Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 15

Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

In Kapitel 15 tritt unser Herr an die Stelle Israels als Pflanzung Gottes, die für Gott Frucht tragen sollte (und nicht an die des Menschen, der offen sündig und verloren ist). Er nimmt den Platz all dessen ein, was sich insbesondere als von Gott anerkannt in den Vordergrund drängte. Wie der Herr in Kapitel 4,22 gesagt hatte, ist „das Heil ... aus den Juden.“  Diese Stellung des Vorrechts und der Verheißung machte sie tatsächlich umso schuldiger. Darum löst unser Herr öffentlich und für immer alle Verbindungen mit Israel für diejenigen auf, die Er jetzt aus der Welt herausruft. „Ich bin der wahre Weinstock“ (V. 1), sagt Er. Wir wissen alle, dass Israel von alters her der „Weinstock“  genannt wird, den der Herr aus Ägypten gezogen hatte (Ps 80, 8). Doch Israel war leer, fruchtlos und trügerisch; Christus ist der einzige wahre Weinstock. Was immer die Verantwortlichkeit Israels, was immer ihre gerühmten Vorrechte (und es gab wirklich in jeder Hinsicht viele) und was immer die Beziehungen und Hoffnungen des auserwählten Volkes sein mochten – alles außerhalb Christi ist unter die Macht des Feindes geraten. Die einzige Segnung für eine Seele wird jetzt in Christus gefunden; und so eröffnet Er seine Ausführungen (oder beschließt, wie wir schon im vorigen Vortrag sahen, das Vorherige) mit den Worten: „Stehet auf, lasset uns von hinnen gehen.“  Nicht nur Er, sondern auch sie mussten jede Verbindung mit der Natur, der Welt und sogar ihrer Religion verlassen. Es gab jetzt nur noch Christus und sonst nichts. Am Anfang von Kapitel 13 war Er schon aufgestanden und als das Sinnbild seines Werkes für sie im Himmel. Hier rief Er sie auf, sich mit Ihm zusammen von allen irdischen Verbindungen zu trennen. Davon waren sie jetzt ein für alle Mal befreit. Deshalb sehen wir, wie der Herr den Platz jenes Systems einnahm, das früher religiöse Macht über ihre Seelen ausgeübt hatte. Es stand nun fest, dass Letzteres auf der Erde weder Segnungen noch Sicherheit für die Seele geben konnte.

„Ich“, sagte Er, „bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner“ (V. 1). Ab jetzt nahm Er den Platz all dessen ein, mit dem die Jünger auf der Erde verbunden waren und dem sie angehört hatten; und der „Vater“ trat an die Stelle Gottes des Allmächtigen bzw. des Jahwes Israels. Als solcher hatte Er sich den Erzvätern und den Kindern Israel bekannt gemacht. Nun wurde Er zum Vater, dessen Sorge der Herr die Jünger anempfahl (Joh 17). „Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt ...“  Gott erwartete Frucht und nicht Taten oder Verpflichtungen. „Jede Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, die nimmt er weg; und jede, die Frucht bringt, die reinigt er, auf dass sie mehr Frucht bringe“ (V. 2). Das ist die allgemeine Darstellung. Mit jenen, welche die Stellung von Reben des wahren Weinstocks einnehmen, wird auf zweierlei Weise verfahren. Wo überhaupt keine Frucht gefunden wird, folgt das Gericht des Herausschneidens. Wenn Frucht erscheint, wird die Rebe gereinigt, damit sie noch mehr Frucht bringen kann.

Der Herr wendet diese Wahrheit insbesondere auf die Jünger an: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe“ (V. 3). Danach folgen in den Versen 4 und 5 Ermahnungen. Die ausdrücklichen Folgen für einen Menschen, für „jemand“, der nicht in Ihm bleibt, sehen wir in Vers 6, und für die Jünger, die in Ihm bleiben, in den Versen 7 und 8.

In diesem Kapitel geht es nicht einfach um die göttliche Gnade, die Sünder errettet, Ungerechtigkeiten auslöscht und der Sünden und Übertretungen nicht mehr gedenkt. Stattdessen wird die Kraft des Wortes sittlich angewandt, um alles zu richten, was dem Charakter Gottes, wie Er sich in Christus gezeigt hat (bzw. dem Willen des Vaters, geoffenbart in Ihm) widerspricht. Kein geringerer Maßstab konnte, nachdem Christus bekannt gemacht worden war, Geltung haben. Sie alle, denn Judas hatte sich entfernt, waren schon rein durch das Wort, welches Christus zu ihnen geredet hatte. Das Gesetz Moses, so göttlich es war, konnte nicht genügen. Es war unfruchtbar, das Wort Christi hingegen fruchtbringend. „Bleibet in mir, und ich in euch. Gleichwie die Rebe nicht von sich selbst Frucht bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock, also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir“ (V. 4). Hier geht es nicht darum, was Gott in Gnade für die Menschen außerhalb des Herrn, für die Verlorenen, ist, sondern um eine Beurteilung der Wege solcher, die mit Christus in Verbindung stehen. Gott oder genau genommen der Vater beschäftigt sich mit jenen, die bekennen, dem Herrn anzugehören. Ich sage „bekennen“, denn für mich ist klar, dass Er in diesem Bild nicht ausschließlich solche im Blickfeld hat, die wirklich ewiges Leben haben. Noch weniger bedeutet „Rebe am Weinstock“ dasselbe wie „Glied am Leib Christi“. Er spricht einfach von Jüngern, die Ihn sogar vollständig verlassen können, so wie in seinen ersten Tagen einige nicht mehr mit Ihm gingen (Joh 6, 66). Allein diese Sichtweise erklärt unser Kapitel, ohne ihm Gewalt anzutun.

Der Gesichtskreis des Herrn umfasste also nicht nur jene, die Ihn damals umgaben und schon Reben am Weinstock waren, sondern grundsätzlich auch alle, die später folgen würden. Darin sind natürlich solche eingeschlossen, die nur dem Namen nach Israel und alles Übrige um seinetwillen verlassen hatten, obwohl der erste Augenschein Besseres verhieß. Das Aufgeben aller Dinge um seinetwillen war gewiss nicht einfach und hatte ernste Konsequenzen, insbesondere wenn ein Mensch auf diese Weise alles verließ, was seine Zuneigungen und sein Gewissen erfüllte, nämlich seine Religion. Kurz gesagt: Wenn ein Mensch um jeden Preis alles aufgibt und zudem seine größten Feinde unter seinen Hausgenossen findet, dann darf man in seiner Handlung wohl Aufrichtigkeit voraussetzen. Doch diese muss noch erwiesen werden. Der Beweis liegt im Bleiben in Christus. Kein Ausdruck ist für Johannes kennzeichnender als gerade das Wort „bleiben“, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Gnade als auch auf die Regierungswege Gottes. Hier werden die Jünger auf die Probe gestellt. Denn das Christentum ist nicht die Offenbarung eines Dogmas, sondern einer Person, welche die Erlösung bewirkt hat – und zweifellos auch einer Person, in der Leben ist und die es anderen mitteilt. Daraus entsteht eine neue Art der Verantwortlichkeit. Und es ist sehr wichtig, dass wir diese Verantwortlichkeit am auffallendsten bei dem Evangelisten dargestellt finden, der von allen am meisten die unumschränkte, bedingungslose Liebe Gottes vorstellt. Nimm zum Beispiel den Anfangsteil des Evangeliums, wo die Gabe Jesu in göttlicher Liebe und seine Aussendung in die Welt – nicht um zu richten, sondern um zu erretten – verkündet, was Gott für eine verlorene Welt ist! Da finden wir reine Gnade; in Bezug auf den Menschen wird ausschließlich an die Tiefe seiner Not gedacht. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf dass er die Welt richte, sondern auf dass die Welt durch ihn errettet werde“ (Joh 3, 16–17). In unserem Abschnitt erkennen wir jedoch eine andere Grundlage. Wir sehen jene, die zu Christus hinausgegangen sind aus all den Umständen, die sie vorher auf der Erde wertgeschätzt hatten. Ach, das Fleisch vermag den Glauben nachzuahmen! Es kann eine lange Zeit in Religiosität und Verzicht auf die profane Welt vorangehen. Kurze Zeit später verließen viele Menschen Israel und wurden auf Christus getauft. Trotzdem mussten sie völlig erprobt werden. Nicht die Taufe oder irgendeine andere Verordnung vermittelt Festigkeit, sondern allein das Bleiben in Christus.

„Bleibet in mir, und ich in euch.“  Der Herr stellt hier den Anteil des Menschen an die erste Stelle, weil, wie wir gesehen haben, von Verantwortung gesprochen wird. Geht es um die Gnade Gottes, wird zuerst sein Wirken benötigt, welches notwendigerweise beständig sein muss. Wenn jedoch die Verantwortlichkeit des Menschen vor uns steht, kann es offensichtlich keine Dauerhaftigkeit geben. Alles beruht auf der Abhängigkeit von Ihm, der immer derselbe bleibt – gestern, heute und in Ewigkeit. So erweist sich also die Echtheit eines Werkes Gottes in der Seele sozusagen in dem beharrlichen Blick auf Christus und dem Anhangen an Ihm. Vers 4 sagt nämlich nicht: „Ich bleibe denn in euch“, sondern: „Ihr bleibet denn in mir.“

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun“ (V. 5). Der Herr spricht nicht von „glauben“, sondern von „tun“, obwohl natürlich der Glaube die Quelle ist. Der Herr möchte, dass wir viel Frucht bringen; und der einzige Weg, auf dem wir Frucht bringen können, besteht in dem Bleiben in Ihm, an den wir glauben. Welcher Beweggrund könnte wichtiger für uns sein, nachdem wir Christus angenommen haben? Folgst du irgendetwas oder irgendjemand anderem, um Frucht zu bringen? Nach Gottes Ansicht trägst du dann schlechte Frucht.

Auf diese Weise ist Christus für die Seele, die an Ihn glaubt, nicht nur ewiges Leben. Er ist auch die einzige Wurzel des Fruchttragens während des ganzen Lebenslaufs für diejenigen, welche Ihn angenommen haben. Das Geheimnis besteht darin, dass das Herz mit Ihm beschäftigt ist, die Seele von Ihm abhängt und Er in allen Versuchungen, Schwierigkeiten und sogar Pflichten der Mittelpunkt des Herzens bleibt. Dann wird sogar eine Pflicht nicht einfach als Pflicht verrichtet; denn das Auge des Glaubens ist auf Christus gerichtet. Doch wo das Leben nicht im Selbstgericht ausgelebt wird, indem es sich an Christus erfreut, verbunden mit Gebet, werden die Menschen dieser Dinge müde. Sie wenden sich von Christus ab und den Wundermitteln des Tages zu, seien sie alt oder neu, sittlicher oder intellektueller Art. Religiöse Gefühle, Erfahrungen, Zeremonien und Visionen ziehen sie an. Sie denken sich ein neues, gutes Ich aus oder zergliedern das alte, schlechte Ich und verlieren sich in Priesterwesen, Riten und Gesetzlichkeit der einen oder anderen Art. So kehren sie wirklich in einer gewissen Form oder bis zu einem bestimmten Grad zum falschen „Weinstock“ zurück, anstatt an dem wahren festzuhalten. Auf diese Weise verlieren sie sich selbst. Sie mögen sogar zurück in die Welt abgleiten und zum offenen Feind des Vaters werden. Das ist nicht ungewöhnlich, nachdem sie eine Zeit lang den alten fleischlichen Weinstock – die Religion der Anordnungen, der menschlichen Werke und angemaßter Vorrechte – aufgegeben hatten. All dieses wurde in seiner Fülle und offensichtlichen Vollendung in Israel gefunden. Aber jetzt wurden die hoffnungslose Hohlheit jener Religiosität und ihr Gegensatz zum Herzen Gottes aufgedeckt. Dieser Zustand offenbarte sich, wie wir später in diesem Kapitel sehen, in dem grundlosen Hass gegen den Vater und den Sohn. Christus ist immer der Test; und das zeigt das Ende des Kapitels. Dagegen stellt uns sein Anfang den Herrn als die einzige Kraft vor, um Frucht vorzubereiten und hervorzubringen.

Davon lesen wir dann wieder im sechsten Vers, und zwar in beachtenswerten Worten: „Wenn jemand nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen wie die Rebe.“  Wende diesen Satz auf das ewige Leben oder, noch aussagekräftiger, auf die Einheit mit Christus an, und es bleibt nichts als endlose Verwirrung zurück! Wo die Schrift von Einheit mit Christus oder auch vom Leben in Ihm spricht, finden wir niemals den Gedanken, als könnte ein Glied Christi abgeschnitten werden oder jemand, der das ewige Leben besitzt, dieses wieder verlieren. Es ist wohl möglich, dass einige, die gut Bescheid wissen, alles wieder aufgeben oder sich erneut in die Dinge der Welt stürzen. Davon spricht Petrus in seinem zweiten Brief. In der Erkenntnis, auch wenn sie noch so groß ist, liegt keine bewahrende Kraft. Sie kann dazu führen, dass Steine des Anstoßes, Enttäuschungen usw. Menschen in der Nachfolge Christi aufhalten, so dass diese praktisch aufgeben, was sie einmal gewusst haben. Das Endergebnis ist dann ein sicherer und verhängnisvoller geistlicher Schiffbruch. Sie sind dann verwerflicher als vorher. Judas spricht von Menschen, die zweimal erstorben sind (V. 12). Tatsächlich beweist die Erfahrung, dass Menschen, die kein Leben in Christus besaßen, nachdem sie eine Weile das Christentum bekannt hatten, grimmigere Feinde – wenn nicht sogar größere Sünder gegen den Herrn – wurden als vor ihrem Bekenntnis.

Diesen Fall beschreibt der Herr jetzt. „Wenn jemand nicht in mir bleibt, so wird er hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen.“  Er spricht von einem Menschen, der aus der Welt herausgegangen und Christus nachgefolgt ist. Doch sein  Herz wurde nicht angezogen; er hatte keine Kraft des Glaubens und folglich auch keine Abhängigkeit von Christus. Hier hören wir das Urteil des Herrn über alle solche Personen, zu welcher Zeit sie auch leben mögen.

Auf der anderen Seite sagt Er: „Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen“ (V. 7). Das Herz ist jetzt nicht nur mit Christus beschäftigt, sondern erwägt auch seine Worte. Das Alte Testament genügt nicht. Gott benutzte es, als mehr noch nicht vorhanden war. Es bleibt natürlich zu aller Zeit von Gott gesegnet; und jeder, der die Worte Christi wertschätzt, wird niemals jene, die vor seinem Kommen von Ihm gezeugt haben, gering achten. Die Seele jedoch, welche die Worte Christi auf die leichte Schulter nimmt oder meint, ohne sie auszukommen, nachdem sie mitgeteilt worden sind, trägt ihre eigene Treulosigkeit zur Schau. Ein Christ, der wirklich das Wort Gottes im Alten Testament achtet, wird sein Herz noch viel mehr auf dasselbe im Neuen Testament richten. Wer nicht mehr als eine natürliche ehrerbietige Einstellung zum Gesetz und zu den Propheten aufbringt, ohne ihnen zu glauben, wird seinen wahren Zustand durch seine Nachlässigkeit gegen die Worte Christi aufzeigen. So sind bis auf diesen Tag gerade die Juden das große Zeugnis von der Wahrheit der Warnung des Herrn. Sie klammern sich an den fruchtleeren Weinstock; und genauso ist ihr ganzes religiöses Bekenntnis inhaltslos für Gott. Sie scheinen den Worten Moses anzuhangen, jedoch mit rein menschlicher Hartnäckigkeit und nicht im göttlichen Glauben, denn sonst würden sie die Worte Christi ganz besonders willkommen heißen. Wie der Herr ihnen bei einer früheren Gelegenheit gesagt hatte: Wenn sie Moses glauben würden, dann würden sie auch Ihm glauben (Joh 5, 46); denn jener hat von Ihm geschrieben. In Wirklichkeit konnten beide Zeugnisse sie nicht gottgemäß überzeugen. Also besteht nun die große Probe darin, ob die Worte Christi in uns bleiben. Die alte Wahrheit, auch wenn sie genauso von Gott ist wie die neue, hört auf, ein Test zu sein, wenn eine neue Wahrheit mitgeteilt und verworfen oder missachtet wird. Dieser Grundsatz gilt nicht nur für Gottes Wort als Ganzes, sondern auch für jede besondere Wahrheit, die Gott wegen einer augenblicklichen Notlage der Kirche oder seines Werkes zu einer bestimmten Zeit wiedererweckt. Es ist zum Beispiel nutzlos, sich heute auf die Grundsätze zurückzuziehen, die vor zwei- oder dreihundert Jahren vorgebracht wurden und nach denen man damals handelte. Natürlich ist es richtig und gottgewollt, alles festzuhalten, was Er irgendwann mitgeteilt hat. Wo jedoch wirklicher Glaube vorhanden ist, werden wir bald herausfinden, dass stets das augenblickliche Bedürfnis in Hinsicht auf die Herrlichkeit des Herrn in der Kirche (Versammlung) vor dem Heiligen Geist steht. Dann werden jene, die wirklich auf seine Kraft vertrauen, nicht nur das Alte festhalten, sondern auch das Neue annehmen. Dadurch werden sie umso mehr in Gemeinschaft mit dem wandeln, der immer über den Namen des Herrn wacht und für ihn und die Segnung seiner Heiligen wirkt.

In dem Fall vor uns geht es jedoch um den ausgedehnteren Gesichtspunkt: Die überaus große Bedeutung davon, dass Christi Worte in uns bleiben. „Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben.“  Zuerst geht es um seine Person und danach um den Ausdruck seiner Gesinnung. Darauf folgt das Gebet. „Ihr (werdet) bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen.“  Nicht das Gebet steht an erster Stelle (weil es nicht den Platz Christi oder des Verständnisses über seine Denkweise einnehmen darf), sondern Christus selbst; Er ist der Hauptgegenstand. Sodann folgen seine Worte, welche das Herz nach seinen Gedanken und seinem Willen bilden. Zuletzt finden wir die Hinwendung des Herzens an den Vater auf der Grundlage Christi und seiner geoffenbarten Gesinnung mit der begleitenden Gewissheit, „und es wird euch geschehen.“

Das Gebet der Christen ist häufig weit davon entfernt. Wie viele Gebete gibt es, und nichts scheint zu geschehen! Das gilt nicht nur für einfache schwache Seelen, so wie wir alle hier es sind. Denn auch ein Apostel musste es auf seinem Lauf erleben; und Gott bezeugte es. Ja, der Apostel Paulus selbst musste von dem Umstand berichten, dass seine Gebete nicht immer in dieser Gemeinschaft mit Gott waren. Wir wissen, dass er Gott dreimal anflehte, Er möge ihm das wegnehmen, was eine ungeheuer harte Prüfung für ihn war und ihn in den Augen der weniger geistlichen Christen verächtlich machte. Wir können das verstehen; nichts ist natürlicher. Aber gerade aus diesem Grund geschah das Gebet keineswegs in der Kraft des Geistes Gottes mit Christus als dem Hauptgegenstand. Er dachte an sich selbst, an seine Brüder und an das Werk. Doch Gott führte ihn gnädiglich zu Christus als dem einzigen Gegenstand, der fest steht und stützen kann. Wenn Paulus in Ihm blieb, wie hier gesagt wird, und Christi Worte in ihm blieben, standen ihm alle Hilfsquellen Gottes zur Verfügung. „Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht. Daher will ich am allerliebsten mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf dass die Kraft des Christus über mir wohne“ (2. Kor 12, 9; vgl. auch Phil 4, 6–13). In unserer Stelle geht es letztlich um die Gewissheit, dass das, was wir erbitten, geschieht.

Unser Vers soll zeigen, wie Gott der Vater in Einklang mit jenen, die auf diese Weise in ihren Herzen praktisch mit Christus in Verbindung stehen, antwortet und handelt. Darum folgt: „Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden“ (V. 8). Beachten wir, dass hier „Jünger“  steht; denn wir müssen sorgsam im Auge behalten, dass wir jetzt nicht die Kirche als solche sehen. Tatsächlich finden wir streng genommen im Johannesevangelium nirgendwo die Kirche. Der Grund dafür ist offensichtlich. Das Thema dieses Evangeliums ist nicht Christus im Himmel, sondern die Offenbarung Gottes in Christus auf der Erde. Damit will ich nicht sagen, dass die Himmelfahrt und sein Weilen dort nicht angedeutet wird, denn wir haben schon gesehen, dass es solche Anspielungen gibt, insbesondere im Zusammenhang damit, dass der Heilige Geist den Herrn auf der Erde ersetzt. Im weiteren Verlauf der Betrachtung werden wir noch wiederholt darauf stoßen. Dennoch bezeugt Johannes nicht so sehr Christus als Menschen im Himmel, sondern Gott, der sich in Ihm auf der Erde offenbart. Da Er der Sohn ist, besteht demzufolge im Johannesevangelium die besondere Stellung unseres Vorrechts darin, Kinder Gottes zu sein – nicht Glieder des Leibes Christi, sondern Söhne Gottes, indem wir den Sohn empfangen haben und mit Ihm, dem eingeborenen Sohn des Vaters, verbunden sind.

Der Herr spricht von ihnen als Jünger, denn die Beziehung von Johannes 15 war bei ihnen schon geknüpft. Sie waren schon zu Ihm gekommen. Sie hatten alles verlassen, um Ihm nachzufolgen und hielten sich bei Ihm auf. Er war hier und jetzt der Weinstock und nahm keine neue Stellung ein. Auch waren sie damals schon Reben und, darüber hinaus, rein durch das Wort, welches Er zu ihnen geredet hatte. Nicht dass sie zu jener Zeit durch Blut gereinigt waren, doch auf jeden Fall waren sie durch Wasser und Geist wiedergeboren. Die Reinigung des Heiligen Geistes, diese sittliche Handlung, war in ihren Seelen vollzogen worden. Sie waren gebadet, d. h. überall gewaschen, und benötigten hinfort keine Waschung mehr ausgenommen die ihrer Füße.

„Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe“ (V. 9). Hier gründet sich alles auf die Regierung des Vaters und die Verantwortlichkeit eines Jüngers. Es geht nicht um ein Volk, welches als Nation mit einem Herrscher, wie Jahwe es für Israel war, in Verbindung steht. Christi Jünger nehmen eine Beziehung zum Vater ein entsprechend der Offenbarung seiner selbst in Christus. Es handelt sich jetzt auch nicht um seine Gnade, welche Sünder errettet, sondern um das, was unbedingt mit dieser Errettung verbunden ist, nämlich die Pflege einer persönlichen Verantwortlichkeit entsprechend der Offenbarung der Natur und der Beziehung Gottes in Christus auf der Erde. Im Vergleich zur Vergangenheit hat sich der Maßstab gewaltig vergrößert, denn nachdem Gott Christus vorgestellt hatte, konnte und wollte Er nicht auf ein geringeres Maß zurückkommen. Es geht auch nicht darum, dass Er nichts als Mittel der Errettung anerkennen konnte als nur Christus, denn diese Voraussetzung galt zu allen Zeiten. Niemals wurde jemand, seitdem die Welt existiert, zu Gott gebracht außer durch Christus, wie dürftig auch das Zeugnis und wie lückenhaft auch die Kenntnis über Ihn sein mochte. Unter dem Gesetz war von seinem besonderen Werk (am Kreuz) vergleichsweise wenig oder gar nichts bekannt; und wahrscheinlich konnte es auch nicht erkannt werden – selbst nachdem Er in die Welt gekommen war – bevor Er das Werk vollbracht hatte. Jedenfalls spricht alles dafür. Hier sehen wir jedoch die Wege und den Charakter Gottes, wie sie sich in Christus offenbart haben. Kein geringerer Maßstab passt für seine Jünger bzw. könnte dem Vater genügen. Wie schon bemerkt, ruft eine Anwendung dieser Stelle auf das ewige Leben nur Verwirrung hervor. Wenn wir voraussetzen, dass der Gegenstand unseres Kapitels das Leben und unsere Einheit mit Christus ist, dann sieh dir an, in welche Schwierigkeiten uns dieser falsche Denkansatz sofort stürzt! Alles würde von Bedingungen abhängen; und solche, die mit Christus verbunden sind, könnten verloren gehen. „Wenn ihr meine Gebote haltet“ (V. 10) – was hat das mit ewigem Leben in Christus zu tun? Beruht die Einheit mit Christus, beruht das ewige Leben auf dem Halten seiner Gebote? Natürlich nicht! Allerdings liegt in diesen Worten eine Bedeutung, eine sehr wichtige Bedeutung, für jene, die Christus angehören. Wende sie auf Gottes Regierung und nicht auf die Gnade an, und alles wird einfach, fest und logisch.

Die betrachteten Worte besagen, dass es unmöglich ist, für den Vater Frucht zu bringen und sich den Genuss der Liebe Christi zu erhalten ohne Gehorsam, und zwar Gehorsam gegen die Gebote Christi. Ich wiederhole: Wer den Lehrer wertschätzt, verachtet auch den Diener nicht. Und doch gibt es viele, die ihre Verantwortlichkeit gegen das Gesetz Mose anerkennen, aber die Worte Christi weder schätzen noch ihnen gehorchen. Wer Christus liebt, erfreut sich der ganzen Wahrheit, weil Christus die Wahrheit ist. Er wird großen Wert auf jeden Ausdruck der Gesinnung Gottes legen. Er wird in dem Gesetz, den Propheten, den Psalmen und überall Leitung für sein Leben finden – wie viel mehr dann da, wo Christus am vollständigsten geoffenbart ist?! Christus ist das wahrhaftige Licht. Solange es nicht Christus ist, in und durch dessen Licht die Schriften des Alten und Neuen Testaments gelesen werden, kann ein Mensch notwendigerweise nur im Dunkeln herumtappen. Wenn er jedoch den Sohn sieht und an Ihn glaubt, findet er einen sicheren Pfad durch die Wüste und einen leuchtenden Weg in das Wort Gottes. Die Finsternis vergeht. Es gibt keine Knechtschaft mehr, keine Verdammnis, sondern, im Gegenteil, Leben, Licht und Freiheit. Gleichzeitig ist es aber eine Freiheit, die er entsprechend der Verantwortung, unserem Gott und Vater zu gefallen, nach dem Maß der Offenbarung Gottes selbst in Christus gebrauchen soll.

So sagt der Herr: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe“ (V. 10). Infolgedessen wird der Vater als der Weingärtner in reinigendem Gericht eingreifen, wo Er Nachlässigkeit in einer Person, die Christus angehört – in einer lebendigen Rebe des Weinstocks – findet. Wenn ein Gläubiger den Gehorsam pflegt, genießt er auch beständig die Liebe Christi. „Dies habe ich zu euch geredet, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde“ (V. 11).

Gesetzt den Fall, ein Mensch wendet sich eine Zeit lang von Christus ab – was ist die Folge? Egal, wie wahrhaft er ein Kind Gottes ist – er fühlt sich elend. Je aufrichtiger er ist, desto elender fühlt er sich. Jemand, dessen Gewissen nicht vor Gott geübt ist, mag über der Sünde einschlafen und sich für eine Weile an das Böse gewöhnen. Andererseits wird ein falscher Jünger es müde, dem Bösen zu frönen und dabei das Bekenntnis zu Christus festzuhalten. Gewöhnlich lässt Gott es auch nur bis zu einem gewissen Grad zu. Doch für einen im Allgemeinen aufrichtigen Erlösten ist nichts gewisser, als dass Christus sich mit ihm beschäftigen wird und dass er in der Zwischenzeit jedes Bewusstsein von der Liebe Christi als einen gegenwärtigen Besitz verliert. Hier geht es um Gemeinschaft und nicht um Errettung. Sicherlich muss es so sein; und wir wünschen es uns auch nicht anders. Wer will Unaufrichtigkeit? Wer wünscht die Aufrechterhaltung eines Scheins, eines Gepränges an Worten und Gefühlen, hinter denen das Herz nicht steht? Nichts ist unglückseliger für eine Seele, als im Bösen zu wandeln und dabei einen hohlen, übertriebenen Anschein von Gefühlen vorzutäuschen, während diese nur eine dürftige Antwort im Herzen finden.

Der Genuss der Liebe Christi ist also von Gehorsam begleitet; und wo es der Jünger an Gehorsam fehlen lässt, kann er nicht wirklich in seiner Liebe bleiben. Der Herr spricht jetzt nicht von der ewigen Liebe, sondern der gegenwärtigen Gemeinschaft. Nur der bleibt in der Liebe Christi, der treu in seinem Willen wandelt. Wir müssen bei der Liebe Christi Unterschiede machen. Er liebt die Seinen mit bedingungsloser Liebe aus reiner Gnade. Außerdem fanden wir bei unserer Betrachtung mehr als einmal Liebe in einem ausgedehnteren Sinn für solche, die nicht sein Eigentum waren. Zudem gibt es noch diese besondere persönliche Liebe der Anerkennung für denjenigen, der in den Wegen Gottes wandelt.

Einige reagieren etwas empfindlich auf dieses Thema. Sie lieben es, nur von der ewigen Liebe gegen die Auserwählten zu hören 1. Es kann jedoch keinen schmerzlicheren Beweis von ihrem schlechten geistlichen Zustand geben. Sie können jene zusätzliche Wahrheit nicht ertragen, weil diese sie verurteilt. Wenn eine solche Wahrheit in der Schrift enthalten ist (und wer wagt es, sie zu leugnen!?), dann sind wir verpflichtet, uns darunter zu beugen. Wir müssen versuchen, sie zu verstehen. Sollten wir nicht so weise sein, dass wir uns prüfen, ob wir nicht vielleicht in uns irgendetwas dulden, was Christus oder unsere Seelen beeinträchtigt (und uns gegebenenfalls bessern)? Sogar wenn wir uns auf den niedrigsten sittlichen Boden stellen – ohne von Christus zu sprechen – wir berauben uns durch Missachten dieser Wahrheit dessen, was gut und nützlich ist. Was könnte verderblicher sein, als das gering zu schätzen, was jeden unguten Zustand, in dem wir uns befinden könnten, verdammt?

Ich brauche nicht auf alle Einzelheiten unseres Kapitels einzugehen, obwohl ich es bisher sehr ausführlich betrachtet habe. Eine eingehende Auslegung dieser Verse schien mir besonders wichtig zu sein, weil sie im Allgemeinen so gründlich missverstanden werden. Hier stellt sich der Herr nämlich als die einzige Quelle des Fruchttragens für Jünger bzw. seine bekennenden Nachfolger vor und nicht wie sonst als Quelle des Lebens. Er zeigt ihnen, dass sie Ihn genauso für jeden Tag nötig haben wie für die Ewigkeit. Sie bedürfen seiner für die Frucht, die der Vater jetzt von ihnen erwartet, genauso wie für ein Anrecht am Himmel. Deshalb spricht Er von dem, was sich für einen Jünger auf der Erde geziemt. Er sagt folglich auch, dass Er selbst die Gebote seines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe geblieben sei. Tatsächlich war Er auf der Erde immer der abhängige Mensch und der Vater die sittliche Quelle seines Lebens. Darum sollen auch wir jetzt um seinetwillen so leben.

Ich bitte jeden, der bisher das Kapitel falsch gelesen hat, ernstlich, genau zu prüfen, was ich meinen Hörern vor Augen führte. Es ist unabsehbar, wie viel in der Bibel einfach gelesen wird, ohne dass der Glaube besonders geübt wird. Die Seelen nehmen ihren Inhalt in allgemeiner Form an; und zu oft besteht  ein Grund, warum er so oberflächlich aufgenommen wird, darin, dass die Leser der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen und ihre Gewissen durch das Wort nicht üben lassen. Wenn sie über die Bedeutung der Wahrheit nachdächten, sie erwögen und in ihre Seelen eindringen ließen, wären sie vermutlich zuerst äußerst erschreckt. Doch die weitere Wirkung in ihren Herzen und das Endergebnis würden gesegnet sein. Was für eine Antwort erfahren diese wunderbaren Mitteilungen Christi, wenn wir über sie teilnahmslos hinweggehen, ohne uns ihr Licht zu eigen zu machen!

Danach zeigt unser Herr eindeutig, dass sogar Er als Mensch hienieden unter der Leitung seines Vaters gewandelt hat. Er war nicht nur von einer Frau geboren worden – geboren unter Gesetz (Gal 4, 4) –, sondern Er sagt auch: „Gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe.“  Das ging viel weiter als die Zehn Gebote und der übrige Teil des Gesetzes. Es umfasste jede Äußerung der Autorität des Vaters, woher sie auch immer kam. Er konnte nicht anders, als vollkommen die Gebote seines Vaters halten; folglich blieb Er in seiner Liebe. Als der ewige Sohn des Vaters wurde Er natürlich immer von seinem Vater geliebt. Der Vater liebte Ihn auch, weil Er sein Leben ließ (Joh 10, 17). Aber Er blieb auch in des Vaters Liebe, weil Er auf seinem ganzen irdischen Weg die Gebote seines Vaters hielt. Während der Vater auf den Wandel des Sohnes hienieden herabsah, fand Er in Ihm niemals das geringste Abweichen. Im Gegenteil zeigte sich in Ihm, dem Sohn, das vollkommene Abbild von dem Willen des Vaters, indem Er Ihn bekannt machte und verherrlichte, wie es niemals vorher geschehen ist und von niemand sonst ausgeführt werden konnte. Das vollführte Er nicht einfach als Gott, sondern vielmehr als der Mensch Christus Jesus auf der Erde. Ich gebe zu, dass es in einem solchen Menschen kein Versagen geben konnte. Schon die Voraussetzung der  Möglichkeit eines Makels in Christus – sei es als Gott oder als Mensch – beweist, dass ein solcher Mann nicht an die Person des Herrn glaubt. Es konnte in Ihm keinen Fehler geben. Dennoch wurde die Probe unter den widrigsten Umständen gemacht; und Er, welcher Gott war und gleichzeitig Mensch, wandelte als Mensch so vollkommen, wie Er es seiner innersten Natur nach war. Darum ruhte die Liebe des Vaters in seinen Regierungswegen mit dem Herrn vollständig, unerschütterlich und unumschränkt auf Ihm. Genau genommen sind jetzt auch wir auf diese wahre Grundlage gestellt wie die Jünger damals, denn derselbe Grundsatz gilt natürlich für alle.

Darauf folgt eine weitere Wahrheit. Während die Jünger um Christus versammelt waren, wurden sie von Ihm aufgefordert, einander zu lieben (V. 12). In diesem Abschnitt geht es nicht um Nächstenliebe. Natürlich bleibt dieselbe zu aller Zeit bestehen. Aber diese, wie sehr sie auch immer verwirklicht wird, sollte für einen Jünger Christi nicht genug sein. Das Gebot der Nächstenliebe war richtig und zeitgemäß für einen Menschen im Fleisch, insbesondere für einen Juden. Dem Herzen eines Christen kann es jedoch nicht genügen. Und tatsächlich, wer diese Anordnung leugnet, steht im Widerspruch zu den Worten des Herrn. Ein Christ ist indessen, ich wiederhole es, nicht aus der Nächstenliebe entlassen. Ich setze voraus, dass niemand so etwas annimmt. Dagegen halte ich fest, dass ein Christ berufen ist, seinen Mitchristen in einer neuen und besonderen Weise zu lieben, wie es am Beispiel der Liebe Christi dargestellt wird. Andererseits fürchte ich, hat jemand, der diese Liebe mit der Nächstenliebe verwechselt, noch viel über Christus und auch über das Christentum zu lernen.

Der Herr führt offensichtlich diese Liebe als etwas Neues ein. „Dies ist mein Gebot.“  Es war insbesondere  sein Gebot. Er war es, der zuerst die Jünger sammelte. Sie waren eine bestimmte Menschengruppe, abgesondert von Israel, auch wenn sie noch nicht zu einem Leib getauft waren. Sie waren jedoch von Christus gesammelt und um Ihn versammelt worden, indem Er sie von den übrigen Juden absonderte. „Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebet.“  Aber nach welchem Maßstab? „Gleichwie ich euch geliebt habe. Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde.“  Will mir jemand erzählen, dass jemals ein Mensch, bevor Christus in die Welt kam, geliebt hat, wie Er liebte? Wer unwissend sein will, der bleibe unwissend und zeige weiter seinen Unglauben durch eine solche Behauptung!  Ich sage jedenfalls, dass hier eine Liebe erwartet wird, die es erst geben kann, seitdem Christus sie geoffenbart hat. Seine Liebe muss seiner Natur und Lenkung entsprechend das Herz des Christen füllen und bilden. Die Jünger sollten jetzt einander lieben nach dem Muster dessen, der sein Leben für sie als seine Freunde gelassen hat. Tatsächlich starb Er für sie, als sie noch Feinde waren; aber das steht hier nicht im Blickfeld. Sie waren seine Freunde, wenn sie alles taten, was Er ihnen geboten hatte (V. 14). Er nannte sie Freunde und nicht Knechte (Fußn.: Sklaven); denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Doch Er nannte sie Freunde, denn Er machte sie zu seinen Vertrauten in allem, was Er von seinem Vater gehört hatte. Sie hatten nicht Ihn auserwählt, sondern Er sie; und Er hatte sie gesetzt, damit sie hingingen und Frucht, bleibende Frucht, trugen, damit der Vater ihnen das gebe, was immer sie Ihn im Namen des Herrn bitten mochten. „Dies gebiete ich euch, dass ihr einander liebet“ (V. 17).

Sie würden ganz gewiss eine Liebe untereinander benötigen, wie Christus sie zu ihnen hatte. Sie sollten nämlich die Gegenstände des Hasses der Welt werden (V. 18–19). Die Juden kannten eine solche Erfahrung nicht. Sie mochten von den Nichtjuden abgelehnt werden. Sie waren zweifellos ein besonderes Volk; und die Nationen konnten es schwer ertragen, dass eine kleine Nation auf einen solch hervorragenden Platz erhöht worden war und dass deren Gesetz sie und ihre Götter verdammte. Die Jünger sollten jedoch den Hass der Welt erfahren, und zwar genauso stark – oder sogar noch stärker – von den Juden wie von den Heiden. Den Hass ihrer Volksgenossen erlebten sie damals schon; sie sollten sich aber auch auf den der Welt einstellen. Die Liebe Christi ruhte auf den Jüngern und wirkte in ihnen und durch sie. Das machte sie genauso zu Gegenständen des Hasses seitens der Welt wie ihr Herr. So sagt Er hier: „Wenn die Welt euch hasst, so wisset, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt wäret, würde die Welt das ihrige lieben; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum hasst euch die Welt.“ Ich weise darauf hin, um zu zeigen, dass die Offenbarung Christi, nachdem das Werk vollbracht war, auf der einen Seite zu einem völligen Wechsel hinsichtlich der Gewissheit des ewigen Lebens und der Errettung geführt hat. Andererseits beseitigte sie den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden. Diese Wahrheit finden wir natürlich in den Briefen geschildert. Doch neben diesen Auswirkungen führte sie auch praktisch eine Kraft ein, um Frucht zu bringen, die es vorher nicht geben konnte. Diese ist begleitet von einer wechselseitigen, für Christen kennzeichnenden Liebe und einer Verwerfung und einem Hass seitens der Welt, wie es sie früher nie gegeben hat. In jeder möglichen Hinsicht überträgt Christus uns jetzt sein Teil, wie Er es durch die Welt sowie auch vom Vater empfangen hat. „Gedenket des Wortes, das ich euch gesagt habe: Ein Knecht ist nicht  größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten“ (V. 20).

Ich bestreite keineswegs, dass von Anbeginn der Menschheitsgeschichte Werke des Glaubens, Taten der Gerechtigkeit und heiliges, weises und gehorsames Verhalten bei den Heiligen Gottes gefunden wurden. Ohne eine neue Natur gab es keinen Glauben; und dieser musste sich praktisch auswirken in Handlungen, die nach dem Willen Gottes waren. Da nun alle Erlösten seit der Schöpfung Glauben hatten und wiedergeboren waren, so konnten sie auch geistliche Wege gehen, die damit übereinstimmten.

Doch die Offenbarung Gottes in Christus vermehrt die Segnung unermesslich. Demzufolge wird das Herz Gottes in einer Weise gezeigt, wie es vorher weder geschehen ist, noch geschehen konnte, denn früher gab es noch keine Offenbarung Christi. Ausschließlich Christus konnte Gottes Gedanken angemessen ausdrücken. Der Hass der Welt entspricht dieser Offenbarung; und der Herr stellt es in den eindrücklichsten Worten dar. „Aber dies alles werden sie euch tun um meines Namens willen, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat. Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde“ (V. 21–22). Könnte der unmittelbar bevorstehende große Wechsel deutlicher ausgedrückt werden? Während Gott mit seinem alten Volk verkehrte, hatte Er immer mit Sünde zu tun. Aber was meint der Herr hier? Dürfen wir die Bedeutung seiner Worte abschwächen? Sollen wir nicht vielmehr glauben, dass die Offenbarung Christi die Sünde so auf die Spitze trieb, dass alles, was vorher geschehen war, vergleichsweise gering erscheint? Ist Letzteres nicht klein angesichts des Bösen, welches gegen die Herrlichkeit Christi, des Sohnes Gottes, und in der Verwerfung der Liebe des Vaters getan wurde – wenn man es daran misst? Kurz gesagt: Was könnte böser sein als der Hass gegen Gnade und Wahrheit, ja, der Hass gegen den Vater und den Sohn, wie er sich an der Person des Herrn Jesus vollständig geoffenbart hat? Hier wird die Sünde nicht unter dem Gesichtspunkt von Recht und Unrecht und nach dem Grundsatz von Gesetz oder Gewissen gerichtet. Das war für Israel und den Menschen als solchen gültig und zeitgemäß. Jetzt war jedoch eine Person in die Welt gekommen, die mehr als ein Mensch war. Daher trugen die Würde dessen, gegen den gesündigt wurde, und die Liebe und das Licht, die sich in Ihm enthüllten, stark zur Bewertung der Sünde bei. Die Sünde konnte ihren wahren Charakter erst zeigen, nachdem Christus geoffenbart war, obwohl natürlich das Herz und die Natur des Menschen immer gleich blieben.

Die Offenbarung Christi führte alles zu einem Höhepunkt. Sie lotete den Zustand des Menschen aus wie kein anderer Maßstab. Dadurch wurde erwiesen, dass Israel zwar, gemessen am heiligen, gerechten und guten Gesetz Gottes, verderbt war, dass indessen an dem Maßstab des Sohnes Gottes alle frühere Sünde wie nichts erschien im Vergleich zu der viel schwerwiegenderen Sünde seiner Verwerfung. „Wer mich hasst, hasst auch meinen Vater“ (V. 23). Sie hassten nicht nur Gott als Gott, sondern auch „meinen Vater“. „Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte. . .“ – es sind nicht mehr nur seine Worte, sondern auch seine Werke. „Wenn ich nicht die Werke unter ihnen getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und gehasst sowohl mich als auch meinen Vater“ (V. 24). Ein volles Zeugnis war abgelegt worden, wie wir schon bezüglich seiner Worte in Johannes 8 und seiner Werke in Kapitel 9 gesehen haben. Die Offenbarung seiner Worte und Werke stellte jedoch nur heraus, dass der Mensch den Vater und den Sohn durch und durch hasst. Unter dem Gesetz hatten die Menschen in der Erfüllung der Forderungen Gottes versagt. Doch es war ausreichend Vorsorge getroffen worden, ihnen in Barmherzigkeit und Macht zu begegnen. Aber jetzt unter der Offenbarung der Gnade stellte sich der Mensch – vor allem Israel, allerdings auch die Welt, denn in dieser Hinsicht sind nun alle vereinigt – in offener Feindschaft und unversöhnlichem Hass gegen die vollste Darstellung der göttlichen Güte auf der Erde. Dieser schreckliche, hoffnungslose Hass, so böse er auch ist, sollte einen Menschen, der dem Wort Gottes glaubt, nicht überraschen. „Auf dass das Wort erfüllt würde, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: Sie haben mich ohne Ursache gehasst“ (V. 25). Nichts demonstriert so sehr die Entfremdung und Feindschaft des Menschen. Genau hierauf legt Christus den Nachdruck.

Die Jünger hatten diese Gnade in Christus angenommen und waren folglich auf einen gleichen Pfad mit Ihm berufen. Sie waren auf der Erde die Briefe des im Himmel weilenden Christus. Das große Thema im Hauptteil des 15. Kapitels ist das Fruchttragen. Danach beschäftigt sich das Ende des Kapitels und das folgende mit dem Zeugnis. „Wenn aber der Sachwalter gekommen ist, den ich euch von dem Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der von dem Vater ausgeht, so wird er von mir zeugen. Aber auch ihr zeuget, weil ihr von Anfang an bei mir seid“ (V. 26–27). Wir finden hier ein zweifaches Zeugnis – zunächst das der Jünger, die Christus gesehen und sein Wort gehört hatten. Daher sollten sie von Ihm Zeugnis ablegen – „weil ihr von Anfang an bei mir seid.“  Sie sollten nicht nur die große Offenbarung am Ende, sondern auch die Wahrheit von Anfang an bezeugen; denn Gnade und Wahrheit waren immer in Ihm. Zweifellos hatte Er je nach den Umständen verschieden gehandelt. Dennoch bewertete Er ständig alles im Licht dessen, was kommen sollte, und nicht nach den Umständen. Zu diesem Zeugnis (denn Er zeigt jetzt das vollständige Zeugnis, welches die Jünger ablegen sollen) fügt der Heilige Geist ein zweites, sein eigenes, hinzu. Dieses unterscheidet sich von dem der Jünger. Das ist wunderbar und doch wahr! Wir wissen recht gut, dass ein Jünger nur in der Kraft des Heiligen Geistes Zeugnis ablegen kann. Wie kann dann das Zeugnis des Heiligen Geistes von dem ihrigen unterschieden sein? Beide Gesichtspunkte sind wahr, insbesondere wenn wir beachten, dass Er die himmlische Seite der Wahrheit bezeugt. In Johannes 14, 26 wurde gesagt: „Der Sachwalter aber, der Heilige Geist, welchen der Vater senden wird in meinem Namen, jener wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“  Der Heilige Geist ist sowohl Helfer als auch Lehrer. So wird gesagt: „Jener wird euch alles lehren.“  Er lehrte also, was sie noch nicht wussten, und erinnerte sie an das, was sie schon einmal erkannt hatten.

Im 15. Kapitel ist aber noch einiges mehr enthalten. Wir lesen vom Heiligen Geist: „Wenn aber der Sachwalter gekommen ist, den ich euch von dem Vater senden werde.“  Hier steht nicht: „Welchen der Vater senden wird.“  Der Heilige Geist wurde sowohl vom Vater als auch vom Sohn gesandt. Das ist nicht dasselbe, jedoch miteinander vereinbar. Beide Angaben enthalten unterschiedliche Linien der Wahrheit. Wir könnten nicht den Satz aus Kapitel 15 in Kapitel 14 einsetzen und umgekehrt, ohne die ganze Ordnung der Wahrheit durcheinanderzubringen. Sicherlich verdient alles unsere Untersuchung und verlangt von uns, dass wir auf Gott warten, um seine Schätze zu erkennen. In Kapitel 14 gibt offensichtlich der Vater den Jüngern einen  anderen Sachwalter und sendet Ihn im Namen Christi. Christus wird dort als Bittender gesehen, der in seiner persönlichen Vortrefflichkeit für die Jünger wirkt. In Kapitel 15 hingegen erblicken wir Ihn als eine Person, die vom Himmel her für die Jünger die alleinige Lebensquelle ist. Er ist der Ursprung jedes Fruchttragens; und auch droben bleibt Er unverändert derselbe. So bittet Er nicht nur den Vater, dass Er aussende, sondern sendet ihnen selbst den Geist der Wahrheit, welcher vom Vater ausgeht. Seine persönliche Herrlichkeit in der Höhe steht voll im Blickfeld; und in diesem Charakter spricht und handelt Er, während die Verbindung zum Vater immer aufrechterhalten wird. So sendet also in dem einen Fall der Vater und in dem anderen der Sohn. Von letzterem hören wir in den Versen, in denen die neue Herrlichkeit Christi im Himmel gezeigt werden soll. „Er (wird) von mir zeugen. Aber auch ihr zeuget, weil ihr von Anfang an bei mir seid.“  Ein Zeugnis sollte das des Heiligen Geistes sein, der vom Sohn gesandt wurde, und zwar ein Zeugnis über den Sohn in Übereinstimmung mit dem Ort, von dem der Heilige Geist kam, um den Platz des Sohnes hier einzunehmen. Der vom Himmel gesandte Heilige Geist würde von dem Sohn im Himmel Zeugnis ablegen. Aber auch die Jünger sollten von dem zeugen, was sie hinsichtlich des Herrn erkannt hatten, d. h. von seiner Offenbarung, während Er auf der Erde war; denn sie hatten Ihn von Anfang an begleitet. Beide Gesichtspunkte finden wir im Christentum. Es hält nicht nur ein Zeugnis von Christus aufrecht, wie Er auf der Erde geoffenbart war, sondern auch das Zeugnis des Heiligen Geistes über seine Stellung im Himmel. Wenn wir einen dieser Blickwinkel aufgeben, berauben wir das Christentum der Hälfte seines Wertes. Zum einen erfahren wir Einzelheiten über das Leben Christi auf der Erde, die kein Mensch aus sich heraus hätte darlegen können. Zum anderen werden die Herrlichkeiten Christi im Himmel geschildert, die in seinen Umständen hienieden nicht gezeigt werden konnten. Beide Darstellungen besitzen für jedes Kind Gottes eine göttliche Bedeutung und Kraft.

Fußnoten

  • 1 und ganz gewiss haben sie, falls diese abgeschwächt oder geleugnet wird, Grund zu ihrer Verärgerung. (W. K.)
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel