Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 3

Einführende Vorträge zum Matthäusevangelium

Wir kommen jetzt zu der Botschaft Johannes des Täufers. Der Geist Gottes überspringt mit uns eine lange Zeit, und wir hören die Stimme Johannes' in seiner Predigt. „Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe gekommen“ (V. 2). Wir finden hier einen Begriff, den wir nicht übergehen dürfen, weil er von so großer Bedeutung für das Verständnis des Matthäusevangeliums ist. Johannes der Täufer predigte in der Wüste von Juda die Nähe dieses Königreiches. Es konnte eindeutig aus der Prophetie des Alten Testamentes, insbesondere derjenigen Daniels, entnommen werden, dass der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten würde. Und dieses Königreich sollte vom Sohn des Menschen verwaltet werden. „Und ihm wurde Herrschaft und Herrlichkeit und Königtum gegeben, und alle Völker, Völkerschaften und Sprachen dienten ihm; seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergehen wird, und sein Königtum ein solches, das nie zerstört werden wird“ (Dan 7,14). Das war also das Reich der Himmel. Es war nicht bloß ein Königreich auf der Erde; es bestand auch nicht im Himmel; es war der Himmel, wie er für immer über die Erde herrscht.

Es scheint so, dass zur damaligen Zeit weder Johannes, obwohl er es predigte, noch irgendjemand sonst wusste, welche Form das Reich durch die Verwerfung Christi und seine Himmelfahrt annehmen sollte. In dieses Verständnis wurden die Gläubigen erst später eingeführt. Unser Herr selbst stellt es erstmals in Matthäus 13 besonders heraus. Ich verstehe also unter diesem Ausdruck seitens Johannes das, was man richtigerweise aus den alttestamentlichen Prophezeiungen entnehmen konnte. Und Johannes hatte zur damaligen Zeit keine andere Vorstellung, als dass das Reich entsprechend den so entstandenen Erwartungen eingeführt würde. Gläubige Israeliten hatten schon lange danach ausgeschaut, dass die Erde nicht mehr sich selbst überlassen bliebe, sondern durch den Himmel regiert würde. Sie erwarteten, dass der Sohn des Menschen die Erde beherrschen und die Macht der Hölle aus ihr verbannen würde. Dann sollte die Erde mit den Himmeln in Verbindung stehen. Die Himmel müssten dann natürlich so verändert sein, dass sie die Erde direkt durch den Sohn des Menschen, der außerdem der König des wiederhergestellten Israels ist, regieren können. Ich denke, dass dies im Wesentlichen die Ansicht des Täufers war.

Doch er predigte Buße als geistliche Vorbereitung auf den Messias und das Reich der Himmel, und nicht, wie im Lukasevangelium, in Hinsicht auf tiefere Dinge. Das heißt, er rief die Menschen auf, ihren eigenen Ruin im Blick auf die Einführung jenes Reiches zu bekennen. Folglich war sein eigenes Leben das Zeugnis davon, was er moralisch in Bezug auf den damaligen Zustand Israels empfand. Er zieht sich in die Wüste zurück und wendet auf sich die alte Weissagung Jesajas an: „Stimme eines Rufenden in der Wüste“ (V. 3). Jetzt kam die Wirklichkeit; aber er sollte nur das Kommen des Königs ankündigen. Ganz Jerusalem kam in Bewegung; und Volksmassen wurden von ihm im Jordan getauft. Das gab ihm Gelegenheit, ein ernstes Urteil über ihren Zustand vor Gott auszusprechen.

In der Mitte der Volksmenge, die zu ihm kam, war jedoch Jesus. Welch ein Anblick! Sogar Er, Emmanuel, Jahwe, nahm als Messias jenen Platz der Erniedrigung auf der Erde ein; denn alle Dinge waren aus dem Kurs geraten. Und Er musste durch sein ganzes Leben, wie wir so nach und nach sehen werden, aufzeigen, wie der Zustand seines Volkes war. Tatsächlich ist es nur ein weiterer Schritt der gleichen unendlichen Gnade und, darüber hinaus, des gleichen sittlichen Gerichts über Israel. Aber gleichzeitig wird ein sehr lieblicher Zug hinzugefügt: Er verband sich mit allen in Israel, die ihren Zustand in den Augen Gottes fühlten und anerkannten. Darüber sollte kein Gläubiger leichtfertig hinweggehen. Wenn ein Gläubiger dieses nicht richtig erkennt, dann versteht er die Schrift nur unvollkommen. Ja, ich glaube sogar, er muss notwendigerweise die Wege Gottes schmerzlich missverstehen. Doch Jesus blickte auf die, welche zu den Wassern des Jordan kamen, und sah, dass ihre Herzen, wenn auch noch so wenig, von einem Gefühl ihres Zustands vor Gott getroffen waren. Und sein Herz war wahrhaftig bei ihnen. Es ging jetzt noch nicht darum, ein Volk aus Israel herauszunehmen und mit sich in Verbindung zu bringen. Das werden wir später finden. Aber Er war der Heiland, der sich mit dem Überrest, der gottgemäß empfand, eins machte. Wo immer es die geringste Wirkung des Heiligen Geistes Gottes in Gnade in den Herzen Israels gab, damit verband Er sich. Johannes erstaunte. Johannes der Täufer wollte Ihn zurückweisen. „Denn“, sagte der Heiland, „so gebührt es uns“, indem Er, wie ich annehme, den Johannes miteinbezog. „Denn so gebührt es  uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (V. 15).

Es geht hier nicht mehr um das Gesetz, dazu war es zu spät. Außerdem ist das Gesetz für einen Sünder immer verderblich. Es geht um eine andere Art von Gerechtigkeit. Wo auch nur im Geringsten die Wahrheit über Gott und den Menschen gesehen wurde – und sei es auch nur ein Überrest unter  den  Israeliten,  die  letztlich  die Wahrheit über sich anerkannten –war Jesus bei ihnen in dem Bekenntnis ihres Ruins, den Er vollkommen fühlte. Er selbst hatte jenes Bekenntnis nicht nötig – nicht im Geringsten! Doch wenn das Herz völlig frei ist und unendlich über dem Ruin steht, dann kann es am tiefsten hinabsteigen und aus dem Herzen eines jeden das annehmen, was von Gott ist. Jesus handelte immer so, und zwar öffentlich, indem Er sich mit dem verband, was auf der Erde herrlich war (Ps 16,3). Er wurde im Jordan getauft – eine unverständliche Handlung für alle, welche damals wie heute an seiner Herrlichkeit festhalten, aber sein Herz der Gnade nicht verstehen. Was für peinliche Gefühle mochten da aufgestiegen sein! Hatte Er etwas zu bekennen? Ohne einen einzigen Makel in sich selbst, beugte Er sich hinab, um das zu bekennen, was in den anderen war. Er anerkannte wie niemand sonst in all seinen Ausmaßen und in voller Wirklichkeit den Zustand Israels vor Gott und Menschen. Er vereinigte sich mit denen, die ihn fühlten. Sofort, als Antwort auf jedes  unheilige  Missverständnis,  das  vielleicht entstehen konnte, öffnete sich der Himmel; und über Jesus wurde ein zweifaches Zeugnis abgelegt. Die Stimme des Vaters verkündete das Verhältnis des Sohnes zu Ihm und sein Wohlgefallen, während der Heilige Geist Ihn als einen Menschen salbte. So gab Gott in seiner vollen Persönlichkeit eine Antwort an alle jene, die sonst den Sohn oder seine Taufe geringschätzig behandelt hätten.

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