Betrachtung über Johannes (Synopsis)

Kapitel 4

Betrachtung über Johannes (Synopsis)

Durch die Eifersucht der Juden vertrieben, beginnt Jesus jetzt Seinen Dienst außerhalb dieses Volkes wiewohl Er dessen wirkliche Stellung in den Wegen Gottes noch anerkennt. Er geht nach Galiläa, und Sein Weg führt Ihn durch Samaria, wo ein gemischtes Geschlecht von Fremden und Israeliten wohnte – ein Geschlecht, das den Götzendienst der Fremden zwar verlassen hatte, das aber, indem es das Gesetz Moses befolgte und sich nach dem Namen Jakobs nannte, einen eigenen Gottesdienst auf dem Berge Gerisim eingerichtet hatte. Jesus geht nicht in die Stadt hinein. Ermüdet von der Reise, setzt Er Sich an dem Brunnen Jakobs nieder; denn Er musste notwendig jenes Weges vorbeigehen. Allein diese Notwendigkeit wird zu einem Anlass, dass die göttliche Gnade in Tätigkeit tritt, deren Fülle in Seiner Person war und die die engen Schranken des Judentums überschritt.

Bevor wir auf den Inhalt unseres Kapitels näher eingehen, sind noch einige Einzelheiten zu berühren. Jesus taufte nicht Selbst, denn Er kannte den ganzen Umfang der Ratschlüsse Gottes in Gnade, den wahren Zweck Seines Kommens. Er konnte die Seelen nicht durch die Taufe mit einem lebendigen Christus verbinden. Die Jünger hingegen handelten richtig, wenn sie es taten; denn sie hatten Christum also aufzunehmen. Von ihrer Seite war es Glaube.

Von den Juden verworfen, streitet der Herr nicht mit ihnen, sondern verlässt sie; und nach Sichar gekommen, befindet Er Sich hinsichtlich der Geschichte Israels auf einem höchst interessanten Boden, jedoch in Samaria, dem traurigen Zeugnis von dem Verfall Israels. Der Brunnen Jakobs befand sich in den Händen eines Volkes, das sich Israel nannte, dessen größter Teil aber nicht aus Juden bestand, und das, obwohl es von dem Stamme Israel zu sein behauptete, nicht wusste, was es anbetete. Diejenigen, die wirklich Juden waren, hatten den Messias durch ihre Eifersucht vertrieben; und Er, ein vom Volke verachteter Mensch, war aus ihrer Mitte weggegangen.

Wir sehen, wie der Herr die Leiden der Menschheit teilt, und wie Er, ermüdet von der Reise, nur den Rand eines Brunnens findet, um daselbst ein wenig auszuruhen. Er begnügt Sich damit, indem Er nur den Willen Seines Gottes zu tun sucht; und dieser hatte Ihn dorthin gebracht. Die Jünger waren weggegangen, und Gott führte zu dieser ungewöhnlichen Stunde ein einsames Weib herbei. Es war in der Tat nicht die Stunde, in der die Weiber zum Wasserschöpfen auszugehen pflegten; allein unter der Leitung Gottes trafen auf diese Weise eine arme Sünderin, und der Richter der Lebendigen und der Toten zusammen. Der Herr, müde und durstig, hat kein Mittel, um nur Seinen Durst zu stillen. Er ist als Mensch von diesem armen Weibe abhängig, um ein wenig Wasser für Seinen Durst zu erhalten; und Er erbittet es von ihr. Das Weib, das in Ihm einen Juden erkennt, drückt ihre Verwunderung darüber aus. Und nun entfaltet sich jene göttliche Szene, in der das Herz des von den Menschen verworfenen und durch den Unglauben Seines Volkes niedergedrückten Heilandes sich öffnet, um jene Fülle der Gnade ausströmen zu lassen, die in den Bedürfnissen und nicht in der Gerechtigkeit des Menschen ihre Gelegenheit findet. Und diese Gnade beschränkte sich nicht auf die Rechte Israels, noch nahm sie Rücksicht auf die nationale Eifersucht dieses Volkes. Es handelte sich um die Gabe Gottes, um Gott Selbst, der in Gnade gegenwärtig war, um Gott, der Sich so sehr erniedrigt hatte, dass Er, geboren in der Mitte Seines Volkes, in Betreff Seiner menschlichen Stellung von einem samaritischen Weibe abhängig war, dass sie Ihm einen Tropfen Wasser gebe, um Seinen Durst zu stillen. Der Herr sagt: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest und (nicht: 'wer ich bin', sondern:) wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken“, – d. h. wenn du erkannt hättest, dass Gott reichlich gibt, wenn du die Herrlichkeit der Person Dessen kenntest, der vor dir steht, und wüsstest, wie tief Er Sich erniedrigt hat, so würde Seine Liebe deinem Herzen geoffenbart worden sein, und Er würde es mit vollkommenem Vertrauen erfüllt haben, selbst hinsichtlich derjenigen Bedürfnisse, die eine derartige Gnade in deinem Herzen hervorgerufen haben würde. „Du würdest ihn gebeten, haben“, sagt der göttliche Heiland, „und er hätte dir das lebendige Wasser gegeben, welches in das ewige Leben quillt.“ Das ist die himmlische Frucht der Sendung Christi, wo irgend Er aufgenommen wird. Sein Herz legt diese himmlische Gnade dar (es offenbart, was Er ist), und schüttet sie aus in das Herz eines Gegenstandes dieser Gnade; zugleich tröstet Er Sich über den Unglauben der Juden, der das Endziel (die Erfüllung) der Verheißung verwarf, indem Er den wahren Trost der Gnade dem Elenden darreicht, der dessen bedürftig ist. Das ist der wahre Trost der Liebe, die betrübt ist, wenn sie an ihrer Tätigkeit verhindert wird. Die Schleusen der Gnade werden geöffnet durch das Elend, das durch jene Gnade überströmt wird. Christus offenbart, was Gott ist in Gnade; und der Gott der Gnade war gegenwärtig. Ach! das Herz des Menschen – verdorrt und selbstsüchtig, eingenommen von seinem eigenen Elend (der Frucht der Sünde) – kann nichts davon verstehen. Das Weib sieht etwas Außergewöhnliches in Jesu. Sie ist neugierig zu wissen, was dies bedeute; sie ist betroffen über Sein Benehmen, so dass sie Seinen Worten einigermaßen Glauben schenkt; aber ihre Wünsche beschränken sich nur auf Erleichterung der Mühsale ihres kummervollen Lebens in dem ein feuriges Herz keine Antwort fand hinsichtlich des Elends, das es sich an seinem Teil durch die Sünde zugezogen hatte.

Ich füge noch einige Worte über den Charakter dieses Weibes hinzu. Nach meinem Dafürhalten wollte der Herr zeigen, dass Bedürfnisse vorhanden, dass die Felder schon weiß waren zur Ernte; und dass, wenn die elende Eigengerechtigkeit der Juden Ihn verwarf, der Strom der Gnade seinen Lauf nach einer anderen Seite hin richten würde, wo Gott Herzen zubereitet hatte, die diesen mit Freude und Danksagung begrüßen würden, weil er ihrem Elend und ihren Bedürfnissen entsprach. Inmitten der Gerechten konnte dieser Strom sich nicht ergießen. Der Kanal der Gnade wurde gegraben durch das Bedürfnis und das Elend, die die Gnade selbst fühlbar hatte.

Das Leben des samaritischen Weibes war mit Schande bedeckt, aber sie empfand Scham darüber; wenigstens hatte ihr Zustand sie völlig vereinzelt, indem er sie von der Menge trennte, die sich in dem geräuschvollen Treiben des gesellschaftlichen Lebens vergisst. Und es gibt keinen tieferen Kummer als den eines vereinsamten Herzens; aber Christus und die Gnade tun mehr als diesen Kummer stillen. Das Alleinstehen des Herzens hört gänzlich auf. Christus war mehr vereinsamt als dieses Weib. Sie kam allein zum Brunnen; sie war nicht bei den anderen Weibern. Sie traf allein mit dem Herrn zusammen durch die wunderbare Leitung Gottes, der sie hierher geführt hatte. Selbst die Jünger mussten weggehen, um ihr Platz zu machen. Sie verstanden nichts von dieser Gnade. Sie tauften zwar im Namen des Messias, an den sie glaubten, und es war recht so; aber Gott war in Gnade gegenwärtig – Er, der die Lebendigen und die Toten richten wollte – und bei Ihm ist eine Sünderin in ihren Sünden. Welch ein Zusammentreffen! Gott hatte Sich so tief erniedrigt, dass Er bezüglich eines Tropfens Wasser zur Stillung Seines Durstes von diesem Weibe abhängig war.

Sie hatte eine feurige Natur; sie hatte das Glück gesucht und nur Elend gefunden. Sie lebte in der Sünde und war des Lebens überdrüssig. Sie war wirklich in die tiefste Tiefe des Elendes versunken. Für das Feuer ihrer Natur war die Sünde kein Hindernis; ach! sie war bis zum Äußersten gegangen. Der in das Böse verwickelte Wille nährt sich von sündlichen Lüsten und verzehrt sich nutzlos. Nichtsdestoweniger war die Seele dieses Weibes nicht ohne Bedürfnisse. Sie dachte an Jerusalem, sie dachte an Gerisim; sie erwartete den Messias, der ihnen alles verkündigen würde. Veränderte dies etwa ihr Leben? In keiner Weise. Ihr Leben war ein höchst anstößiges. Wenn der Herr von geistlichen Dingen redet, und zwar mit Worten, die wohl geeignet waren, das Herz aufzuwecken, und ihre Aufmerksamkeit in einer Weise auf himmlische Dinge richtet, dass man denken sollte, jedes Missverständnis sei ausgeschlossen, kann sie es doch nicht fassen. „Der natürliche Mensch nimmt nicht an was des Geistes Gottes ist; ... denn es wird geistlich beurteilt“ (1. Kor 2,14).

Das Neue in den Worten des Herrn erweckt zwar ihre Aufmerksamkeit, aber ihre Gedanken gehen doch nicht über ihren Wasserkrug, das Sinnbild ihrer täglichen Mühe, hinaus, obwohl sie wahrnimmt, dass Jesus den Platz eines Größeren als Jakob einnimmt. Was war zu tun? Gott wirkte; Er wirkte in Gnade, und zwar in diesem armen Weibe; und was auch im Blick auf sie selbst die Veranlassung ihres Kommens gewesen sein mochte, so war Er es dennoch, der ihre Schritte hierher geleitet hatte. Allein sie war unfähig, die geistlichen Dinge zu fassen, obwohl sie in der deutlichsten Weise mitgeteilt wurden; denn der Herr redete von dem Wasser, das in der Seele zu einer Quelle Wassers wird, das in das ewige Leben quillt. Doch da das menschliche Herz sich stets um seine eigenen Umstände und Sorgen dreht, so beschränkten sich die religiösen Bedürfnisse des Weibes im Praktischen auf die Überlieferungen, die ihr Leben in religiöser Hinsicht gestaltet hatten und die eine Leere zurückließen, die durch nichts auszufüllen war. Was war also zu tun? In welcher Weise kann jene Gnade wirken, wenn das Herz die geistliche Gnade, die der Herr bringt, nicht zu fassen vermag? Die Antwort findet sich in dem zweiten Teile der bewunderungswürdigen Unterweisung des Herrn. Er wendet sich an das Gewissen des Weibes. Ein Wort aus dem Munde Dessen, der das Herz erforscht, dringt in ihr Gewissen; sie steht in der Gegenwart eines Menschen, der ihr alles sagt, was sie je getan hat. Denn sobald ihr Gewissen durch das Wort aufgeweckt und vor den Augen Gottes bloßgelegt ist, sieht sie ihr ganzes Leben vor sich.

Und wer ist, der das Herz erforscht wie Er? Die Samariterin fühlt, dass Sein Wort das Wort Gottes ist, und sagt: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.“ Die Seele und Gott finden sich, welches auch das angewandte Werkzeug sein mag, sozusagen zusammen. Sie hat freilich noch alles zu lernen; aber sie steht in der Gegenwart Dessen, der alles lehrt. Welch ein Schritt, welch eine Veränderung und welch eine neue Stellung! Diese Seele, die nicht über ihren Krug hinaussah und die ihre Mühsal weit mehr als ihre Sünde fühlte ist dort allein mit dem Richter der Lebendigen und der Toten, mit Gott Selbst. Und wie ist sie es? Sie weiß es selbst nicht. Sie fühlt nur, dass Er Selbst es war, in der Macht Seines eigenen Wortes, und dass Er sie wenigstens nicht verachtete, wie andere dies taten. Obwohl sie allein war, so war sie doch mit Ihm allein. Er hatte von Leben, von der Gabe Gottes zu ihr gesprochen; Er hatte ihr gesagt, dass sie nur zu bitten brauche, um zu empfangen. Sie hatte allerdings nicht verstanden, was Er meinte; aber es war nicht Verurteilung, sondern Gnade, was ihr entgegentrat – eine Gnade, die sich bis zu ihr erniedrigte, die ihre Sünde kannte und sich dadurch nicht zurückschrecken ließ – eine Gnade, die sie um Wasser bat, und die im Blick auf sie über den jüdischen Vorurteilen und über der Verachtung der Selbstgerechten stand – eine Gnade, die ihr ihre Sünde nicht verhehlte und die sie fühlen ließ, dass Gott dieselbe kannte die aber trotz der Gegenwart Dessen, der alles wusste keine Furcht in ihrem Herzen aufkommen ließ. Ihre Sünde war vor Gott, aber nicht zum Gericht.

Wunderbares Zusammentreffen einer Seele mit Gott, das die Gnade Gottes durch Christum bewirkt! Nicht als ob das Weib über alle diese Dinge nachgedacht hatte; aber ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, stand sie unter der Wirkung der Wahrheit derselben; denn das Wort Gottes hatte ihr Gewissen erreicht, und sie war in der Gegenwart Dessen, der dies bewirkt hatte. Er war sanftmütig und demütig, und darüber erfreut, ein wenig Wasser aus ihrer Hand zu empfangen. Ihre Verunreinigung verunreinigte Ihn nicht. Sie konnte sich Ihm in der Tat anvertrauen ohne zu wissen warum. So handelt Gott. Die Gnade flößt Vertrauen ein und bringt die Seele im Frieden zu Gott zurück, noch ehe sie eine einsichtsvolle Kenntnis darüber hat oder es sich zu erklären vermag. Also mit Vertrauen erfüllt, beginnt das Weib (es war die natürliche Folge) Fragen zu stellen, die ihr eigenes Herz erfüllten, und gibt so dem Herrn Gelegenheit, Sich völlig über die Wege Gottes in Gnade auszusprechen. Gott hatte es so geordnet, denn die Frage des Weibes war noch weit von den Gefühlen entfernt, zu denen die Gnade sie nachher in Betreff ihrer selbst führte. Der Herr antwortet ihr nach ihrem Zustande: das Heil kam von den Juden; sie waren das Volk Gottes. Die Wahrheit war bei ihnen und nicht bei den Samaritern, die nicht wussten, was sie anbeteten. Doch Gott setzte, alles das jetzt beiseite. Sie sollten weder auf dem Berge Gerisim noch zu Jerusalem den Vater anbeten, der Sich im Sohne offenbarte. Gott war ein Geist und man musste Ihn in Geist und in Wahrheit anbeten. Auch suchte der Vater solche Anbeter, d. h. die Anbetung ihrer Herzen muss der Natur Gottes und der Gnade des Vaters, der sie gesucht hat, entsprechen 1. Jerusalem und Samaria verschwinden gänzlich; sie finden keinen Raum mehr vor einer solchen Offenbarung des Vaters in Gnade. Gott verbarg Sich nicht länger; Er war vollkommen im Lichte geoffenbart. Die vollkommene Gnade des Vaters wirkte, um Ihn bekannt zu machen, und zwar mittels der Gnade, die die Seelen zu Ihm führte.

Allerdings war das Weib noch nicht zu Ihm geführt; allein, wie wir es bei den Jüngern und bei Johannes dem Täufer gesehen haben, wirkt eine herrliche Offenbarung Christi auf die Seele in dem Zustande,in dem sie sich befindet, und bringt die Person Jesu in Verbindung mit dem bereits gefühlten Bedürfnis. „Ich weiß“, sagt sie, „dass der Messias kommt, welcher Christus genannt wird; wenn jener kommt, wird Er uns alles verkündigen.“ Wie gering auch das Verständnis dieses Weibes und wie unfähig sie sein mochte die Worte Jesu zu fassen, so begegnet Seine Liebe ihr doch da, wo sie die Segnung und das Leben empfangen kann; und Er antwortet ihr: „Ich bin's, der mit dir redet.“ Das Werk war vollendet: der Herr war angenommen. Eine arme samaritische Sünderin nimmt den Messias Israels an, den die Hohenpriester und Pharisäer aus der Mitte des Volkes hinausgeworfen hatten. Die moralische Wirkung auf das Weib ist augenscheinlich: sie vergisst ihren Krug, ihre Mühsal und ihre Umstände; sie ist so völlig eingenommen von diesem neuen Gegenstande, von Christo, dass sie ohne langes Überlegen eine Predigerin wird, d. h. sie verkündigt den Herrn aus der Fülle ihres Herzens und mit vollkommener Einfalt: Er hatte ihr alles gesagt, was irgend sie getan hatte. Sie denkt in diesem Augenblicke nicht daran, was es war. Jesus hatte es ihr gesagt, und der Gedanke an Jesum nimmt die Bitterkeit der Sünde hinweg. Das Gefühl Seiner Güte entfernt den Betrug des Herzens, das seine Sünde zu verbergen sucht. Mit einem Wort, ihr Herz ist ganz mit Christo Selbst erfüllt; und auf ihre Aussage hin: „Er hat mir alles gesagt, was irgend ich getan habe“, glaubten viele an Ihn; doch noch viele mehr glaubten, nachdem sie Ihn Selbst gehört hatten. Sein eigenes Wort brachte eine stärkere Überzeugung hervor, weil es unmittelbar mit Seiner Person in Verbindung stand.

Inzwischen kommen Seine Jünger und sind natürlich darüber verwundert, dass Er mit dem Weibe redet. dass Er ihr Lehrer, der Messias, war, das verstanden sie; aber die Gnade des im Fleische geoffenbarten Gottes lag ihren Gedanken noch fern. Das Werk dieser Gnade war die Speise Jesu, und zwar in der Niedrigkeit des Gehorsams, als gesandt von Gott. Damit war Er beschäftigt, und in der vollkommenen Demut des Gehorsams war es Seine Freude und Seine Speise, den Willen Seines Vaters zu tun und Sein Werk zu vollbringen. Was sich mit diesem armen Weibe zutrug, erfüllte Sein Herz mit tiefer Freude, verwundet wie es war in dieser Welt, weil Er die Liebe war. Wenn die Juden Ihn auch verwarfen, so waren doch die Felder, auf denen die Gnade ihre Früchte für den ewigen Speicher suchte, schon weiß zur Ernte. Deshalb sollte Ihm, der da arbeitete, Sein Lohn nicht fehlen, noch auch die Freude, solche Frucht für das ewige Leben zu ernten. Dennoch waren selbst die Apostel da nur Schnitter, wo andere gesät hatten. Das arme Weib war ein Beweis davon. Christus, gegenwärtig und geoffenbart, entsprach den Bedürfnissen, die durch das Zeugnis der Propheten geweckt waren. Indem Er daher eine Gnade entfaltete, die die Liebe des Vaters, des Heiland-Gottes, offenbarte, und die mithin die Schranken des jüdischen Systems überschritt, erkannte Er völlig den treuen Dienst Seiner Arbeiter in früheren Tagen an – den Dienst der Propheten, die durch den Geist Christi von Anfang der Welt an von dem Erlöser, von den Leiden Christi und den darauf folgenden Herrlichkeiten geredet hatten. Die Säer und die Schnitter sollten sich gemeinsam der Frucht ihrer Arbeit freuen.

Aber welch ein Gemälde ist dies alles von der Absicht der Gnade und von der mächtigen und lebendigen Fülle in der Person Christi, von der freien Gabe Gottes und der Unfähigkeit des menschlichen Geistes, diese zu erfassen, weil er von den gegenwärtigen Dingen eingenommen und verblendet ist und über das Leben der Natur hinaus nichts sieht, obgleich er unter den Folgen seiner Sünde leidet. Zugleich sehen wir, dass gerade in der Herablassung, in der tiefen Erniedrigung des Messias, Jesu, Gott Selbst in dieser Gnade geoffenbart wird. Das ist es, was die Schranken durchbricht und dem Strom der Gnade von oben freien Lauf gibt. Wir sehen ferner, dass das Gewissen die Tür zum Verständnis in den Dingen Gottes ist. Wir werden wirklich mit Gott in Verbindung gebracht, wenn Er das Herz erforscht. Dies ist immer der Fall; wir sind alsdann in der Wahrheit. Überdies offenbart Gott Sich so Selbst, wie auch die Gnade und Liebe des Vaters. Er sucht Anbeter, und zwar gemäß dieser doppelten Offenbarung Seiner Selbst, wie groß auch Seine Geduld mit denen sein mag, die nicht weiter sehen als bis zu der ersten Stufe der Verheißungen Gottes. Wenn Jesus angenommen wird, so tritt eine gänzliche Veränderung ein, das Werk der Bekehrung ist vollendet, der Glaube ist da. Zugleich, welch ein göttliches Bild von unserem Jesus, der allerdings erniedrigt, aber gerade dadurch die Offenbarung Gottes in Liebe ist, der Sohn des Vaters, der den Vater kennt und Sein Werk vollendet! Welch eine herrliche Szene ohne Schranken und Grenzen öffnet sich vor der Seele, der es gewährt ist, Ihn zu sehen und zu erkennen!

Die ganze Tragweite der Gnade liegt hier offen vor uns in Seinem Werke und in ihrer göttlichen Ausdehnung, sowohl in Betreff ihrer Anwendung auf den Einzelnen, als auch bezüglich des persönlichen Verständnisses, das wir von ihr haben können. Es handelt sich hier nicht gerade um Vergebung, noch um Erlösung, noch um die Versammlung, sondern vielmehr um die Gnade, die aus der Person Christi hervorströmt, sowie um die Bekehrung des Sünders, damit er sie in sich selbst genieße und fähig sei, Gott zu erkennen und den Vater der Gnade anzubeten. Doch wie völlig sehen wir hier, dem Grundsatze nach, die engen Schranken des Judentums durchbrochen!

In Seinem persönlichen Dienste begibt Sich der stets treue Herr indes nach dem Ihm von Gott bestimmten Arbeitsfelde, während Er Sich Selbst beiseite setzt, um Seinen Vater durch Gehorsam zu verherrlichen. Er verlässt die Juden, denn kein Prophet wird in seinem eigenen Vaterlande aufgenommen, und geht nach Galiläa, unter die Verachteten Seines Volkes, zu den Armen der Herde, wo Ihm sowohl der Gehorsam, als auch die Gnade und die Ratschlüsse Gottes Seinen Platz anwiesen. Insofern verließ Er Sein Volk nicht, wie verkehrt dasselbe auch war. Er verrichtet dort ein Wunder, das die Wirkung Seiner Gnade in Verbindung mit dem gläubigen Überrest Israels darstellt, so schwach dessen Glaube auch sein mochte. Er kommt wieder an den Ort, wo Er das Wasser der Reinigung in den Wein der Freude („der Gott Menschen erfreut“) verwandelt hatte (vgl. Ps 104,15; Ri 9,13). Durch jenes Wunder hatte Er die Macht entfaltet, die das Volk befreien sollte, und durch die Er – wenn Er aufgenommen wird – die Fülle der Freude in Israel hervorbringen wird, indem Er durch eben diese Macht den guten Wein der Hochzeit Israels mit seinem Gott schafft. Allein Israel verwarf alles; der Messias wurde nicht aufgenommen. Deshalb zieht Er Sich unter die Armen der Herde, nach Galiläa, zurück, nachdem Er Samaria auf Seinem Wege durch dasselbe die Gnade des Vaters gezeigt hatte, die über alle Verheißungen und Wege Gottes bezüglich der Juden hinausging, und die, in der Person und in der Erniedrigung Christi, bekehrte Seelen zur Anbetung des Vaters im Geist und in Wahrheit leitete, außerhalb jedes (wahren oder falschen) jüdischen Systems. In Galiläa wirkt Er dann ein zweites Wunder inmitten Israels, wo Er nach dem Willen Seines Vaters noch tätig war, d. h. da, wo irgend sich Glauben vorfand; vielleicht war es noch nicht der Glaube an Seine Macht, Tote aufzuerwecken, sondern zu heilen und das Leben dessen zu retten, was sterben wollte. Er erfüllte den Wunsch dieses Glaubens und gab einem Menschen das Leben zurück, der dem Tode nahe war. Das war es in der Tat, was Er in Israel ausübte, während Er hienieden war. Folgende zwei große Wahrheiten wurden in den Vordergrund gestellt: das, was Er, als der Verworfene, nach den Ratschlüssen Gottes zu tun im Begriff stand, und das, was Er zurzeit für Israel tat, je nach dem Glauben, den Er in seiner Mitte fand.

In den folgenden Kapiteln werden wir die Rechte und die Herrlichkeit, die sich an Seine Person knüpfen, dargestellt finden, sowie die Verwerfung Seines Wortes und Seines Werkes, und endlich die sichere Errettung des Überrestes und aller Schafe des Herrn, wo sie sich auch befinden mögen. Darauf ist, nachdem der Herr, als auf Erden geoffenbart, von Gott als Sohn Gottes, Sohn Davids und Sohn des Menschen anerkannt worden ist, die Rede von dem, was Er während Seiner Abwesenheit tun will, sowie von der Gabe des Heiligen Geistes und von der Stellung, in die Er die Jünger dem Vater und Sich Selbst gegenüber gebracht hat. Im letzten Kapitel unseres Evangeliums – nachdem die Geschichte von Gethsemane, die Hingabe Seines eigenen Lebens, Sein Tod, in dem Er Sein Leben für uns hingab, erzählt worden ist – wird dann in Kürze das ganze Ergebnis der Wege Gottes bis zur Wiederkunft Christi dargestellt. Wir können über die Kapitel 5 – 9 schneller hinweggehen; nicht als ob sie von geringerer Wichtigkeit seien, – weit entfernt davon! – sondern weil sie einige große Grundsätze enthalten, welche, ohne vieler Erklärungen zu bedürfen, jeder an seinem Platze näher bezeichnet werden können.

Fußnoten

  • 1 Man wird in den Schriften des Johannes stets finden, dass das Wort „Gott“ gebraucht wird, wenn von der Verantwortlichkeit die Rede ist, und die Worte „der Vater und der Sohn“, wenn von der Gnade gegen uns gesprochen wird. Wenn es sich um die Güte (den Charakter Gottes in Christo) gegen die Welt handelt, so wird ebenfalls von Gott gesprochen.
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