Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Kapitel 10

Einführende Vorträge zum Lukasevangelium

Als Nächstes lesen wir von dem bemerkenswerten Auftrag an die Siebzig, den nur Lukas erwähnt. Dieser hat in seiner Dringlichkeit tatsächlich einen ernsten und abschließenden Charakter, der denjenigen bei der Aussendung der Zwölf in Kapitel 9 weit übertrifft. Es war ein Botengang der Gnade, veranlasst von dem, dessen Herz sich nach einer großen Ernte von Segnungen sehnte. Doch er war mit einer gewissen letzten Warnung verbunden unter Hinzufügung von Weherufen über die Städte, in denen Er vergeblich gearbeitet hatte. „Wer euch hört, hört mich; und wer euch verwirft, verwirft mich; wer aber mich verwirft, verwirft den, der mich gesandt hat“ (V. 16). Diese Worte gaben der Mission eine ernste und besondere Kraft, die nichtsdestoweniger zu unserem Evangelium passt. Ohne mich bei den Einzelheiten aufzuhalten, möchte ich trotzdem kurz auf die Antwort des Herrn eingehen, als die Siebzig zurückkehrten und sagten: „Herr, auch die Dämonen sind uns untertan in deinem Namen“ (V. 17). Der Herr sah deutlich vor sich, wie Satan vom Himmel fiel. Das Austreiben der Dämonen durch die Jünger war ein erster Schlag in jener Kraft, welche am Ende Satan völlig niederwerfen wird. Gleichzeitig erklärte Er, dass dieses nicht das Größte ist und keineswegs ein geeigneter Gegenstand für ihre Freude. Keine Macht über das Böse, wie wirklich sie auch jetzt schon ausgeübt werden mag und wie sie sich am Ende in der Fülle der Herrlichkeit Gottes entfalten wird, kann mit der Freude seiner Gnade verglichen werden. Diese Freude sieht nicht nur, wie Satan hinausgeworfen, sondern auch wie Gott eingeführt wird. In der Zwischenzeit finden die Jünger, in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn, ihr Teil und ihre Namen im Himmel angeschrieben. Es ist eine himmlische Glückseligkeit. Dabei zeigt sich mehr und mehr im Lukasevangelium – und nicht so sehr bei den anderen Synoptikern 1 –, dass dort der Platz für die Jünger ist. „Doch darüber freuet euch nicht, dass euch die Geister untertan sind; freuet euch aber, dass eure Namen in den Himmeln angeschrieben sind“ (V. 20). Hier wird nicht die Kirche offenbart. Wir sehen indessen, wie zumindest ein sehr charakteristischer Strahl der christlichen Stellung durch die Wolken bricht. Daher frohlockte zu jener Stunde Jesus im Geist und sprach: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir“ (V. 21).

Wir stellen fest, dass diese Worte hier nicht wie im Matthäusevangelium (Kap. 11) mit dem Abbruch der Beziehungen zum Judentum in Verbindung stehen. Auch blickte Er nicht ausschließlich auf die völlige Vernichtung der Macht Satans durch den Samen des Weibes – durch einen Menschen und für den Menschen. Indem Er noch tiefer in die Wahrheit eindrang als bis zum Königreich, erklärte Er jene Ratschlüsse des Vaters im Sohn, dem alle Dinge übergeben sind und dessen Herrlichkeit für den Menschen unergründlich ist. Darin lag der Schlüssel zu seiner gegenwärtigen Verwerfung und die verborgene und größte Segnung für seine Heiligen. Er ist jetzt nicht so sehr der als Christus verworfene und leidende Sohn des Menschen, sondern der Sohn, der Offenbarer des Vaters. Diesen kennt nur der Vater. Und mit welcher Freude beglückwünscht Er insgeheim die Jünger für das, was sie sahen und hörten (V. 23–24), obwohl einige Erklärungen dazu erst später deutlicher herausgestellt werden! Für Ihn war jetzt schon alles offenbar. Hier erfreut sich der Herr an der herrlichen Seite des Themas. Er zeigt nicht wie bei Matthäus den Gegensatz zu dem sozusagen toten Körper des Judentums, der vollständig gerichtet und verlassen wurde.

Matthäus beschreibt dann jene Sabbattage, an denen der Herr den unwilligen Juden zeigte, dass das Band zwischen Gott und Israel zerrissen war (Mt 11 und 12). Das ist nämlich die Bedeutung der offenkundigen Verletzung des Sabbatgebots, als Er an dem einen Tag die Jünger verteidigte, welche Korn gegessen hatten, und an dem nächsten öffentlich die verdorrte Hand heilte. Hier begegnet uns ein anderer Gedankengang. Wir sehen nach Lukas' Schreibweise eine Person, die in dem Gesetz unterrichtet war, wie sie gewogen und sittlich zu leicht gefunden wurde. Ein Gesetzgelehrter kam und sagte: „Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu ererben? Er aber sprach zu ihm: Was steht in dem Gesetz geschrieben? wie liest du? Er aber antwortete und sprach: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstande, und deinen Nächsten wie dich selbst.‘ Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue dies, und du wirst leben. Indem er aber sich selbst rechtfertigen wollte, sprach er zu Jesu: Und wer ist mein Nächster?“ (V. 25–29).

Wir erfahren von den Problemen einer gesetzlichen Gesinnung. Es ging um eine fachliche Frage. Der Mann konnte nicht verstehen, wer sein „Nächster“  war. Verstandesmäßig war es kein Kunststück, in die Bedeutung des Wortes „Nächster“  einzudringen. Doch die sittlichen Schlussfolgerungen waren schwerwiegend. Wenn das Wort wirklich das besagte, was es ausdrückte – hatte er jemals in seinem Leben gefühlt und gehandelt, als hätte er einen Nächsten? Er gab deshalb die Untersuchung auf. Das Wort war ein rätselhaftes Etwas, das die Ältesten nirgendwo erklärt hatten, ein Fall, der vom Synedrium noch nie entschieden worden war – wer war mit diesem mysteriösen „Nächsten“  gemeint? Ach, das gefallene Herz des Menschen wollte einer eindeutigen Pflicht ausweichen, denn diese verlangte Liebe. Liebe ist jedoch das letzte in dieser Welt, was der Mensch besitzen könnte. Die größte Schwierigkeit war der Schriftgelehrte selbst; und so versuchte er sich zu rechtfertigen – eine absolute Unmöglichkeit! In Wirklichkeit war er ein Sünder. Seine Aufgabe war, seine Sünden zu bekennen. Wo der Mensch noch nicht dahin geführt worden ist, sich selbst zu erkennen und Gott zu seinen eigenen Ungunsten zu rechtfertigen, bleibt alles verkehrt und falsch. Jede Wahrheit, die von Gott kommt, wird missverstanden; und sein Wort erscheint als Finsternis und nicht als Licht.

Beachte, wie unser Herr das Problem in dem schönen Gleichnis vom barmherzigen Samariter darstellt! Wenn ich vom Herrn als Mensch so sprechen darf, erkennen wir in Ihm das einzigartige Auge und Herz, welches vollkommen verstand, wie Gott ist, und sich daran erfreute. Sein Herz hatte folglich niemals Schwierigkeiten herauszufinden, wer sein Nächster war. Tatsächlich findet die Gnade einen Nächsten in jedem Menschen, dem Liebe fehlt. Derjenige, der menschliches Mitgefühl, göttliche Güte und das klare Zeugnis von ihr, wenn auch vielleicht durch einen Menschen auf der Erde, benötigt, ist mein Nächster. Jesus war der einzige Mensch, der in der ganzen Kraft der göttlichen Liebe wandelte. Ich brauche jedoch kaum zu sagen, dass dies nur ein geringer Teil seiner Herrlichkeit war. Als solcher fand Er kein Rätsel in der Frage: Wer ist mein Nächster?

Offensichtlich geht es hier nicht um die Beiseitesetzung des alten Volkes Gottes in seiner Haushaltung, sondern um die Erprobung des Herzens. Der Wille des Menschen wird enthüllt, wie er das Gesetz benutzt, um sich zu rechtfertigen und den klaren Forderungen der Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen auszuweichen. Wo zeigte sich die Liebe – jene notwendige Antwort im Menschenherzen auf den Charakter Gottes in einer bösen Welt? Sicherlich nicht in der Frage des Gesetzgelehrten (die verriet, wie unbekannt diese Pflicht war), dafür aber ganz eindeutig in Ihm, dessen gleichnishafte Antwort sehr treffend seine Gefühle und sein Leben versinnbildlichen. Er war die einzige vollkommene Darstellung des Willens Gottes in Liebe gegen einen Nächsten, die unsere arme Welt jemals gesehen hat.

Die übrigen Verse des Kapitels gehören eigentlich schon zum elften Kapitel, das in passender und natürlicher Weise diese Wahrheit weiterverfolgt. Welche Barmherzigkeit, dass es durch uns, allerdings in der Kraft Jesu, eine aktive Güte auf der Erde gibt, die letztlich als einzige das Gesetz erfüllt! Es ist sehr wichtig zu sehen, wie die Gnade wirklich Gottes Willen erfüllt nach den Worten: „Auf dass das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln“ (Röm 8, 4). Der Gesetzgelehrte wandelte nach dem Fleisch. Er hatte kein Empfinden für die Gnade; und folglich war in ihm keine Wahrheit. Welch ein elendes Leben musste er geführt haben, wenn er, ein Lehrer des Gesetzes Gottes, nicht einmal wusste, wer sein Nächster war – jedenfalls nach der Behauptung des Herrn!

Im Folgenden werden wir belehrt, dass auf der anderen Seite da, wo Gnade herrscht, alles an seinem rechten Platz steht. Das zeigt sich auf zweierlei Weise. Zunächst hören wir vom Wert des Wortes Jesu. Die Gnade schätzt es über alles. Wenn wir zwei Menschen sehen, die beide Gegenstände der Liebe Christi sind – welch ein Unterschied besteht zwischen ihnen, wenn des einen Herz sich vornehmlich an der Gnade erfreut! Wo die Gelegenheit besteht, das Wort Gottes durch Jesus oder über Jesus zu hören, da geschieht es am segensreichsten zu seinen Füßen. Dort ist der wahre sittliche Platz für denjenigen, der die Gnade am besten kennt. Hier ist es Maria, die zu Jesu Füßen saß, um sein Wort zu hören. Sie hatte sich richtig entschieden, wie es der Glaube – ich sage bewusst nicht „der Gläubige“ – immer tut. Was Martha betrifft, so war sie durch ihre Geschäftigkeit abgelenkt. Ihr einziger Gedanke war, was sie für Jesus als einem Menschen nach dem Fleisch tun konnte, obwohl sie auch, wie immer, daran dachte, was sie sich selbst schuldig war. Zweifellos diente sie Ihm; und sie arbeitete in gewissem Sinn zu seiner Ehre. Doch es war Ehre in einer jüdischen, fleischlichen, weltlichen Form. Sie wurde seiner körperlichen Gegenwart als Mensch und Messias gezollt – zweifellos verbunden mit einem Quäntchen Ehre für Martha selbst und die Familie. Das wird natürlich bei Lukas herausgestellt, der solche sittlichen Züge aufzeigt. Marias Verhalten scheint für Martha von Gleichgültigkeit all ihren vielen besorgten Vorbereitungen gegenüber zu zeugen. Hierdurch gereizt, ging sie zum Herrn, um sich über Maria zu beschweren. Sie wünschte, dass Er sich ihrer Ansicht anschließen und die Berechtigung ihres Tadels bestätigen sollte. Der Herr verteidigte jedoch sofort die Hörerin seines Wortes. „Eines aber ist not“ (V. 42). Nicht Martha, sondern Maria hatte jenes gute Teil erwählt, welches ihr nicht weggenommen werden sollte. Wenn die Gnade in dieser Welt wirkt, dann sind ihre Ergebnisse nicht für einen flüchtigen Augenblick bestimmt, sondern zur ewigen Segnung. Ein Teil der Gnade Gottes besteht also in dem Wort Jesu, welches das offenbart und mitteilt, was ewig ist und nicht weggenommen werden kann.

Fußnoten

  • 1 Die ersten drei Evangelisten werden, weil sie die Ereignisse im Leben des Herrn mehr oder weniger parallel (synoptisch) darstellen, als Synoptiker bezeichnet. (Übs.)
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