Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Kapitel 18

Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden finden wir das Gebet. Diesmal steht es allerdings nicht so sehr in Verbindung mit dem Bedürfnis der Seele und dem Wort Gottes, welches man durch Jesus empfängt. Das sahen wir in Kapitel 11. Hier erhebt sich das Gebet aus einem Zustand der Verlassenheit und tiefster Trübsal. Es ist ein Gebet angesichts des Bösen und des göttlichen Gerichts. Folglich bezieht sich sein Inhalt letztlich auf die Drangsal der Endzeit. Aber Lukas beschränkt sich nie auf äußere Dinge. Deshalb steht hier geschrieben: „Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis dafür, dass sie  allezeit beten ... sollten“ (V. 1). Dieser Grundsatz fällt umso mehr auf, als die äußeren Umstände zu diesem Gebet offensichtlich nur einen engen Bereich einschließen, wohingegen das, was der Herr daraus folgert, allumfassend ist. Er ermahnt zum Gebet im Blick auf die letzte Prüfung. Trotzdem leitet Er diese Aufforderung mit einer klaren sittlichen Unterweisung zum Wert des Gebetes zu allen Zeiten ein - „dass sie  allezeit beten und nicht ermatten sollten.“  Sicherlich wird Gott nicht gleichgültig an dem unablässigen Rufen seiner scheinbar verlassenen Auserwählten in ihrer feurigen Versuchung vorübergehen, wenn alle Macht der Menschen sich gegen sie erhebt. Doch die Verpflichtung zum Gebet besteht immer.

Allein Lukas behandelt das Thema in dieser Weise. Der sittliche Wert des Gebets wird vorgestellt. Gleichzeitig wird es mit allgemeinen Wechselfällen des Leidens verbunden. Dennoch liegen in dem Gleichnis auch die Umstände der letzten Tage verborgen. Es soll das Vertrauen auf die Beachtung, die Gott dem Gebet aus der Not schenkt, wecken und vergrößern. Trotz seiner Gleichgültigkeit gab ein ungerechter Richter vor der Zudringlichkeit einer armen Witwe nach. Er hasste nicht das Böse, welches der bedrängten Frau angetan worden war, sondern wollte die beständigen Scherereien, die ihr Rufen nach Gerechtigkeit ihm machten, loswerden. Wenn ein böser und ungerechter Mann so handelt, würde dann Gott nicht den Rechtsfall seiner Auserwählten, welche zu Ihm Tag und Nacht rufen, übernehmen? Es kann nicht anders sein. Er wird sie schnell rächen. Nichtsdestoweniger – „wird wohl der Sohn des Menschen, wenn Er kommt, den Glauben finden auf der Erde?“

Dann folgt ein ganz anderes Gleichnis. Es spricht nicht vom Wert eines ausharrenden Gebets und von der Gewissheit, dass Gott selbst für den Schwächsten eintritt, wie verlassen er auch scheinen mag. Dabei wirkt Gott umso mehr, weil es sich um einen der  Seinen handelt. Stattdessen erblicken wir jetzt den sittlichen Zustand des Menschen in zwei Geisteshaltungen. Zum einen sehen wir einen zerbrochenen Geist mit geringem geistlichen Licht, jedoch einem wirklichen Bewusstsein seiner Sünde, zum anderen eine Seele, die in der Gegenwart Gottes mit sich selbst zufrieden ist. „Er sprach aber auch zu etlichen, die auf sich selbst vertrauten, dass sie gerecht seien, und die übrigen für nichts achteten, dieses Gleichnis: Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer und der andere ein Zöllner“ (V. 9–10). Der Pharisäer war natürlich kein Mann, der Gott leugnete oder keine Religion hatte. Er war religiös; und doch war gerade seine Religion das Verdammenswerteste an ihm. Nicht nur seine Sünden machten bei ihm das Böse aus, sondern vor allem seine Religion. Nichts blendete ihn und seine Mitmenschen mehr; nichts war mehr zur Unehre Gottes. Auf der anderen Seite hatte der arme Zöllner weder klares Licht, noch Frieden. Er verwirklichte aber wenigstens die Anfänge eines jeden wahren Lichts. Er hatte genug von Gott erkannt, um sich selbst zu verdammen. „Die Furcht Jahwes ist der Weisheit Anfang“ (Spr 9, 10). Er allein von den beiden beurteilte die Angelegenheit nach seinem wenn auch geringen Licht. Er beurteilte sich selbst richtig und war darum in einem sittlichen Zustand, um auch die anderen Dinge richtig zu sehen, und zwar so, wie Gott sie ihm vorstellte. Selbstverständlich kannte er das Vorrecht eines gereinigten Anbeters, der kein Gewissen mehr von Sünden hat, noch nicht. Aus diesem Grund sehen wir den überführten Zöllner draußen stehen, wie er an seine Brust schlug, sich entfernt hielt und nicht wagte, seine Augen aufzuheben. So war es damals angemessen, denn das Werk Christi war noch nicht vollbracht und erst recht nicht auf die Seele des Zöllners angewandt worden. Ich bezweifle nicht, dass es zur damaligen Zeit und unter solchen Umständen Anmaßung von seiner Seite gewesen wäre, hätte er sich genähert. Alles war zeitgemäß. Wenn hingegen Gott jetzt einen Gläubigen einlädt, zu Ihm in das Allerheiligste zu nahen – würde es nicht ebenfalls Anmaßung sein, wenn jene Seele etwas an der Gnade Gottes, wie sie sich im Erlösungswerk Christi entfaltet hat, auszusetzen hätte und die Ergebnisse dieses Werkes für sich selbst bezweifelte? Gott mag mit einer solchen Kränkung seiner Gnade Nachsicht üben – und wir wissen, dass Er es tut –, dennoch hat Er seine eigenen Wege, um ein solches Unrecht wiedergutzumachen. Aber dieses Gleichnis begründet keineswegs ein Verhalten, das man nur zu häufig daraus abliest. Wir sind Christus gegenüber verpflichtet, jede Missdeutung, die sein Werk am Kreuz schmälert, zurückzuweisen. Der Zöllner vor uns soll keinesfalls einen vollen Ausblick auf den christlichen Zustand oder die Segnungen des Evangeliums zeigen. Er ist ein Mensch, der von Gott unterwiesen worden war, so dass er seine Nichtigkeit vor Ihm als Sünder fühlte. Des Weiteren sehen wir, wie Gott ihn einschätzt im Unterschied zu dem Mann, der mit seinem Zustand zufrieden war. Wir erkennen eine Demut, die auf dem Gefühl ihrer Unwürdigkeit beruht und in ihrem Bereich immer richtig ist.

Der nächste Abschnitt (V. 15–17) zeigt die Demut, deren Quelle unsere Nichtigkeit ist. Viele Menschen sind sich ihrer Unwürdigkeit aufgrund ihrer Sündhaftigkeit bewusst. Trotzdem haben sie keine Vorstellung davon, wie klein sie in der Gegenwart Gottes wirklich sind. Hier gibt unser Herr den Jüngern diese weitere Lektion, und er benutzt dazu ein Kind als Bild. Wenn wir uns in das Lukasevangelium versenken, werden wir verstehen, wie wichtig dieser Gesichtspunkt ist.

Dann finden wir den Obersten, dem der Herr zeigte, dass alles auf falscher Grundlage steht, solange die Seele noch nicht zu der Erkenntnis gebracht wurde, dass nichts gut ist als nur Einer, Gott. Hätte dieser Mann wirklich gewusst, wie gut Gott ist, dann hätte er schnell Gott in der Person Jesu erkannt. Er sah es aber nicht. Er kannte weder Gott, noch das Gute. Er sah in dem Herrn nur etwas Gutes nach menschlicher Art. Wäre der Herr Jesus einfach ein Mensch gewesen, dann hätte es in Ihm nichts Gutes gegeben, denn solches gibt es nur in Gott. Gott allein ist gut. Wäre Jesus nicht Gott, dann wäre Er auch nicht gut. Der junge Oberste hatte kein Recht, keine gerechte Grundlage, um „Guter Lehrer“  zu sagen, es sei denn, jener Lehrer war Gott. Das erkannte er nicht. Darum erprobte ihn der Herr und prüfte den Grund seines Herzens. Er zeigte, dass der Oberste die Welt mehr schätzte als Gott und das ewige Leben. Diese innere Einstellung hatte der junge Mann niemals in seinem Herzen erwartet. Er liebte seine natürliche Stellung. Er liebte es, ein – wenn auch junger – Oberster zu sein. Er liebte seine Besitztümer, und er liebte das, was er als gegenwärtige Vorzüge in der Welt besaß. Er klebte an diesen Dingen, ohne es selbst zu wissen. Der Herr forderte ihn darum auf, diese alle zu verlassen und Ihm nachzufolgen. Der junge Mann dachte, dass es keine Forderung der Güte gäbe, welcher er nicht entsprechen konnte. Doch die Probe war zu schwer für ihn. Der Mensch ist nicht gut; Gott allein ist gut. Jesus, der Gott ist, hatte über alle Vergleiche mehr – ja, unendlich mehr – aufgegeben. Was hatte Er nicht alles verlassen? Und um wessentwillen? Er war Gott; und Er bewies es vor allem durch eine Selbstverleugnung, die wahrhaft göttlich war.

Im Folgenden enthüllten die Zuhörer und die Jünger ihre Gedanken. Sie meinten, eine Art Verdienst für das beanspruchen zu können, was sie aufgegeben hatten. Der Herr bestätigte, dass Er an einem zukünftigen Tag jedes Verzichts angemessen gedenken wird, der um des Glaubens willen geleistet wurde.

Zur selben Zeit nahm Er die Zwölfe beiseite und sprach: „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten auf den Sohn des Menschen geschrieben ist“ (V. 31). Das war es, was  Er zu erwarten hatte, unabhängig von ihrem Teil. „Denn er wird den Nationen überliefert werden und wird verspottet und geschmäht und angespieen werden; und wenn sie ihn gegeißelt haben, werden sie ihn töten, und am dritten Tage wird er auferstehen. Und sie verstanden nichts von diesen Dingen, und dieses Wort war vor ihnen verborgen, und sie begriffen das Gesagte nicht“ (V. 32–34). Das ist eine wichtige Lektion, die wir hier nicht zum ersten Mal bei Lukas (und zudem auch in den anderen Evangelien) finden. Es kann daher nicht oft genug wiederholt werden, dass ein Mangel an Verständnis über die Schrift nicht darauf beruht, weil sie von unklarer Sprache ist. Der Wille des Menschen liebt nämlich die vorgestellte Wahrheit nicht. Das ist der Grund, warum Schwierigkeiten bei der Auslegung auftauchen und im Übermaß vorhanden sind. Wenn ein Mensch willig geworden ist, die Wahrheit anzunehmen, dann ist sein Auge einfältig und sein Leib voller Licht (Lk 11, 34). Das eigentliche Hindernis ist der Wille. Das Verständnis wird da sein, falls Herz und Gewissen richtig stehen. Wenn Gott den Gläubigen zerbricht und zu der Freiheit, womit der Sohn frei macht, führt, ist das Gewissen gereinigt; und das Herz wendet sich Ihm zu. Dann wird alles richtig. Er ist in das Licht Gottes gestellt worden; im Licht Gottes sieht er das Licht (Ps 36, 9). War das damals der Zustand der Jünger? Hielten sie nicht noch an den eigenen hochgeschätzten Vorstellungen über den Messias und über ein irdisches Königreich fest? Sie konnten den Herrn nicht verstehen, auch wenn seine Worte noch so eindeutig waren. Die Schwierigkeit lag nicht in deren Unklarheit. Selbst seine Feinde mussten urteilen, dass niemals ein Mensch so geredet hatte, wie dieser Mensch (Joh 7, 46). Die Schwerfälligkeit der Jünger beruhte auch nicht darauf, dass ihr natürliches Verständnis nicht ausreichte. Wie immer wurde der Zustand des Herzens auf die Probe gestellt. Obwohl wiedergeboren, stand ihr Wille nicht richtig. Ihre Schwierigkeit war, dass sie das, was Jesus lehrte, nicht gerne annehmen wollten. So ist es immer, sowohl bei Gläubigen als auch bei Ungläubigen.

Mit dem 35. Vers betreten wir, wie allgemein bekannt, den letzten Abschnitt der drei geschichtlichen Evangelien. Er beschäftigt sich mit dem Einzug des Herrn Jesus in Jerusalem von Jericho aus. Nun finden einige Leser hier die Schwierigkeit, dass Lukas den anderen Berichten über diesen Teil des Weges Christi zu widersprechen scheint. „Es geschah aber, als er Jericho nahte, saß ein gewisser Blinder bettelnd am Wege“ (V. 35). Aus den übrigen Evangelien erfahren wir, dass diese Begebenheit stattfand, als Er Jericho verließ und nicht als Er hineinging. Die Wahrheit besteht darin, dass unsere englische 1  Übersetzung, so ausgezeichnet sie auch ist, ein wenig über die Worte des Lukas hinausgeht; denn unser Evangelist sagt nicht: „als er Jericho  nahte“, sondern: „als er  in der Nähe Jerichos  war.“ Es geht hier also nicht notwendigerweise darum, dass Er sich der Stadt näherte, sondern einfach um die Tatsache, dass Er sich in ihrer Umgebung befand. Das äußerste Zugeständnis, dass man dem griechischen Wort erlauben kann oder erlauben sollte, besteht darin, dass es, wenn der Zusammenhang dies erfordert, auch die Übersetzung – oder vielmehr Paraphrase 2 – „sich nähern“ zulässt. Das gilt jedoch nicht in diesem Fall. Offensichtlich ist man sowohl beim Einzug, als auch beim Verlassen einem Ort in gleicher Weise nahe, und zwar entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Lukas spricht hier nur von der Nähe zur Stadt. Wir wissen auch, dass Lukas, genauso wie Matthäus, für sein Thema die berichteten Ereignisse aus ihrer geschichtlichen Reihenfolge herausnimmt, um ein besonders eindrucksvolles sittliches Bild der Wahrheit, die er darstellen soll, zu liefern. Ich zweifle nicht daran, dass es einen Grund dafür gibt, warum der Blinde in unserem Evangelium hierhin gestellt wird und nicht in die Darstellung der Ereignisse beim Weggang des Herrn aus Jericho. Denn für den Bericht in Verbindung mit Jericho wurde der wunderbare Ruf an Zachäus reserviert. Diese Geschichte der Gnade, die so kennzeichnend für sein erstes Kommen war, sollte wohl dem Problem und dem Gleichnis, welches sein zweites Kommen charakterisiert, gegenüberstehen. So berichtigte unser Herr gleich danach die Gedanken der Jünger, die aus seinem Hinaufzug nach Jerusalem schlossen, dass das Reich Gottes bald erscheinen müsse. Sie erwarteten, dass Er dort den Thron Davids einnehmen würde. Folglich stellt Lukas diese beiden Gesichtspunkte zusammen: Zum einen die Gnade, welche sein erstes Kommen illustriert, und zum anderen die wahre Natur des zweiten Kommens Christi, soweit es das Erscheinen des Königreiches Gottes betrifft. Wäre der Bericht von der Heilung des Blinden bei Jericho an seinem geschichtlichen Platz geblieben, dann hätte dies den Zusammenhang der beiden Umstände zerstört. Es liegt also, wie mir scheint, ein ausreichender und göttlicher Grund vor, warum der Geist Gottes den Schreiber dazu anhält, die Heilung des Blinden so darzustellen, wie wir sie hier finden. Aber dann sagt er nicht das, was unsere Bibelausgabe ihn sagen lässt, nämlich: „als er Jericho  nahte“, sondern einfach: „als er  in der Nähe Jerichos  war.“ Er überlässt es anderen Bibelstellen, die genaue Zeit zu bestimmen. Er sagt nur, dass die Heilung in der Umgebung von Jericho geschah. Die anderen Evangelien berichten ausdrücklich, dass die Heilung beim Wegzug erfolgte. Natürlich müssen wir die allgemeinere Sprache bei Lukas durch die genaueren Angaben von Zeit und Ort derjenigen interpretieren, die angeben, dass der Herr bei seinem Auszug den Blinden heilte. Nichts könnte einfacher sein. Die Heilung des Blinden war eine Art letztes Zeugnis davon, dass der Messias anwesend war. Er kam nicht auf dem Weg der Macht, die einst Jericho umstürzte, sondern in der Gnade, die den wahren Zustand Israels aufzeigte und ihm abhelfen konnte. Die Juden waren blind. Hätten sie doch den Glauben besessen, den Messias wegen ihrer Blindheit anzurufen! Denn Er war da mit der Macht und der Bereitschaft sie zu heilen. Leider gab es dort nur ein oder zwei Blinde, die ihre wahre Not anerkannten. Unser Herr heilt indessen alle, die Ihn anrufen.

Fußnoten

  • 1 und auch deutsche. (Übs.)
  • 2 Paraphrase: sehr freie Übersetzung (Übs.)
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel