochen hatte, wies den Hirten ab. Als Ergebnis führte Er seine Schafe heraus, indem Er vor ihnen herging. Jetzt hören wir noch mehr. Er sagt: „Ich bin die Tür der Schafe.“  Der Gegensatz zu vorgeblichen oder einfach menschlichen Hirten wird im nächsten Vers als eine Einfügung vorgestellt. „Alle, die irgend vor mir (wie Theudas und Judas; Apg 5) gekommen, sind Diebe und Räuber (sie bereicherten sich im Geheimen oder offen an den Schafen); aber die Schafe hörten nicht auf sie.“

In Vers 9 erweitert Er den Gedanken. „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.“  Das Teil, welches Er den Schafen gibt, steht in anderer Weise im Gegensatz zum Gesetz als das Licht am Anfang von Kapitel 8, welches  alle Sünde und  jeden Sünder offenbar macht. Hier geht es um Gnade in ihrer Fülle. „Wenn jemand durch mich (nicht durch die Beschneidung oder das Gesetz) – „wenn jemand durch mich eingeht.“  Das Gesetz hatte nichts mit Hineingehen zu tun, denn es beschäftigte sich mit Personen, die schon in einer anerkannten Beziehung zu Gott standen. In unserem Kapitel handelt es sich hingegen um eine Einladung an solche, die draußen sind. „Wenn jemand durch mich eingeht, so wird er errettet werden.“  Das erste Bedürfnis eines Sünders besteht in der Errettung; und sicherlich benötigen die Nichtjuden sie genauso wie die Juden. „Wenn  jemand durch mich...“ – es kommt nicht darauf an, wer er ist. Wenn er eingeht, wird er errettet. Das Heil ist nichtsdestoweniger nur für die, welche eintreten. Es gibt keine Errettung für jene, die außerhalb Christus bleiben wollen. Doch das ist nicht alles, denn die Gnade in Christus gibt reichlich, und zwar nicht allein die Errettung, sondern alles. So wird gesagt: „(Er) wird ein und ausgehen.“  In Christus ist nicht nur Leben und Errettung; in Ihm finden wir auch, im Gegensatz zum Gesetz, Freiheit. „(Er wird) Weide finden.“  Außerdem wird uns Nahrung zugesichert. So finden wir ausreichend für die Schafe gesorgt. Wer durch Christus eingeht, empfängt Errettung, Freiheit und Nahrung.

Der Herr zieht erneut Vergleiche zu anderen. „Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben“ (V. 10). An ihren Früchten sollten sie diese erkennen. Wie konnten die Schafe solchen Hirten trauen? „Ich bin gekommen, auf dass sie Leben haben und es in Überfluss haben.“  Schon zu Zeiten der Verheißungen gab es Leben. Während der ganzen Periode des Gesetzes gab es Leben. Christus war eindeutig schon immer das Mittel zum Leben seit dem Tag, an dem der Tod in die Schöpfung eindrang. Da Er aber jetzt in die Welt gekommen war, sollten sie nicht nur Leben haben, sondern dieses auch „in Überfluss“. Das war die Wirkung der Gegenwart des Sohnes Gottes auf der Erde. Er erniedrigte sich in dieser Welt, und zwar bis zum Tod, dem Tod am Kreuz. Außerdem starb Er als Sühnung für Sünder. War es da nicht richtig und angemessen, dass Gott diese unendlich große Tatsache und dieses Werk sowie diese Person mit einer unvergleichlich reicheren Segnung, als sie jemals vorher mitgeteilt wurde, auszeichnete? Ich kann es mir nicht anders vorstellen, zumal das Wort Gottes es so zeigt in Übereinstimmung mit der Herrlichkeit Gottes, des Vaters.

Er war nicht nur die Tür seiner Schafe (aus Israel) und danach für andere Menschen, um hineinzugehen, sondern Er sagt auch (V. 11): „Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“  Jetzt wird nicht länger der Gegensatz zu Dieben und Räubern mit mörderischen oder offensichtlich eigennützigen Absichten übelster Art herausgestellt. Es gibt nämlich auch Personen, die durch eine mildere Form menschlicher Schlechtigkeit gekennzeichnet sind. Sie wirken nicht direkt zum Verderben der Schafe, sondern sind einfach nur selbstsüchtig. „Der Mietling aber und der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt sie und zerstreut die Schafe. Der Mietling aber flieht, weil er ein Mietling ist und sich um die Schafe nicht kümmert“ (V. 12–13). Christus als der gute Hirte handelt anders. Er bleibt bei seinen Schafen, um alles für sie zu erleiden, anstatt wegzulaufen, wenn der Wolf kommt. „Ich bin der gute Hirte; und ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, gleichwie der Vater mich kennt, und ich den Vater kenne“ (V. 14–15). Das heißt: Er zeigt sich als der gute Hirte, weil Er und die Schafe sich gegenseitig kennen, genauso wie Er den Vater und der Vater Ihn. Die Wechselseitigkeit der innigen Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn ist ein Muster von der Vertrautheit zwischen Hirte und Schaf. In welch eine wunderbare Stellung werden wir und der Charakter unserer Erkenntnis versetzt! Die Erkenntnis, welche die Gnade den Schafen mitteilt, ist so wahrhaft göttlich, dass der Herr nichts anderes zum Vergleich findet als die Erkenntnis, welche zwischen Vater und Sohn besteht. Es geht jedoch nicht allein um Verständnis, so innig, vollkommen und göttlich es auch ist. Wir lesen noch mehr. „Ich lasse mein Leben für die Schafe.“  Der Herr deutet an, dass Er noch andere Schafe hat, die auch hineingebracht werden sollen und nicht zum jüdischen Schafhof gehören. Wie immer im Johannesevangelium blickt Er ganz eindeutig in die ganze Welt hinaus. Es sollte  eine Herde (nicht  ein Schafhof!),  ein Hirte sein.

Außerdem öffnet Er jetzt noch mehr den Blick auf das unaussprechliche Wohlgefallen des Vaters an seinem Werk an sich. Daher fügt Er hinzu: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse“ (V. 17). Hier sagt Er nicht, dass Er sein Leben „für die Schafe“  lässt, sondern: „Auf dass ich es wiedernehme.“  Das bedeutet: Indem Er sein Leben für die Schafe gab, geschah es auch, um sein vollkommenes Vertrauen auf seinen Vater zu beweisen. Für jemand anderes – ja, für jeden anderen – war es unmöglich, so viel zu geben. Sogar Er konnte nicht mehr geben als sein Leben. Nichts könnte mit der Dahingabe seines Lebens verglichen werden. Sie war die vollständigste und bedingungsloseste Aufgabe seiner selbst. Er gab sich allerdings nicht allein zu dem gnädigen Zweck, die Schafe aus der Hand des Verderbers für Gott zu gewinnen. Sein noch gesegneteres und herrlicheres Ziel bestand darin, in einer Welt, wo der Mensch von Anfang an Gott verunehrt hat, als Mensch sein vollkommenes Vertrauen auf seinen Vater zu offenbaren. Er gab sein Leben, um es wieder zu nehmen. Anstatt sein Leben in ununterbrochener Abhängigkeit von seinem Vater auszuleben, gab Er es in einer noch viel tieferen und wahrhaft uneingeschränkten Abhängigkeit auf. „Darum“, sagt Er, „liebt mich der Vater.“  Diese Abhängigkeit bis in den Tod wird zusätzlich zu der Vollkommenheit, die immer während seines ganzen Weges an Ihm gesehen wurde, für den Vater zu einem nachdrücklichen Grund, Ihn zu lieben. Wir sehen aber noch mehr. Obwohl seine Dahingabe ausdrücklich aus freiem Willen geschah, erkennen wir einen weiteren, erstaunlichen Grundsatz, nämlich die Verbindung dieser absoluten Hingabe seinerseits in vollständiger Freiheit des Willens mit seinem Gehorsam (V. 18). Er bewirkte das Werk somit aus eigenem Willen (wie wir es immer in aller Vollkommenheit bei Christus finden) und verband es trotzdem mit dieser schlichten Unterwerfung unter das Gebot des Vaters. Wahrhaftig, Er und der Vater sind eins! Und so beendet Er das Thema nicht, bevor diese Wahrheit in Vers 30 eindeutig ausgesprochen wurde. Er und der Vater sind eins – eins in allem. Sie sind nicht nur eins in Liebe und in den gnädigen Ratschlüssen für die Schafe, sondern auch in ihrer Natur – in jener göttlichen Natur, die natürlich die Grundlage für alle Gnade bildet.

Außerdem führte der Unglaube der Juden zur Aufdeckung einer weiteren Wahrheit, nämlich die von der völligen Sicherheit der Schafe. Das war sehr wichtig, denn schließlich musste Er sterben. Sein Tod stand im Blickfeld; was sollten die Schafe dann tun? Würde der Tod Christi in irgendeiner Weise die Schafe in Gefahr bringen? Nein, im Gegenteil! Der Herr erklärt das ganz bestimmt. Er sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben“ (V. 27–28). Zunächst einmal ist das Leben ewig. Doch nicht nur das Leben an sich ist ewig, sie sollten auch nicht verloren gehen. Es mochte nämlich vorgebracht werden, dass das Leben selbst zwar ewig dauert, es jedoch von gewissen Bedingungen in dem Empfänger desselben abhänge. Nein, „sie gehen nicht verloren“ – d. h. die Schafe. Sowohl das Leben selbst als auch diejenigen, die es durch die Gnade in Christus besitzen, sollten nicht verloren gehen. Um jede Frage bezüglich der Sicherheit abzuschließen und zu krönen, spricht der Herr von jeder denkbaren feindlichen Macht. Konnte jemand von außen ihnen schaden? Nein! So wie keine innere Quelle der Schwachheit das Leben gefährden kann, so soll auch keine äußere Gewalt Furcht hervorrufen. Wenn irgendeine Macht das Recht hat, das Leben zu nehmen, dann sicherlich nur Gott. Sie waren jedoch genauso in der Hand des Vaters wie in der des Sohnes; niemand konnte sie herausreißen. Auf diese Weise umzäunte der Herr sie sogar durch seinen Tod genauso wie durch jenes Leben, welches in Ihm war und dessen Überlegenheit über den Tod Er durch seine Macht erwies, indem Er es in der Auferstehung wiedernahm. Das ist das Leben im Überfluss, welches sie von Ihm empfangen. Warum sollte sich jemand über diese Gewalt wundern? Der Sohn tritt gegen alle Feinde für die Schafe ein und ebenso der Vater. Ja, „ich und der Vater sind eins“ (V. 29–30).

Unser Herr überführt dann die Juden angesichts ihres Hasses und ihrer ständig zunehmenden Feindschaft auf ihrem eigenen Boden von der Unsinnigkeit ihrer Einwände (V. 31–38). Schon vorher war ein Zwiespalt unter den Juden wegen der Worte Jesu entstanden; und ihre Behandlung als Ungläubige durch Ihn und die Worte von der Sicherheit der Schafe, welche auf seine Stimme hören, Ihm folgen und die Er kennt, war ein Ergebnis ihres zweifelnden Appells an Ihn (V. 19–30). Fanden sie es anstößig, dass Er den Platz des Sohnes Gottes einnahm? Sie mussten doch zugeben, dass nach ihrem Gesetz Könige, Statthalter und Richter „Götter“ genannt wurden. „Wenn er jene Götter nannte, zu welchen das Wort Gottes geschah, (und die Schrift kann nicht aufgelöst werden) saget ihr von dem, welchen der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: Du lästerst, weil ich sagte: Ich bin Gottes Sohn“ (V. 35–36). Hatte Er nicht à fortiori 1 eine Stellung, die kein König jemals einnahm? Sprach Er also nach ihren eigenen Grundsätzen Lästerungen aus, als Er sagte, dass Er der Sohn Gottes sei? Er geht jedoch noch weit darüber hinaus. Wenn sie Gottes Wort und seine eigenen Worte nicht beachten wollen, verweist Er auf seine Werke. „Wenn ich nicht die Werke meines Vaters tue, so glaubet mir nicht; wenn ich sie aber tue, so glaubet den Werken, wenn ihr auch mir nicht glaubet, auf dass ihr erkennet und glaubet, dass der Vater in mir ist, und ich in ihm“ (V. 37–38). Dieses verbindet, wie ich annehme, das zehnte Kapitel mit dem vorigen und steht im Gegensatz zu Kapitel 8. Sie hatten mehrmals versucht, Ihn zu töten. Jetzt verlässt Er sie und geht an den Ort, wo Johannes zuerst getauft hatte. Angesichts seiner völligen Verwerfung in jeder Hinsicht – sowohl in dem Charakter als der Ausdruck Gottes in der Welt als auch in der Ausführung seiner Werke der Gnade auf der Erde – sehen wir hier das eindeutige Endergebnis. Der Mensch, insbesondere der Jude, hatte sich auf einen unerschütterlichen Unglauben und eine tödliche Feindschaft versteift. Darum wird auf der anderen Seite die unantastbare Sicherheit der Schafe als Gegenstände der Gnade mit umso größerer Klarheit und Bestimmtheit an das Licht gestellt.

Fußnoten

  • 1 à fortiori = aus gewichtigeren Gründen. (Übs.)
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