Einführende Vorträge zum Markusevangelium

Kapitel 10

Einführende Vorträge zum Markusevangelium

In diesem Kapitel stellt unser Herr andere wichtige Themen vor, indem Er voreiligen Schlussfolgerungen begegnet. Wir haben gesehen, dass sich alles auf den Tod und die Auferstehung gründet und auf die kommende Herrlichkeit wartet. Jetzt könnte vielleicht jemand denken, dass ein solcher Dienst den natürlichen irdischen Beziehungen keine Bedeutung beimäße. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Genau zu der Zeit, als von Gott die höchsten Grundsätze eingeführt wurden, fand all das, was Gott jemals auf der Erde anerkannt hatte, seinen richtigen Platz. Nicht zur Zeit der Gesetzgebung wurde zum Beispiel die Heiligkeit der Ehe am meisten verteidigt. Jeder sollte eigentlich wissen, dass keine Institution für den Menschen auf der Erde so bedeutsam ist wie die Ehe. Nichts bildet ein stärkeres soziales Band als dieselbe. Was ist in dieser Welt natürlicherweise mehr die Voraussetzung für häusliches Glück und persönliche Reinheit – ohne von den anderen Gesichtspunkten zu sprechen –, auf welcher alle menschlichen Beziehungen beruhen? Und doch ist bemerkenswert, dass während der Haushaltung des Gesetzes ständig etwas gestattet wurde, was die Ehe schwächte. Die Erlaubnis der Ehescheidung aus geringfügigem Anlass hielt, ich brauche es kaum zu sagen, in keinster Weise ihre Ehre aufrecht. Jetzt aber war in Christus die Fülle der Gnade gekommen und, darüber hinaus, verworfen worden; und der Herr Jesus Christus kündigte das an, was sich auf seine herannahende Erniedrigung bis zum Tod gründete. Während Er jetzt ausdrücklich lehrte, dass das neue System nicht vor seiner Auferstehung aus den Toten verkündet werden sollte und verkündet werden konnte, war für Ihn der richtige Zeitpunkt da, um auf den Wert der verschiedenen Beziehungen im natürlichen Leben zu bestehen. Ich gebe zu, dass wir diese Verbindung mit der Auferstehung nur im Markusevangelium finden. Aber dafür stellt es auch die wahre Bedeutung der Auferstehung heraus. Denn Markus zeigt natürlich den Wert dieser herrlichen Wahrheit – und zudem der Zeit ihrer Erfüllung – für den Dienst Christi im Zeugnis und für das Herausstellen der Wahrheit an andere.

Der Herr hatte über das gesprochen, was von ewiger Bedeutung war, und es bis zum Ende dieses vergänglichen Schauplatzes weiterverfolgt. Er hatte die Folgen für diejenigen gezeigt, die weder Teil noch Los in dieser Sache haben, sowie für solche, die sich der bewahrenden Gnade Gottes erfreuen, indem sie Christus angehören. Jetzt stellte Er das Verhältnis dieser neuen Grundsätze zu den natürlichen Beziehungen heraus – zu dem, was Gott in dem, was man die äußere Welt nennen mag, anerkannt hatte.

Unser Herr trat hier zunächst als der Verteidiger der Ehe auf. Er lehrte, dass Mose im Gesetz, so bedeutsam es auch war, den lebenswichtigen Platz der Ehe für die Welt nicht geltend gemacht hatte. Im Gegenteil, er erlaubte gewisse Verletzungen derselben wegen des Zustandes Israels. „Wegen eurer Herzenshärtigkeit hat er euch dieses Gebot geschrieben; von Anfang der Schöpfung aber schuf Gott sie Mann und Weib.,Deswegen wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen.'“ (V. 5–7). Das heißt: Selbst das naheste andere Verwandtschaftsverhältnis weicht vor der Ehe. „Deswegen wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und es werden die zwei ein Fleisch sein“; also sind sie nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“  Doch dazu ist es gekommen. Diese einfache, aber gründliche Erklärung der Gedanken Gottes haben wir dem Herrn Jesus zu verdanken, dem großen Zeugen der Gnade und der ewigen Dinge. Letztere stehen mit seiner Verwerfung und dem Reich Gottes, das in Macht kommt, sowie der Beseitigung des lange bestehenden Zaubers des Teufels in Verbindung. Derselbe Jesus reinigte jetzt auch die Einrichtungen Gottes für die Erde vom Schutt des Ruins.

Ein ähnlicher Grundsatz durchzieht auch die folgenden Ereignisse. „Sie brachten Kindlein zu ihm, auf dass er sie anrühre. Die Jünger aber verwiesen es denen, welche sie herzubrachten“ (V. 13). Hätten seine Anhänger tief von der Gnade getrunken, mit der Er erfüllt war, dann hätten sie die Gefühle, die diese Kinder zu ihrem Lehrer brachten, ganz anders bewertet. In Wirklichkeit herrschte immer noch ein starker Geist der Ichsucht in ihren Herzen. Und wer ist kleinlicher und engherziger? Armer, stolzer Judaismus trübte und beeinträchtigte die Gefühle; und die Kleinen wurden von ihnen verachtet. Aber der mächtige Gott verachtet niemand. Und die Gnade versteht die Gesinnung Gottes und ahmt Ihn nach. Der Herr wies sie zurecht. Ja, es wird sogar gesagt: „Er (wurde) unwillig und sprach zu ihnen: Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes“ (V. 14). In diesen beiden Beziehungen, die für die Erde von allumfassender Bedeutung sind, sehen wir den Herrn Jesus den Beweis erbringen, dass die Gnade weit davon entfernt ist, der Natur ihren Platz zu verweigern. Ja, sie allein verteidigt ihn nach den Gedanken Gottes.

Danach folgt eine weitere Lehre, die in einem gewissen Sinn noch aussagekräftiger, weil noch schwerer zu verstehen ist. Es ist noch vorstellbar, dass die Barmherzigkeit Gottes sich besonders mit einem Kind beschäftigt. Aber nehmen wir an, dass ein unbekehrter Mann nach dem Gesetz lebt und in großem Maß mit der Erfüllung seiner Forderungen zufrieden ist – was würde der Herr von ihm sagen? Was fühlte der Herr Jesus Christus in Hinsicht auf einen solchen Menschen? „Als er auf den Weg hinausging, lief einer herzu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Lehrer, was soll ich tun, auf dass ich ewiges Leben ererbe? Jesus aber sprach zu ihm: Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als nur Einer, Gott“ (V. 17–18). Der Mann war völlig in Finsternis. Er hatte keine errettende Kenntnis von Gott. Er hatte auch keine Erkenntnis darüber, was der Mensch wirklich ist. Er hatte kein Empfinden von der wahren Herrlichkeit Christi. Er ehrte Ihn – allerdings nur als eine Person, die sich in einigen Graden von ihm unterschied. Er anerkannte Ihn als guten Lehrer und wollte von Ihm als guter Schüler soviel wie möglich lernen. Er stellte sich insofern auf eine Stufe mit Jesus, indem er annahm, dass er fähig sei, die Worte und Verhaltensweisen Jesu auszuführen. Ganz offensichtlich war also die Sünde in dem Herzen dieses jungen Mannes nicht gerichtet worden und Gott ihm unbekannt. Der Herr stellte jedoch seinen Zustand voll heraus. „Die Gebote weißt du“, sagte Er, indem Er ausdrücklich nur die Pflichten hervorhob, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen betrafen. „Er aber antwortete und sprach zu ihm: Lehrer, dieses alles habe ich beobachtet von meiner Jugend an“ (V. 20). Der Herr wies seine Aussage nicht zurück; Er fragte nicht, inwieweit er die zweite Tafel des Gesetzes wirklich erfüllt hatte. Im Gegenteil, es wird hinzugefügt: „Jesus aber blickte ihn an, liebte ihn“ (V. 21). Viele finden in dieser Aussage des Geistes Gottes eine ernste Schwierigkeit. Ich halte sie dennoch für äußerst belehrend und schön. Sie bedeutet nicht, dass der Mann bekehrt war, denn er war es offensichtlich nicht. Er kannte auch nicht die Wahrheit, denn die Schwierigkeit entstand ja gerade dadurch, dass sie ihm völlig fremd war. Der Mann folgte auch nicht Jesus nach; denn, im Gegenteil, es wird uns gesagt, dass er von Jesus weg ging. Auch wurde sein Herz nicht glücklich in der Gnade Gottes; denn in Wirklichkeit wandte er sich traurig ab. Es war also genug Grund vorhanden, ihn mit Kummer und Angst anzusehen, soweit man ihn nach ewigen Gesichtspunkten beurteilte. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, dass Jesus ihn anblickte und liebte.

Liegt darin nicht etwas, das dem allgemein gepflegten Protestantismus widerspricht? Ohne Zweifel ist es für uns eine wichtige Lektion. Der Herr Jesus besaß die volle Erkenntnis über Gott und seine Gnade; der unendliche Wert des ewigen Lebens stand vor seinem Geist. Darum war Er frei genug, Gewissenhaftigkeit zu schätzen und das, was im Menschen als solchen liebenswert war, zu lieben. Er stand über allem, was dem menschlichen Urteil verwehrt, Charakter und Verhalten im normalen Leben zu würdigen. Anstatt dass die Gnade solche Gefühle abschwächt, stärkt sie, wie ich überzeugt bin, diese sogar. Zweifellos erscheint dieser Gedanke vielen seltsam. Aber sie selbst sind ein Beweis von den einschränkenden Vorurteilen. Mögen sie doch selbst untersuchen und urteilen, ob die Schrift nicht das aussagt, was ich ihr hier entnehme. Und es muss auch beachtet werden, dass wir diese ausdrückliche Erklärung in dem Evangelium finden, welches Christus als den wahren Diener offenbart. Es zeigt uns also, wie wir weise dienen können, wenn wir Ihm nachfolgen. Nirgendwo sonst stellt unser Herr diese Wahrheit so klar heraus. Dieselbe Wahrheit wird uns im Wesentlichen auch von Matthäus und Lukas geschildert. Aber nur Markus sagt uns, dass Er den jungen Mann liebte. Auch verlieren Matthäus und Lukas kein Wort darüber, warum der Herr den jungen Mann liebte. Allein Markus schreibt, dass Jesus ihn  anblickte und liebte. Das ist natürlich der wichtigste Punkt. Der Herr schätzte das hoch, was natürlicherweise liebenswert in einem Menschen war, den die Vorsehung vor dem Bösen dieser Welt bewahrt hatte und der sich eifrig im Gesetz Gottes übte, in welchem er bisher tadellos gewandelt hatte. Außerdem wollte er von Jesus lernen – jedoch ohne gottgemäße Überzeugung von seinem sündigen, verlorenen Zustand. Der Herr handelte keineswegs mit der Engherzigkeit und Grobheit, die wir häufig verraten. Ach, wir sind tatsächlich arme Knechte seiner Gnade! Er kannte und fühlte weit mehr als wir den Zustand und die Gefahr des jungen Mannes. Trotzdem gibt es viel für uns zu überdenken, wenn wir lesen: „Jesus aber blickte ihn an, liebte ihn.“

Des Weiteren sagte Er zu ihm: „Eines fehlt dir.“  Doch was war dieses Eine! „Eines fehlt dir.“  Der Herr stellte nichts in Abrede, was Er in irgendeiner Weise oder aus irgendwelchen Gründen loben konnte. Er erkannte alles an, was natürlicherweise gut war. Wer darf zum Beispiel ein gehorsames Kind oder ein wohltätiges und gewissenhaftes Leben tadeln? Muss ich darum alle diese Eigenschaften der göttlichen Gnade zuschreiben oder leugnen, dass man der Gnade bedarf? Nein! Diese Eigenschaften erkenne ich als Tugenden an, die zum Menschen dieser Welt gehören und an ihrem Platz gewürdigt werden sollten. Wer sagt, dass sie überhaupt keinen Wert haben, missachtet nach meiner Meinung offensichtlich die Weisheit des Herrn Jesus Christus. Wer andererseits diese Eigenschaften oder etwas dieser Art zu Mitteln macht, um das ewige Leben zu erlangen, weiß offensichtlich nichts von dem, was er wissen sollte. So erfordert also dieser Gegenstand zweifellos viel Zartgefühl – aber nur für das, was bei Jesus und im gesegneten Wort Gottes wahre Anerkennung findet, und für sonst nichts. Unser Herr sagte deshalb: „Eines fehlt dir; gehe hin, verkaufe, was irgend du hast, und gib es den Armen“ (V. 21). Ist das nicht, was Jesus getan hat, wenn auch in einer unendlich erhabeneren Weise? Sicherlich hat Er alles aufgegeben, damit Gott in der Errettung verlorener Menschen verherrlicht werde. Doch wenn Er sich seiner Herrlichkeit entäußerte – wie unendlich waren die Ergebnisse jener Erniedrigung bis zum Tod!

Der junge Mann wollte etwas von Jesus lernen. War er jedoch bereit, selbst dem  irdischen Pfad des Gekreuzigten zu folgen, oder wollte er nur, dass bei ihm das, was fehlte, ergänzt wurde? Wollte er ein Zeuge göttlicher Selbstverleugnung in Gnade an die Elenden sein und die Schätze auf der Erde verschenken, um sich mit den Schätzen im Himmel zufriedenzugeben? Wäre das sein Tun gewesen, dann hätte Christus jedenfalls noch mehr fordern müssen. Aber sogar hier schon fügte Er hinzu: „Und komm', folge mir nach, das Kreuz aufnehmend.“  Der Herr griff, wie wir sehen, dem Licht Gottes nicht vor. Er nahm nicht das vorweg, was bald danach herausgestellt werden sollte. Wir finden keine vorzeitige Ankündigung des erstaunlichen Wechsels, welchen das Evangelium zur angemessenen Zeit verkündigen sollte. Allerdings wurde das Herz vollständig geprüft. Der Mensch in seinem besten Zustand erwies sich leichter als Nichts im Vergleich zu dem, der allein gut ist. Und das zeigte sich in Christus, dem allein angemessenen Bild und Ausdruck dessen, der gut ist. Und dennoch konnte Er, der auf diese Weise – ohne von der unergründlichen Tiefe  seines Kreuzes zu sprechen – den Menschen weit hinter sich ließ, auf diesen jungen Mann mit Liebe blicken, obwohl Er dessen Zukurzkommen kannte. Aber was immer der junge Mann auch war – es konnte ihn nicht im Geringsten aus der Welt herausnehmen. Sein Herz lebte in dem Erschaffenen, ja, selbst in dem ungerechten Mammon. Er liebte seinen Besitz, das heißt sich selbst. Der Herr beschäftigte sich daher in seiner prüfenden Aufforderung mit der Wurzel des Übels; und das Ergebnis war entsprechend. So wird gesagt: „Er aber ging, betrübt über das Wort, traurig hinweg, denn er hatte viele Güter“ (V. 22).

Mir scheint, dass die Handlungsweise unseres Herrn ein vollkommenes Muster für uns darstellt; und das besteht zunächst darin, dass Er nicht über das diskutierte, was noch nicht durch Gott offenbart war. Er sprach nicht von seinem Blutvergießen, seinem Tod und seiner Auferstehung. Sie waren noch nicht geschehen und folglich völlig unverständlich. Selbst unter den Jüngern wusste niemand wirklich etwas davon, obwohl der Herr verschiedentlich mit den Zwölfen darüber gesprochen hatte. Wie hätte also dieser Mann etwas verstehen können? Unser Herr handelte in einer Weise, die von grundlegender Wichtigkeit ist. Er wandte sich an das Gewissen des Mannes. Er breitete vor ihm den moralischen Wert dessen aus, was Er selbst getan hatte, indem Er alles, was Er hatte, aufgab. Das war das Letzte, was der junge Mann zu tun gedachte. Er wäre gern ein Wohltäter gewesen, ein großzügiger Gönner. Er war jedoch nicht darauf vorbereitet,  alles aufzugeben und Christus in Schande und Verachtung zu folgen. Also wurde der Mann auf seinem eigenen Standpunkt mit der vollen Überzeugung zurückgelassen, dass er das Gute, welches ihm von dem guten Lehrer, an den er sich gewandt hatte, vorgestellt wurde, nicht erfüllen konnte. Was der Herr vielleicht später für den jungen Mann getan hat, kann nur Er selbst mitteilen. Da es im Wort Gottes nicht offenbart ist, sollen wir es nicht wissen. Und es wäre vergeblich und falsch, wenn wir Vermutungen anstellten. Was Gott uns hier zeigt, besteht darin: Egal, wie weit man moralisch dem Gesetz folgt, selbst in einem sehr bemerkenswerten Fall äußerer Reinheit und offensichtlicher Unterordnung unter die Forderungen Gottes, so kann all dieses die Seele nicht erlösen. Es kann einen Menschen nicht glücklich machen, sondern lässt ihn vollständig im Elend und fern von Christus zurück. Das ist die sittliche Belehrung aus dem Bericht von dem reichen jungen Obersten; und es ist eine sehr wichtige Belehrung!

Als Nächstes wandte unser Herr denselben Grundsatz auf die Jünger an; denn der äußere Teil der Frage war jetzt abgeschlossen. Wir haben die menschliche Natur in ihrem besten Zustand gesehen, die in einem gewissen Sinn sogar Christus suchte. Und was war das Ergebnis? Der junge Mann wurde letzten Endes unglücklich und verließ Jesus, der jetzt auf die Jünger in ihrer äußersten Bestürzung blickte. Er weitete seine Gedanken darüber, wie sehr der Reichtum in göttlichen Dingen ein Hindernis ist, noch aus. Ach, sie hatten gedacht, dieser sei ein Beweis des Segens Gottes. Und falls  sie nur reich wären – wie viel Gutes hätten sie dann getan! „Wie schwerlich“, sagte Christus, „werden die, welche Güter haben, in das Reich Gottes eingehen!“ (V. 23). Die Jünger waren schon sehr erstaunt; aber Er fuhr fort: „Kinder, wie schwer ist es, dass die, welche auf Güter vertrauen, in das Reich Gottes eingehen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch das Öhr der Nadel gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingehe“ (V. 24–25). Der Herr bestand nur umso mehr auf dieser Wahrheit, die sogar von den Jüngern so wenig verstanden wurde. Sie waren über die Maßen erstaunt und sagten zueinander: „Wer kann dann errettet werden?“ (V. 26). Diese Frage gab dem Herrn die Gelegenheit, die Grundlage des ganzen Problems zu erklären. Die Errettung ist eine Angelegenheit Gottes und in keinster Weise des Menschen. Gesetz, Natur, Reichtum, Armut – nichts, was der Mensch liebt oder fürchtet – hat im Geringsten mit der Errettung der Seele zu tun. Diese beruht allein auf der Macht der Gnade Gottes und auf nichts anderem. Das dem Menschen Unmögliche ist bei Gott möglich. Deswegen dreht sich alles um seine Gnade. Die Errettung ist von dem Herrn. Gepriesen sei sein Name! Bei Gott sind alle Dinge möglich. Wenn es nicht so wäre – wie könnten wir, wie könnte irgendjemand errettet werden?

Petrus rühmte sich dann ein wenig dessen, was die Jünger aufgegeben hatten. Daraufhin sagte der Herr ein schönes Wort, das wir nur im Markusevangelium finden. „Da ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker verlassen hat um meinet- und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfältig empfange“ (V. 29–30). Beachte, dass nur Markus sagt: „Um des Evangeliums willen“! Der Dienst wird besonders herausgestellt. An mehreren Stellen lesen wir: „Um meinetwillen“ (z. B. Mt 5, 11; 10, 18  u. a.). Hier erfahren wir jedoch: „Um meinet- und um des Evangeliums willen“.  Auf diese Weise wird der persönliche Wert Christi sozusagen fest mit dem Dienst für Christus in dieser Welt verbunden. Wer immer sich so hingibt, wird, wie Er sagt, hundertfältig empfangen „jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker  mit Verfolgungen, und in dem kommenden Zeitalter ewiges Leben.“  Das ist eine wunderbare Zusammenstellung. Aber sie ist wahr; denn sie ist das Wort des Herrn; und der Glaube rechnet damit.

Alles, was Christus besitzt, gehört auch uns, sofern wir an Ihn glauben. Ein solcher Besitz genügt allerdings einem habsüchtigen Herzen nicht. Dem Glauben hingegen vermittelt dieser Trost eine tiefe und reichhaltige Freude, indem wir wissen, dass alles, was der Versammlung Gottes auf der Erde gehört, auch jedem Heiligen Gottes auf der Erde zuteil geworden ist. Wir benötigen daher nichts, um unser Ich auszuzeichnen. Der Glaube sucht nicht das Seinige, sondern erfreut sich an dem, was unter die Gläubigen ausgeteilt ist. Der Unglaube nennt nur das sein eigen, was er in selbstsüchtiger Weise nutzen kann. Falls aber, im Gegenteil, der Grundsatz der Liebe mich beseelt – wie groß ist dann der Unterschied! Aber die Segnung steht nicht allein; sie ist begleitet von Verfolgungen. Wenn ich treu bin, dann werde ich sie in irgendeiner Weise erfahren. Wer gottselig leben will, kann ihnen nicht entgehen. Soll ich diese nur deshalb haben, weil alle sie haben? Es ist doch besser, wenn ich sie erfahre, indem  ich Christus unmittelbar nachfolge. Was könnte in seinem Krieg eine ehrenhaftere Auszeichnung sein? Aber diese Auszeichnung wird insbesondere im Dienst Christi gefunden. Auch hier erkennen wir wieder, dass der Charakter des Markusevangeliums überall gewahrt bleibt. Wie im Matthäusevangelium werden die ernsten Worte hinzugefügt: „Aber viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (V. 31). Nicht der Anfang des Wettlaufs entscheidet den Kampf. Ausschlaggebend ist natürlich das Ende. In diesem Wettlauf gibt es viele Veränderungen und obendrein nicht wenige Ausrutscher, Stürze und Rückschläge.

Der Herr ging dann weiter nach Jerusalem – zu jenem verhängnisvollen Ort für den wahren Propheten. Die Männer irrten sich, als sie sagten, dass niemals ein Prophet in Galiläa aufgetreten sei (Joh 7, 52); denn Gott ließ sich selbst dort nicht unbezeugt (vgl. 2. Kön 14, 25). Der Herr hatte jedoch unbedingt recht, wenn Er sagte, dass ein Prophet nicht außerhalb Jerusalems umkomme (Lk 13, 33). Die religiöse Hauptstadt war genau der Ort, wo die wahren Zeugen der Gnade Gottes sterben mussten. Daher verstanden die Jünger Jesu sehr gut, was drohte, als Er nach Jerusalem hinaufging; und so folgten sie Ihm voll Entsetzen. Sie waren wenig auf jenen Weg der Verfolgung vorbereitet, dessen sie sich an einem späteren Tag rühmen konnten und für den sie zweifellos durch den Heiligen Geist gestärkt wurden. Jetzt war es noch nicht so weit. „Jesus ging vor ihnen her; und sie entsetzten sich und, indem sie nachfolgten, fürchteten sie sich. Und er nahm wiederum die Zwölfe zu sich und fing an, ihnen zu sagen, was ihm widerfahren sollte: Siehe, wir gehen hinauf.“  Wie gnädig! Er sagte nicht: „Ich gehe hinauf“, sondern: „Wir gehen hinauf.“ „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Nationen überliefern“ (V. 32–33). Danach wird die Verfolgung bis zum Tod – und was für einen Tod! – vollständig vor uns ausgebreitet. Jakobus und Johannes zeigten zu diesem kritischen Zeitpunkt, wie wenig das Fleisch sogar bei den Knechten Gottes in des Herrn Gedanken eindringen kann. „Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3, 6), gleichgültig in wem. Wieder waren es keine unbedeutenden Jünger, sondern solche, die etwas zu sein schienen, in welchen sich die Hässlichkeit des Fleisches besonders verriet, und darum sollen sie uns zur Belehrung dienen. „Lehrer, wir wollen, dass du uns tuest, um was irgend wir dich bitten werden“ (V. 35). In einem anderen Evangelium tritt ihre Mutter auf, und zwar in dem Evangelium (Mt 20, 20), wo wir eine solche Verwandtschaftsbeziehung nach dem Fleisch insbesondere erwarten würden. Aber, ach, hier waren es die Knechte selbst, die es eigentlich besser hätten wissen müssen! Bis jetzt wurden ihre Augen noch gehalten. Sie wollten ihre Stellung als Knechte nutzen, um sogar im Reich Gottes Gewinn für das Fleisch zu erlangen. Sie suchten ihr Fleisch durch den Gedanken daran, was sie dereinst sein würden, zu befriedigen. Der Herr stellte die Gedanken ihrer Herzen heraus und antwortete ihnen mit einer Ihm angemessenen Würde. „Ihr wisset nicht“, sagte Er, „um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde? Sie aber sprachen zu ihm: Wir können es. Jesus aber sprach zu ihnen: Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, werdet ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten oder Linken steht nicht bei mir zu vergeben, sondern ist für die, welchen es bereitet ist“ (V. 38–40). Er war der Knecht. Selbst im Blick auf die Zeit der Herrlichkeit bewahrte Er diesen Charakter. Ein erhabener Platz im Königreich ist nur für die, „welchen es bereitet ist.“

Doch nicht nur diese beiden Jünger verrieten sich. Auch die übrigen zehn machten die Geheimnisse ihrer Herzen ausreichend offenbar. Das Fleisch wird nicht nur in den Fehlern des einen oder anderen sichtbar, sondern auch in unserem Verhalten angesichts der offenbaren Fehler anderer. Die Entrüstung, in welche die Zehn ausbrachen, zeigte genauso den Stolz der Herzen wie bei den beiden, welche die besten Plätze wünschten. Hätte in ihren Herzen selbstlose Liebe gewirkt, dann wäre der Ehrgeiz der zwei für die übrigen ein Anlass zu Kummer und Beschämung geworden. Ich sage nicht, dass es ihnen an Treue mangelte, die Selbstsucht der anderen zurückzuweisen. Aber ich sage doch, dass ihre Entrüstung bewies, wie sehr das Ich und nicht Christus in ihren Herzen wirkte. Unser Herr tadelte deshalb alle und zeigte ihnen, dass ein Geist wie bei den Nationen sie gegen die Söhne des Zebedäus erfüllte. Das war genau das Gegenteil von dem, was Er in ihnen erwarten konnte; außerdem widersprach es völlig dem, was in  Ihm zu finden war. Haben wir Verständnis über das Reich, dann sind wir zufrieden damit, jetzt gering zu sein. Die wahre Größe eines Jüngers liegt in der Kraft, sittlich Christus zu dienen, indem er bis zum Äußersten im Dienst für andere hinabsteigt. Nicht die Energie im Dienst sichert jetzt diese Größe in der Wertung des Herrn, sondern die Zufriedenheit damit, ein Diener, ja, ein Sklave am niedrigsten oder letzten Platz zu sein. Christus selbst kam nicht nur, um zu dienen oder als ein Knecht zu wirken, sondern Er besaß auch allein jenes Recht und die Liebe, sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.

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