Betrachtung über Johannes (Synopsis)

Kapitel 10

Betrachtung über Johannes (Synopsis)

In diesem Kapitel stellt der Herr Sich in Gegensatz zu allen denen, die sich als Hirten Israels ausgaben oder ausgegeben hatten. Er entwickelt folgende drei Punkte: Er geht durch die Tür ein, Er ist die Tür, und Er ist der Hirte der Schafe, der gute Hirt.

Er geht durch die Tür ein, d. h. Er unterwirft Sich allen Bedingungen, die durch Den festgestellt waren, der das Haus gebaut hatte. Christus entspricht allem, was von dem Messias geschrieben steht. Mithin gibt ihm Der, welcher über die Schafe wacht, Jehova, der in Israel durch Seinen Geist wirkt und alle Dinge leitet, Zugang zu den Schafen, trotz der Pharisäer und der Priester und so vieler anderer. Die Auserwählten in Israel hören Seine Stimme. Weil aber Israel unter der Verdammnis war, führt Jesus die Schafe aus; allein Er geht vor ihnen her. Er verlässt jenen alten Schafhof, ohne Zweifel unter Schmach, aber Er geht im Gehorsam und der Macht Gottes gemäß vor Seinen Schafen her; und dies gab jedem, der an Ihn glaubte, Gewissheit, dass es der rechte Weg war, und eine Bürgschaft, dass Er sie bei ihrer Nachfolge, was auch kommen mochte, vor der Gefahr schützen und ihnen den Weg zeigen würde. Die Schafe folgen Ihm, denn sie kennen Seine Stimme. Freilich gibt es viele andere Stimmen, aber die Schafe kennen sie nicht. Ihre Sicherheit besteht nicht darin, alle Stimmen zu kennen, sondern zu wissen, dass jene nicht die eine Stimme sind, die für sie das Leben bedeutet – die Stimme Jesu. Alle anderen Stimmen sind Stimmen von Fremden.

Er ist die Tür der Schafe. Er ist ihre Autorität zum Ausgehen und das Mittel für sie zum Eingang. Indem sie eingehen, sind sie gerettet, und sie gehen ein und aus. Sie stehen nicht mehr unter dem Joch der Verordnungen, die, indem sie die Schafe vor denen, die draußen sind, schützen, sie selbst in Banden legen. Die Schafe Christi sind frei; ihre Sicherheit besteht in der persönlichen Sorge des Hirten; und in dieser Freiheit weiden sie auf den guten und fetten Auen, die Seine Liebe ihnen bereitet. Es ist, mit einem Wort, nicht mehr das Judentum: es ist Errettung, Freiheit und Weide. Der Dieb kommt und will Nutzen aus den Schafen ziehen, indem er sie tötet. Christus ist gekommen, damit sie Leben haben, und zwar in Überfluss, d. h. nach der Macht dieses Lebens in Jesu, dem Sohne Gottes, der bald den Sieg über den Tod davontragen sollte.

Indem Er so der wahre Hirt Israels, wenigstens des Überrestes der Schafe war, sowie die Tür, die sie ermächtigte, den jüdischen Hof zu verlassen und die ihnen zu den Vorrechten Gottes Zutritt verschaffte, indem Er ihnen Leben gab nach dem Überfluss, in dem Er es mitteilen konnte, stand Er auch in spezieller Verbindung mit den also abgesonderten Schafen; Er war der gute Hirt, der Sein Leben für die Schafe gab. Andere würden an sich selbst denken; Er dachte nur an Seine Schafe. Er kennt sie, und sie kannten Ihn, gleichwie der Vater Ihn kannte und Er den Vater. Welch ein kostbarer Grundsatz! Sie hätten wohl ein irdisches Kennen und ein irdisches Interesse für die Schafe von Seiten des Messias auf der Erde verstehen können; aber der Sohn, wiewohl Er Sein Leben gelassen hat und im Himmel ist, kennt Seine eigenen Schafe, gleichwie der Vater Ihn kannte, als Er hienieden war.

Er gab also Sein Leben für die Schafe; und Er hatte noch andere Schafe, die nicht aus diesem Hofe waren, und Sein Tod trat zur Errettung dieser armen Heiden ins Mittel; auch sie wollte Er herzurufen. Ohne Zweifel hat Er Sein Leben auch für die Juden gegeben, für alle Schafe im Allgemeinen als solche (V. 11); aber erst nachdem Er von Seinem Tod gesprochen hat, redet Er in bestimmter Weise von den Heiden. Auch diese wollte Er herzubringen, und es sollte nur eine Herde 1 und ein Hirte sein.

Diese Lehre nun enthält die Verwerfung Israels, und die Berufung der Auserwählten unter diesem Volk stellt den Tod Jesu dar als die Wirkung Seiner Liebe für die Seinigen; sie redet von Seiner göttlichen Kenntnis hinsichtlich Seiner Schafe, wenn Er von ihnen abwesend sein wird, sowie von der Berufung der Heiden. Die Wichtigkeit einer solchen Unterweisung in jenem Augenblick ist einleuchtend; und diese Wichtigkeit hat sich, Gott sei Dank! im Laufe der Zeit nicht verloren, noch beschränkt sie sich auf die Tatsache eines Wechsels der Haushaltung. Sie führt uns in die vollen Wirklichkeiten der Gnade ein, die an die Person Christi geknüpft sind. Doch der Tod Christi war mehr als nur Liebe für Seine Schafe; er hatte einen besonderen inneren Wert in den Augen des Vaters. „Darum liebt mich der Vater“, sagt der Herr, „weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wiedernehme“ (V. 17). Er sagt nicht: „Weil ich mein Leben lasse für meine Schafe;“ die Sache selbst ist es, die dem Vater so wohlgefällig ist. Wir lieben, weil Gott zuerst geliebt hat; aber Jesus, der göttliche Sohn, kann der Liebe des Vaters Beweggründe darbieten. Indem Er Sein Leben ließ, verherrlichte Er den Vater. Der Tod wurde als die gerechte Strafe für die Sünde anerkannt (zugleich auch überwunden), und als Frucht der Erlösung wurde das ewige Leben, Leben von Gott, eingeführt. Zugleich werden hier die Rechte der Person Christi vorgestellt. Niemand nimmt Sein Leben von Ihm; Er lässt es von Sich Selbst. Er hatte diese Macht (die kein anderer besaß als Er allein, der das göttliche Recht hatte), es zu lassen und es wiederzunehmen. Nichtsdestoweniger verließ Er auch in dieser Beziehung den Weg des Gehorsams nicht. Er hatte dieses Gebot von Seinem Vater empfangen (V. 18). Wer aber wäre fähig gewesen es zu erfüllen, außer Ihm, der da sagen konnte: „Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten?“ 2

Die Juden streiten sich über das, was Er eben gesagt hat. Etliche unter ihnen sahen in Ihm nur einen unsinnigen Menschen und beschimpften Ihn, während andere, ergriffen durch die Macht des Wunders, das Er getan hatte, fühlten, dass Seine Worte einen anderen Charakter als den des Wahnsinns hatten. Bei diesen letzteren war bis zu einem gewissen Punkte das Gewissen getroffen. Die Juden umringten Jesum und fragen Ihn, wie lange Er sie noch hinhalten wolle (V. 24). Er antwortet ihnen, dass Er ihnen schon gesagt habe, wer Er sei, und dass Seine Werke Zeugnis von Ihm gäben. Er beruft Sich auf die beiden Zeugnisse, die wir in den vorhergehenden Kapiteln 8 u. 9 erwähnt fanden, nämlich auf Sein Wort und auf Seine Werke; aber Er fügt hinzu, dass sie nicht von Seinen Schafen seien. Dann nimmt Er, ohne ihre Vorurteile zu beachten, Anlass, einige köstliche Wahrheiten hinsichtlich Seiner Schafe hinzuzufügen (V. 27+28). Sie hören Seine Stimme; sie kennen Ihn; sie folgen Ihm; Er gibt ihnen ewiges Leben; sie gehen nicht verloren ewiglich. Einerseits wird das Leben in ihnen nicht zu Grunde gehen; andererseits wird niemand sie aus der Hand des Heilandes rauben, keine Kraft von außen wird die Macht Dessen überwältigen, der sie bewahrt.

Der Herr in Seiner Liebe offenbart uns jedoch noch eine andere, überaus kostbare Wahrheit. Der Vater hat uns Jesu gegeben; und Er ist größer als alle, die uns aus Seiner Hand zu rauben suchen mögen. Und Jesus und der Vater sind eins. Kostbare Unterweisung! In ihr wird die Herrlichkeit der Person des Sohnes Gottes einsgemacht mit der Sicherheit Seiner Schafe, mit der Höhe und Tiefe der Liebe, deren Gegenstände sie sind. Hier finden wir nicht, wie in Kapitel 8, ein Zeugnis, das, als durchaus göttlich, uns zeigt, was der Mensch ist, sondern wir sehen das Werk und die wirksame Liebe des Sohnes, und zu gleicher Zeit diejenige des Vaters. Hier heißt es nicht: „Ich bin“, sondern: „Ich und der Vater sind eins“ (V. 30). Wenn der Sohn das Werk vollendet hat und Sorge trägt für die Schafe, so ist es der Vater, der sie Ihm gegeben hat. Christus mag ein göttliches Werk vollbringen und der Liebe des Vaters Beweggründe darbieten, aber es war der Vater, der es Ihn tun hieß. Ihre Liebe zu den Schafen ist eins, gleichwie die Träger dieser Liebe eins sind.

Kapitel 8 ist also die Offenbarung Gottes im Zeugnis und als Licht, während die Kapitel Joh 9 – 10 die Offenbarung der wirksamen Gnade enthalten, die die Schafe unter die Sorge des Sohnes und der Liebe des Vaters bringt 3. Beachten wir auch, dass der Wolf kommen und die Schafe rauben kann, wenn Mietlinge da sind; aber aus des Heilands Händen kann er sie nicht rauben.

Am Ende des Kapitels sehen wir die Juden Steine aufheben, um Jesum zu steinigen, weil Er Sich Selbst Gott gleich machte; aber der Herr sucht ihnen nicht die Wahrheit von dem, was Er ist, zu beweisen, sondern zeigt ihnen, nach ihren eigenen Grundsätzen und dem Zeugnisse der Schriften, dass sie in diesem Falle Unrecht hatten. Von neuem beruft Er Sich auf Seine eigenen Worte und Werke, die bewiesen, dass Er in dem Vater und der Vater in Ihm war. Als sie aber wiederum Steine aufheben, verlässt Er sie endgültig. Es war um Israel ganz und gar geschehen.

Fußnoten

  • 1 Nicht „ein Hof“. Es gibt jetzt keinen Hof.
  • 2 Liebe und Gehorsam sind die leitenden Grundsätze des göttlichen Lebens. Dies wird in Bezug auf uns in der ersten Epistel des Johannes entwickelt. Ein anderes Merkmal des göttlichen Lebens in dem Geschöpf ist die Abhängigkeit, und diese war in Jesu als Mensch völlig geoffenbart.
  • 3 Johannes spricht, wie schon wiederholt bemerkt, von Gott, wenn er von einer heiligen Natur und von der Verantwortlichkeit des Menschen redet; von dem Vater und dem Sohne, wenn er von Gnade redet.
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