Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 8

Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Wir sind jetzt zu einem Punkt gelangt, der mir die Gelegenheit gibt, etwas zum Anfang dieses und zum Ende des vorigen Kapitels zu sagen. Bekanntlich erlauben viele Menschen und (wie ich hinzufügen muss – es ist traurig zu sagen) nicht wenige Christen in ihren Gedanken Zweifel, die gegen Johannes 7,53 bis 8,11 als göttliches Wort sprechen. Dabei handelt es sich um einen sehr kostbaren Abschnitt des Wortes Gottes! Die Faktenlage ist so: Der Absatz von der überführten Ehebrecherin wird in einigen Kopien der Schrift einfach weggelassen oder durch ein sinnloses Gegenstück ersetzt. Andere versahen ihn mit Anmerkungen des Zweifels oder fügten ihn an anderer Stelle in das Johannesevangelium ein. Außerdem gibt es eine große Anzahl verschiedener Lesarten. Dieser Sachverhalt, verbunden mit vielen vorgebrachten Wortbesonderheiten, wirkte auf die Gedanken einer erheblichen Anzahl von Gelehrten ein und führte sie dazu, das Recht dieses Ereignisses auf einen Platz im Original des Johannesevangeliums zu bezweifeln. Ich denke nicht, dass wir über die Einwände, die üblicherweise erhoben werden, gleichgültig hinweggehen sollten. Nichtsdestoweniger lässt eine durchdachte und genaue Prüfung derselben für mich nicht den geringsten Zweifel bestehen. Darum erscheint es mir umso mehr eine Pflicht zu sein, den Abschnitt zu verteidigen; denn die vorgeschlagenen Erklärungen verunehren das, was, wie ich glaube, Gott uns gegeben hat.

Zugunsten des Abschnitts sprechen die stärkstmöglichen Beweise von einem solchen Charakter, wie sie nicht besser zum Text passen könnten und dessen sich kein Fälscher jemals rühmen könnte. Und diese sittlichen oder geistlichen Anhaltspunkte – selbstverständlich nur für solche, die fähig sind, Gottes Gedanken zu erfassen und zu genießen – sind unvergleichlich schwerwiegender und schlüssiger als jeder Beweis äußerer Art. Nicht dass der äußere Beweis schwach ist. Keineswegs! Die Belege, welche meine Überzeugung stützen, erlauben eine vernünftige, zwanglose, ja, man kann sogar fast sagen, eine geschichtliche Lösung des Problems. Die unberufene Abänderung des Textes geschah vermutlich aus menschlichen Motiven, wie sie in alter oder neuerer Zeit nicht selten wirkten. Die Menschen haben oft versucht, mit guten oder bösen Absichten das Wort Gottes umzuändern. Abergläubische Personen, die in die Schönheit dieser Schriftstelle nicht eindringen konnten und ängstlich auf die gute Meinung der Welt Wert legten, fürchteten sich, der Wahrheit zu trauen, die Christus hier tatsächlich vorstellt. Augustinus, ein unanfechtbarer Zeuge und fast so alt wie die ältesten Handschriften, die den Absatz auslassen, sagt uns, dass einige ihn wegen ethischer Schwierigkeiten aus ihren Abschriften entfernten. Wir wissen bestimmt, dass dogmatische Beweggründe einige Schreiber bei Lukas 22, 42–43 ähnlich beeinflusst haben. Einer der Gesichtspunkte, auf den schon hingewiesen wurde, sollte von einem Gläubigen ganz besonders erwogen werden: Der Bericht harmoniert, wie ich zeigen werde, vollkommen mit dem, was in unserem Kapitel folgt. Ein solcher Zusammenhang besteht hier genauso wie in Kapitel 7, wo die Weigerung des Herrn, auf das Fest hinaufzugehen und sich der Welt zu zeigen, mit den Ausführungen über die Gabe des Heiligen Geistes zusammengestellt ist. Auch in Kapitel 6 folgt folgerichtig auf das Wunder der vermehrten Brote die Predigt über die notwendige Nahrung für den Christen. Mit einem Wort gesagt: Es besteht in all diesen Kapiteln ein unauflösliches Band gemeinsamer Wahrheiten zwischen den berichteten Ereignissen und den Mitteilungen, die unser Herr jeweils hinterher machte.

Daher möchte ich fragen: Welcher göttliche Grundsatz offenbart sich auffallend in der Handlungsweise und Rede unseres Herrn, als die Schriftgelehrten und Pharisäer Ihm mit der beim Ehebruch ertappten Frau entgegentraten? Eine empörende Sünde war begangen worden. Sie jedoch offenbarten weder heiligen Hass gegen das Böse, noch fühlten sie das geringste Mitleid mit der Sünderin. Sie „sagen zu ihm: Lehrer, dieses Weib ist im Ehebruch, auf der Tat selbst, ergriffen  worden. In dem Gesetz aber hat uns Moses geboten, solche zu steinigen; du nun, was sagst du? Dies aber sagten sie, ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, um ihn anzuklagen“ (V. 4–6). Sie hofften, Christus zu umgarnen und Ihm die Wahl zwischen zwei gleich schmählichen Antworten zu lassen – zum einen, eine in seinem Fall inkonsequente Anführung der Gebote Moses, zum anderen, einen offenen Gegensatz zum Gesetz 1. Hätte letzterer Ihn nicht als Gottes Widersacher erwiesen? Würde Er mit Ersterem nicht all seine Glaubwürdigkeit hinsichtlich der verkündeten Gnade verwirkt haben? Sie hatten nämlich genau erkannt, dass Christus in all seinen Wegen und Worten etwas darstellte, das vollständig von dem Gesetz und jenen, die vor Ihm gekommen waren, abwich. Ja, sie rechneten mit seiner Gnade, obwohl sie diese weder mitempfanden noch liebten und in keinster Weise als von Gott kommend würdigten. Doch sie erwarteten so sehr die Gnade in der Handlungsweise unseres Herrn mit einer so schändlichen Sünderin, wie sie vor ihnen stand, dass sie hofften, Ihn auf diese Weise in den Augen der Menschen vernichtend bloßzustellen. Ihr Motiv war Feindschaft gegen Ihn. Für sie gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder stimmte Er Mose zu oder Er hob ihn auf. Beides wäre gleich nachteilig für die Ansprüche Jesu gewesen. Zweifellos erwarteten sie, dass unser Herr sich in seiner Gnade gegen das Gesetz stellen und sich und die Gnade auf diese Weise ins Unrecht setzen würde.

In Wirklichkeit widerspricht die Gnade Gottes niemals seinem Gesetz, sondern hält dessen Autorität an seinem Platz aufrecht. Nichts reinigt, festigt und verteidigt das Gesetz und jeden anderen Grundsatz Gottes so wahrhaftig wie seine Gnade. Selbst das richtige Verhalten im natürlichen Leben wurde nie so klar herausgestellt wie zu der Zeit, als der Herr die Gnade auf der Erde offenbarte. Nimm zum Beispiel seine Worte in Matthäus 19! Wer entfaltete jemals die Gedanken Gottes und seinen Willen hinsichtlich der Ehe wie Christus? Wer warf, bevor Christus kam, Licht auf den Wert kleiner Kinder? Als ein Mann von Ihm wegging – wer konnte ihm so verlangend und mit solcher Liebe nachsehen wie Jesus? Die Gnade ist also keineswegs unvereinbar mit den Verpflichtungen gegen Gott, sondern hält sie in ihrer wahren Bedeutung aufrecht. Das erkennen wir auch in den Gefühlen unseres Herrn bei dieser Gelegenheit, nur dass es hier noch herrlicher hervortritt. Er schwächt nämlich nicht im Geringsten das Gesetz noch seine Strafmaßnahmen ab. Im Gegenteil, Er lässt das göttliche Licht in seinen Worten und Wegen überall umherscheinen. Dabei wendet Er das Gesetz mit überführender Kraft nicht nur auf die ertappte Sünderin an, sondern auch auf die verborgenere Schuld ihrer Ankläger. Nicht eine einzige selbstgerechte Seele blieb in seiner alles erforschenden Gegenwart zurück – tatsächlich keiner von denen, die in dieser Angelegenheit herzu gekommen waren – außer die Frau selbst.

Suche mir aus der ganzen Bibel eine Einführung aus, die so gut zu der Lehre dieses Kapitels passt! Es ist vom Anfang bis zum Ende voll Licht – das Licht Gottes und seines Wortes in der Person Jesu. Sehen wir diese Wahrheit nicht unzweideutig in dem Ereignis am Anfang? Stellt Christus sich nicht gleich danach in seiner Predigt wie fast ständig im Johannesevangelium als das Licht der Welt vor? Er ist in sich selbst Gottes Licht durch sein Wort und steht unendlich über dem Gesetz. Dennoch gibt Er gleichzeitig dem Gesetz seine vollste Autorität. Nur eine göttliche Person konnte auf diese Weise alles an seinen rechten Platz stellen und dort bewahren. Nur eine göttliche Person konnte in vollkommener Gnade handeln und zur gleichen Zeit eine unbefleckte Heiligkeit aufrecht halten, und das umso mehr, als diese Heiligkeit sich in dem befand, der voller Gnade war.

Genauso handelte unser Herr. Als die Anklage gegen äußerlich sichtbares Böses so herzlos vorgetragen wurde, bückte Er sich daher einfach nieder und schrieb mit seinen Fingern auf den Boden. Er gab ihnen Gelegenheit, über die Umstände, über ihre eigenen Personen und über Ihn nachzudenken. Als sie nicht abließen, Ihn zu fragen, richtete Er sich auf und sprach zu ihnen: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie“ (V. 7). Dann bückte Er sich erneut und schrieb auf den Boden. Das erste Bücken erlaubte ihnen, sich die volle Niedertracht ihrer Absicht zu vergegenwärtigen. Ohne Zweifel hofften sie, dass die Schwierigkeit für Ihn unlösbar sei. Sie bekamen folglich Zeit, das, was sie gesagt hatten und beabsichtigten, noch einmal zu erwägen. Als sie Ihn weiterhin fragten, richtete Er sich auf und sprach jene denkwürdigen Worte. Daraufhin bückte Er sich erneut, damit sie diese in ihren Gewissen überdenken konnten. Das Licht Gottes wurde auf ihre Gedanken, Worte und ihr Leben geworfen. Es sind wenige, einfache und eindeutige Worte, wenn Er sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie.“  Die Wirkung erfolgte unmittelbar und vollständig. Sein Wort drang in die Herzen. Warum ergriffen nicht einige der Zeugen die Gelegenheit und erfüllten ihre Pflicht? Wie? Nicht einer? „Als sie aber dies hörten, gingen sie einer nach dem anderen hinaus, anfangend von den Ältesten bis zu den Letzten; und Jesus wurde allein gelassen mit dem Weibe in der Mitte“ (V. 9). Das Gesetz hatte niemals so gewirkt. Sie hatten bisher das Gesetz erlernt und gelehrt und damit gespielt. Sie hatten es freizügig benutzt, wie die Menschen es immer noch tun, um andere Leute zu verurteilen. Jetzt schien jedoch das Licht Gottes voll sowohl auf ihren sündigen Zustand als auch auf das Gesetz. Es war das Licht Gottes, welches alle Rechte am Gesetz fest hielt und doch mit einer solchen geistlichen Kraft strahlte, wie es bisher nie ihre Gewissen erreicht hatte. Das trieb die ungläubigen Herzen weg, welche weder Gott noch seine Wege kennen lernen wollten. Und dieses Ereignis soll Strandgut sein, das ganz zufällig an die zerrissene Küste unseres Evangeliums geschleudert wurde? Nein, liebe Brüder, eure Augen täuschen sich. Es ist ein Strahl göttlichen Lichts durch Christus, welches genau das bestrahlt, was es beleuchten soll.

Augustinus 2 hat nicht so ganz recht, wenn er (In Jo. Evang. Tr., XXXIII, 5) schreibt: „Relicti sunt duo, misera, et misericordia“ 3; denn der Herr wirkt hier als das Licht. Darum sagt Er nicht: „Deine Sünden sind vergeben!“ (Mt 9, 2), sondern: „Weib, wo sind jene, deine Verkläger? Hat niemand dich verurteilt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: So verurteile auch ich dich nicht; gehe hin und sündige nicht mehr“ (V. 10–11).  Das ist nicht Vergebung oder Barmherzigkeit, sondern Licht. „Gehe hin und sündige nicht mehr.“  Wir lesen keineswegs: „Dein Glaube hat dich errettet; gehe hin in Frieden“ (Lk 7, 50). Eine solche Darstellung wäre eine Erfindung des Menschen. Wenn man ihm den Auftrag gegeben hätte, sich ein Ereignis auszudenken, das dieses Kapitel illustrieren sollte – wer hätte jemals ein solches, wie es hier steht, entwerfen können oder wollen? Wo wurde etwas Vergleichbares von Dichtern, Philosophen oder Geschichtsschreibern beschrieben oder erdacht? Zeige es mir doch im Protevangelium, im Evangelium des Nikodemus 4 oder in irgendeiner anderen ähnlich frühen Schrift! Letztere sind tatsächlich echte Machwerke von Menschen. Doch was für ein Unterschied zu dem Abschnitt vor uns! Er ist im wahrsten Sinn original. Das berichtete Geschehen ist von allen anderen Ereignissen unterschieden, die in der Bibel – selbst mit Einschluss des Johannesevangelium – oder sonst wo geschildert werden. Nichtsdestoweniger können wir nachweisen, wie ich denke, dass das Äußere, die Tragweite und der Charakter dieses Abschnitts in das Johannesevangelium passt und nirgendwohin sonst. Dasselbe gilt auch für den Zusammenhang, in dem es bei Johannes steht. Keine Theorie erscheint weniger vernünftig als die, welche besagt, dass sich eine im Umlauf befindliche Überlieferung durch irgendeinen Zufall hier festgesetzt hat oder dass ein Fälscher am Werk war. Ich finde es nicht grob, sondern wohlmeinend, wenn ich so deutlich rede; denn der Strom des Unglaubens wird immer stärker, und Christen können es kaum vermeiden, von diesen Problemen zu hören. Ich möchte deshalb keineswegs diese Gelegenheit versäumen, um schlichten Seelen zu zeigen, wie wahrhaft göttlich der Inhalt dieses Abschnitts ist und wie sehr er zu der Lehre passt, die der Herr im ganzen Kapitel nachdrücklich vorstellt. Unmittelbar danach wird nämlich eine Lehre entfaltet, die zweifellos noch weiter geht. Dennoch steht sie, wie die Lehre keines anderen Kapitels, unmittelbar mit dem einführenden Ereignis in Verbindung.

Nachdem sich die Eindringlinge entfernt hatten, sprach Jesus weiter zum Volk. „Ich bin das Licht der Welt“ (V. 12). Er hatte gerade unter denen als das Licht gewirkt, die sich auf das Gesetz beriefen. Hier geht Er weiter und vergrößert den Wirkungskreis. Er sagt: „Ich bin das Licht der  Welt.“  Es geht nicht nur um Schriftgelehrte und Pharisäer. Er fährt fort: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben.“  Das Leben war das Licht der Menschen (Joh 1, 4). Es war die vollkommene Offenbarung und der Wegweiser des Lebens für seine Jünger. Das galt nicht für das Gesetz. Dieses ist gut, wenn man es gesetzmäßig gebraucht (1. Tim 1, 8) – jedoch nicht für einen gerechten Menschen, der Christus besitzt. So sagt Christus zu den Pharisäern, die nicht akzeptieren wollten, dass Er wisse, woher Er kam und wohin Er ging: Ihr seid in der Finsternis und wisst nichts von diesen Dingen. Sie waren in der ungebrochenen Finsternis der Welt; sie richteten nach dem Fleisch. Nicht so Jesus; Er richtete nicht. Doch wenn Er richtete, dann war sein Gericht wahr, denn Er war nicht allein, sondern der Vater war mit Ihm. Ihr Gesetz verpflichtete sie, sich der Aussage von zwei Zeugen zu fügen. Doch was für Zeugen? Sein Zeugnis war so bestimmt, dass sie nur deshalb ihre Hände nicht an Ihn legten, weil seine Stunde noch nicht gekommen war.

Der Herr spricht überall in diesem Kapitel mit einem ungewöhnlichen Ernst und einer zunehmenden Offenheit zu seinen Feinden, die weder Ihn noch seinen Vater kannten. Sie sollten in ihren Sünden sterben; und wohin Er ging, dahin konnten sie nicht kommen. Sie waren von unten, von dieser Welt; Er war von oben und nicht von dieser Welt.

Tatsächlich sprach der Herr überall in diesem Evangelium, obwohl Er wusste, dass Er verworfen war, als das Licht, welches alles sittlich richtet. Er hatte darum keine Bedenken, die Dinge auf die Spitze zu treiben und ihren wirklichen Charakter und Zustand scharf herauszustellen. So verkündete Er, dass seine Zuhörer von unten und Er selbst von oben war. Er zeigte, dass es keine Übereinstimmung zwischen ihnen und Abraham (stattdessen jedoch mit Satan) und nicht die geringste Gemeinschaft in ihren Gedanken mit seinem Vater gab. Folglich ließ Er sie auch später wissen, dass eine Zeit kommen wird, in der sie erkennen werden, wer Er ist – aber zu spät! Er war als das Licht Gottes von Anfang an verworfen und trotzdem das Licht der Welt. Darüber hinaus war Er nicht nur das Licht Gottes in Taten, sondern auch in seinem Wort. Wie auch an anderen Stellen erklärte Er ihnen, dass sie durch dasselbe am letzten Tag gerichtet würden. Entsprechend antwortete Er auch, als sie Ihn fragten, wer Er sei, in einer Weise, die dies verdeutlichte. Seine Antwort lautete nämlich: „Durchaus das, was ich auch zu euch rede“ (V. 25). „Ich bin ganz und gar das, was Ich rede.“ Er war nicht nur das Licht ohne jegliche Finsternis – wie Gott, so auch Er –, sondern auch dem Grundsatz seines Wesens nach das, was Er aussprach; und tatsächlich gilt dies nur von Ihm. Von einem Christen wird gesagt, er sei Licht in dem Herrn (Eph 5, 8). Doch von niemand außer Jesus konnte gesagt werden, dass das Wort, welches Er sprach, ein Ausdruck dessen war, was Er war. Jesus ist die Wahrheit. Ach, wir wissen, dass die menschliche Natur und die Welt so trügerisch sind, dass uns nichts als die Kraft des Heiligen Geistes, der uns durch das Wort Christus offenbart, sogar als Gläubige vor einem Abweichen in Irrtum, Versagen und jeder Art des Bösen bewahren kann. Niemand als nur einer konnte sagen: „Ich bin, was ich rede.“ Genau dies enthüllte Christus auf diesem irdischen Schauplatz. Er war das Licht, um die Täter der Finsternis – auch die im Verborgenen Handelnden – zu überführen. Er war das Licht, welches andere – egal, was sie in der Welt gewesen sein mochten – ebenfalls zu Licht machte, wenn sie Ihm – Gott, geoffenbart im Fleisch – folgten. Er offenbarte sowohl Gott als auch den Menschen. Alles wurde durch das Licht offenbar gemacht. Wer ist Er? „Durchaus das (tÑn ‡rcÑn), was ich ... rede.“  In seiner Rede äußerte Er ausschließlich das, was Er war. Bei Ihm gab es nicht das geringste Abweichen von der Wahrheit. Jedes Wort und jede seiner Handlungsweisen verkündigte sie. Nie gab es irgendeinen trügerischen Anschein. Er war immer und in jeder Einzelheit das, was Er sagte.

Wie gut diese Wahrheiten mit dem, was wir anderswo lesen, übereinstimmen, braucht nicht betont zu werden. Wenn wir die Betrachtung fortsetzen, sehen wir dieselbe Lehre, nur dass sie sich weiter ausdehnt. Die Offenbarung wird ständig klarer und stellt sich immer mehr einem zunehmend entschlosseneren Unglauben entgegen. Der Herr gibt ihnen zu verstehen, dass sie dann, wenn sie den Sohn des Menschen erhöht haben, wissen werden, „dass ich es bin [Die Wahrheit würde dann völlig herausgestellt sein.], und dass ich nichts von mir selbst tue, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich“ (V. 28). Es geht hier nicht um Wunder, sondern um die Wahrheit. Er ist nicht nur in seiner Person die Wahrheit, sondern Er spricht sie auch aus; und Er redet sie sogar zur Welt. Obwohl das ewige Leben bei dem Vater (das Wort, welches im Anfang bei Gott war) ist Er dennoch durch das ganze Johannesevangelium hindurch (von Kap. 1, 14 an) ein Mensch auf der Erde. Er war hienieden ein wirklicher, wahrer Mensch und trotzdem wahrhaftig Gott. So sehen wir Ihn auch in unserem Kapitel. Zu Beginn zeigte Er dies in seinem  Handeln, später in seinem  Wort. Er redete zu der Welt, was Er von dem gehört hatte, dessen Bote Er war. Dabei erkannten sie richtig, dass Er vom Vater sprach.

Dieselbe Linie verfolgte Er weiter, als Er sich mit den Juden beschäftigte, die an Ihn glaubten. „Wenn ihr in meinem Worte bleibet, so seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Sie antworteten ihm: Wir sind Abrahams Same und sind nie jemandes Knechte gewesen; wie sagst du: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht für immer in dem Hause; der Sohn bleibt für immer. Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein“ (V. 31–36). So ist sein Wort und nicht das Gesetz das einzige Mittel, um die Wahrheit und ihre Freiheit zu erkennen. Es ging nicht einfach um Gebote oder um Forderungen Gottes an den Menschen. Diese waren schon gegeben und erprobt worden; und mit welchem Erfolg für sie und Ihn? Jetzt stand viel mehr auf dem Spiel, nämlich die Offenbarung Gottes in Christus an die Welt, und zwar in seinem Wort, in der Wahrheit. Es wurde deshalb zum Test für die Wahrheit. Falls sie in seinem Wort blieben, würden sie tatsächlich seine Jünger sein und die Wahrheit erkennen; und die Wahrheit würde sie frei machen.

Es ist indessen noch mehr erforderlich, um frei zu werden, oder anders ausgedrückt, welches à fortiori 5 befreit. Die einzige Grundlage dafür ist natürlich die Wahrheit, wie man sie im Wort Jesu lernt. Wenn ich allerdings dieselbe angenommen habe, besitze ich nicht nur die Wahrheit sozusagen als Ausdruck seiner Gedanken, sondern auch als Ausdruck seiner selbst, seiner Person. Darum berührt Er diesen Punkt in Vers 36: „Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein.“  Demnach macht eigentlich nicht die Wahrheit frei, sondern der Sohn. Wer ihre Annahme vortäuscht, ohne sich vor der Herrlichkeit des Sohnes zu beugen, beweist, dass keine Wahrheit in ihm ist. Wer diese annimmt, mag zunächst sehr unwissend sein. Dann ist sie nicht viel mehr als ein Führer, welcher gnädig in das Licht Gottes leitet, wenn auch nur in ganz eingeschränkter Weise. Es geschieht selten, dass die volle Herrlichkeit Christi auf einmal über der Seele aufleuchtet. Wie bei den Jüngern so ist es auch heute noch bei jeder Seele. Das Verständnis ist echt, aber es wächst langsam. Nichtsdestoweniger wirkt die Wahrheit, wenn Gott der Lehrer ist. Dann nimmt das Licht zu und die Herrlichkeit Christi strahlt deutlicher. Die Seele heißt Ihn willkommen und freut sich umso mehr über seine Verherrlichung. Wo es sich allerdings nicht um die Wahrheit handelt, sondern um Theorien oder Überlieferungen, um Vernünftelei oder Gefühlsduselei in Bezug auf Christus, ärgert sich das Herz über die volle Enthüllung seiner Herrlichkeit. Es strauchelt darüber und wendet sich von Christus ab, weil es die Stärke und den Glanz jener göttlichen Fülle, die in Ihm ist, nicht ertragen kann. Es kennt weder Gott, noch Jesus Christus, den Er gesandt hat. Das ewige Leben ist unbekannt und kein Gegenstand der Freude.

Danach stellt der Herr einen weiteren beachtenswerten Punkt vor, insbesondere da dieser Grundsatz von dem einleitenden Ereignis an das ganze Kapitel durchzieht. Es geht hier nicht nur um Licht, Wahrheit und den Sohn, wie sie in der Person Christi erkannt werden, sondern auch um ihren Gegensatz zum Gesetz. Rühmten die Juden sich des Gesetzes? Welche Stellung nahmen sie unter demselben ein? Sie waren Sklaven (vgl. Fußnote); und sie wollten es nicht wahrhaben. Sie brachen das Gesetz. Dadurch wurden sie zu Sklaven der Sünde. Nicht der Sklave, sondern der Sohn bleibt im Haus. So wird das Gesetz nicht irgendwie abgeschwächt. Stattdessen tritt der auffallende Gegensatz zwischen ihm und Christus vor die Blicke. Das Gesetz hat seinen angemessenen Platz. Es ist für Sklaven da und behandelt sie gerecht. Demnach gibt es für sie keine Beständigkeit und noch weniger Freiheit. Das Gesetz konnte ihrem Problem nicht begegnen. Das konnte allein und niemand Geringeres als der Sohn. „Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht.“  War das nicht genau die Wahrheit, welche Er am Anfang des Kapitels den Gewissen nahegebracht hatte? Vor Gott – und Er war Gott – ging es nicht ausschließlich um das, was die arme Frau getan hatte. Auch der Zustand ihrer Ankläger war gefragt. Dabei wurden sie von ihrer Sünde überführt. Sie waren nicht ohne Sünde. Er hatte gesagt: „Der Knecht aber bleibt nicht für immer in dem Hause.“  Genau das war bei ihnen der Fall; sie wurden genötigt wegzugehen.  Doch „der Sohn bleibt für immer“, und zwar gemäß den besten, höchsten und wahrsten Anrechten. So stimmt die Lehre völlig mit dem Geschehnis überein, und zwar auf eine Weise, die man auf den ersten Blick nicht sieht. Wir erkennen die Übereinstimmung erst, wenn wir uns eingehender mit den Versen beschäftigen und versuchen, die Tiefen des lebendigen Wortes Gottes zu erforschen. Dabei dürfen wir uns aber nicht des Fortschritts, den wir gemacht haben, rühmen. Trotzdem können wir sagen: Je eingehender Gott uns die Wahrheit erfassen lässt, desto mehr wird die göttliche Vollkommenheit des ganzen Bildes vor unseren Seelen offenbar.

Ich brauche die Einzelheiten nicht durchzugehen, welche der Herr herausstellte, indem Er den Zustand der Juden, des Samens – nicht der Kinder – Abrahams aufdeckte. In Wirklichkeit waren sie aus ihrem Vater, dem Teufel, und offenbarten ihn in den beiden Charakterzügen eines Lügners und Mörders. Sie verstanden des Herrn Sprache nicht, weil sie sein Wort nicht hören konnten. Die Wahrheit in ihrer Bedeutung liefert den Schlüssel zum Verständnis ihres äußeren Trägers, den Worten. Das ist bei der menschlichen Erkenntnis genau umgekehrt. Schließlich wird hier alles in seinem wahren, wesensmäßigen Charakter gezeigt – die überführte Sünderin und ihre Ankläger, die Juden, die Welt, die Jünger, die Wahrheit, der Sohn, sogar Satan und Gott. Nicht nur wird Abraham 6 in seinem wahren Charakter gesehen und keineswegs in der Entstellung durch seinen Samen, sondern auch eine Person, die größer war als „unser Vater“  Abraham, welche sprach: „Wenn ich mich selbst ehre, so ist meine Ehre nichts“ (V. 54). Doch Er konnte auch mit einem „Wahrlich, wahrlich“ sagen: „EHE ABRAHAM WARD, BIN ICH“ (V. 58). Er ist in Tat und Wort das Licht.  Er sagte es. In dieser Weise handelte Er mit ihnen, indem Er sie mehr und mehr überführte. Er zeigte, dass die Wahrheit auf der Erde nur in seinem Wort gefunden wird. Er, der Zeuge, bezeugte, dass Er der Sohn ist. Das Kapitel endet jedoch nicht, ohne dass Er seine ewige Gottheit bekannt gemacht hatte. Er ist Gott; und doch verbarg Er sich, als sie Steine aufhoben, um Ihn zu steinigen. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Das ist also die Wahrheit über sie und über Ihn. Er war Gott. Das ist die Wahrheit. Ohne diese besitzen wir nicht die Wahrheit Christi. Die zunehmende Verwerfung des Wortes Christi, führte Ihn indessen Schritt für Schritt zu der Erklärung, dass Er sogar als Mensch auf der Erde der ewige Gott war.

Fußnoten

  • 1 Ein Kritiker, der diesem Abschnitt unfreundlich gegenübersteht, bemerkt, dass diese Frage zu den letzten Tagen des Dienstes unseres Herrn gehört und chronologisch nicht hier eingeführt werden darf. Unabsichtlich liefert er aber in Wirklichkeit eine starke Bestätigung (für unsere Ansicht); denn Johannes beginnt, sittlich gesehen, in seinem Evangelium mit der Verwerfung Jesu und bringt daher schon am Anfang, z. B. in der Reinigung des Tempels, Wahrheiten, welche die übrigen Evangelisten erst am Ende zeigen (W. K.). Anm. d. Übers.: Das Argument des Kritikers geht davon aus, dass die anderen Evangelisten solche versuchenden Fragen an den Herrn Jesus erst von Seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem berichten. Vgl. Mt 21 u. 22; Mk 11 u. 12; Lk 20.
  • 2 Aurelius Augustinus (354–430), Bischof von Hippo Regius in Nordafrika, bedeutender Kirchenlehrer. (Übs.)
  • 3 „Zwei bleiben zurück: das Elend und das Mitleid (Barmherzigkeit).“ (Übs.)
  • 4 Protevangelium (Jacobi (?)), Nikodemusevangelium: unechte christliche Schriften, die zu den Pseudepigraphen bzw. Apokryphen gehören. (Übs.)
  • 5 à fortiori (lat.) = aus gewichtigeren Gründen. (Übs.)
  • 6 Ich nehme an, dass der Herr mit dem Ausdruck „meinen Tag“ den Tag der Herrlichkeit Christi meint und nicht unbestimmt die Zeit Christi. Es ist der Tag, an dem Er in Herrlichkeit geoffenbart wird. „Abraham, euer Vater, frohlockte, dass er meinen Tag sehen sollte“ (V. 56). Er erwartete den Tag, an dem Christus in Herrlichkeit erscheinen wird, und „er sah ihn und freute sich.“ An jenem Tag werden die Verheißungen erfüllt; und ganz natürlich wartete jener Mann, dem die Verheißungen gegeben worden waren, auf die Zeit ihrer Erfüllung in Christus. (W. K.)
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