Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Kapitel 22

Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

In Kapitel 22 wird uns das Verhalten der Juden gegenüber den Einladungen der Gnade vorgestellt. Das von dem Herrn benutzte Gleichnis ist daher ein Gleichnis von dem Reich der Himmel. Der Ratschluss Gottes ist, seinen Sohn dadurch zu ehren, dass Er Ihm Hochzeit macht. Zuerst werden die bereits eingeladenen Juden zum Hochzeitsfest gerufen; allein sie weigern sich zu kommen. Dies geschah während der Lebzeiten Christi auf Erden. Dann sendet Gott, nachdem alles bereitet ist, von neuem Boten aus, um die Geladenen zum Kommen zu bewegen (V. 3). Das ist die Sendung der Apostel an die Nation nach Vollendung des Erlösungswerkes. Die Juden aber verachten die Botschaft oder töten die Boten 1, und die Folge davon ist die Zerstörung jener Bösen und ihrer Stadt (V. 4–7), mit anderen Worten die Zerstörung, die über Jerusalem kam.

Da die Juden die Einladung verworfen haben, so werden die Armen und Elenden, die Heiden, die, die „draußen“ waren, zu dem Fest geführt; und der Hochzeitssaal füllt sich mit Gästen. Ein anderer Umstand tritt hier jetzt in die Erscheinung. Wir haben zwar in unserem Gleichnis das Gericht über Jerusalem (V. 7) gefunden, aber weil es ein Gleichnis vom Reich ist, enthält es auch das Gericht über das, was sich im Reich befindet. Nur muss man jeweils für die Gelegenheit passend sein, und zu einem Hochzeitsfest gehört ein Hochzeitskleid. Wenn Christus verherrlicht werden soll, so muss alles seiner Herrlichkeit entsprechen. Man kann äußerlich in das Reich eingehen, sich zum Christentum bekennen; wer aber nicht mit dem Hochzeitskleid, d. h. mit dem angetan ist, was zu dem Fest gehört, wird hinausgeworfen werden. Wir müssen mit Christo selbst bekleidet sein. Anderseits ist alles bereitet, nichts wird gefordert. Es lag nicht den Geladenen ob, etwas mitzubringen; der König sorgte für alles. Aber wir müssen ein wahres Gefühl von dem haben, was vorgeht. Wer irgendwie daran denkt, was für ein Hochzeitsfest passt, wird sicher das Bedürfnis fühlen, in einem Hochzeitskleid zu erscheinen; wer dieses Bedürfnis nicht fühlt, vergisst die Ehre des Königssohnes. Sein Herz ist dem Geist des Festes und der Herrlichkeit des Sohnes völlig fremd. Wenn daher der König hereinkommt, um die versammelten Gäste zu besehen, so wird der Mensch ohne Hochzeitskleid als Fremder behandelt.

So ist auch dem Volk Israel Gnade angeboten worden, und es wird gerichtet, weil es die Einladung des großen Königs zu der Hochzeit seines Sohnes zurückgewiesen hat. Aber auch jene werden gerichtet werden, die diese Gnade anzunehmen scheinen, sie jedoch missbrauchen. Hierauf wird die Einführung der Heiden angekündigt, und damit endet die Geschichte der Verurteilung Israels im Allgemeinen sowie die Beschreibung des Charakters, den das Reich annehmen sollte.

Jetzt erscheinen nacheinander (V.15 u.f.) die verschiedenen Klassen der Juden. Zunächst suchen die Pharisäer und die Herodianer (von denen die einen die Herrschaft der Römer begünstigen, während die anderen ihr entgegen waren), Jesum in der Rede in eine Falle zu locken. Der hochgelobte Herr antwortet ihnen mit jener vollkommenen Weisheit, die sich stets in allem, was Er sagte, in allem, was Er tat, kundgab. Die Frage dieser Menschen geschah aus reiner Bosheit und offenbarte ihre völlige Gewissenlosigkeit. Ihre eigene Sünde hatte sie unter das römische Joch gebracht, in eine Stellung, die in der Tat derjenigen völlig entgegengesetzt war, welche das Volk Gottes auf Erden hätte einnehmen sollen. So musste Christus dem Anschein nach entweder den obrigkeitlichen Gewalten verdächtigt werden, oder auf den Anspruch verzichten, der Messias und mithin der Befreier zu sein. Wer aber hatte diese Schwierigkeit herbeigeführt? Sie war die Frucht ihrer eigenen Sünden. Der Herr zeigt ihnen, dass sie sich selbst unter das Joch gebeugt hatten; der Ihm dargereichte Denar lieferte den Beweis dafür. Sie sollten ihn denen geben, denen er zukam, und sollten (was sie nicht taten) Gott geben, was Gottes war. Indem der Herr sie so unter dem Joch ließ, unter welches sie sich gestellt hatten, wie sie dies selbst anzuerkennen gezwungen waren, erinnert Er sie an die Rechte Gottes, die sie vergessen hatten. Dies war übrigens eigentlich schon der Zustand Israels unter der Macht Nebukadnezars gewesen, als der Prophet es einen „üppigen Weinstock von niedrigem Wuchs“ nannte (Hes 17,6).

Dann nahen die Sadducäer und legen Ihm Fragen über die Auferstehung vor, in der Absicht, die Ungereimtheit derselben zu beweisen. War nun vorher, in der Unterredung mit den Pharisäern, der Zustand der Nation ans Licht getreten, so offenbart sich hier der Unglaube der Sadducäer. Sie dachten nur an die Dinge dieser Welt, indem sie das Vorhandensein einer anderen Welt zu leugnen suchten. Doch wie traurig auch der Zustand der Entwürdigung und der Dienstbarkeit, in den das Volk versunken war, sein mochte, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs veränderte sich nicht. Die den Vätern gemachten Verheißungen blieben gesichert, und die Väter lebten, um diese Verheißungen später zu genießen. Das Wort und die Macht Gottes waren die Dinge, um die es sich handelte; der Herr hält sie mit Macht und Klarheit aufrecht und bringt die Sadducäer zum Schweigen.

Die Gesetzgelehrten, betroffen über seine Antwort, werfen jetzt eine Frage auf (V. 36), die dem Herrn Veranlassung gibt, aus dem ganzen Gesetz das, was nach den Gedanken Gottes das Wesen desselben ausmacht, vor ihre Augen zu stellen. Er zeigt so die Vollkommenheit des Gesetzes und das, was (durch welches Mittel man auch dahin gelangen mag) das Glück derer ausmacht, die im Gesetz wandeln. Die Gnade allein führt auf einen höheren Boden.

Damit haben ihre Fragen ein Ende. Alles ist verurteilt, alles ist ans Licht gebracht hinsichtlich der Stellung des Volkes und der Sekten in Israel; und der Herr hat ihnen die vollkommenen Gedanken Gottes über sie dargelegt, sowohl hinsichtlich ihres Zustandes als auch der Verheißungen Gottes oder des Wesens des Gesetzes.

Nun war es an Jesu, eine Frage zu tun, um seine eigene Stellung hervortreten zu lassen. Er fordert die Pharisäer auf, den Titel: „Sohn Davids“ mit dem Titel: „Herr“ zu vereinigen, welch letzteren David selbst Ihm einst gab, und zwar in Verbindung mit der Tatsache, dass dieser nämliche Christus hinaufgestiegen ist, um sich zur Rechten Gottes zu setzen, bis Gott alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt und seinen Thron in Zion aufgerichtet haben wird. Dies kennzeichnete die ganze Stellung Christi in jenem Augenblick. Sie waren unfähig, Ihm zu antworten, und niemand wagte mehr eine Frage an Ihn zu richten. In der Tat, hätten die Juden den Psalm 110 verstanden, so würden sie auch alle Wege Gottes hinsichtlich seines Sohnes zur Zeit, da sie im Begriff standen, Ihn zu verwerfen, verstanden haben. Hiermit endeten notwendigerweise diese Unterredungen des Herrn mit den Juden, da die wahre Stellung Christi durch sie ans Licht gebracht war; obwohl Er der Sohn Davids war, musste Er auffahren, um das Reich zu empfangen, und, solange Er auf das Reich wartete, den Rechten seiner herrlichen Person gemäß zur Rechten Gottes sitzen – als Davids Herr sowohl als auch als Davids Sohn.

An dieser Stelle ist noch ein anderer interessanter Punkt zu beachten. Der Herr stellt in diesen Unterredungen und in seinen, an die verschiedenen Klassen des Volkes gerichteten Reden den Zustand der Juden hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Gott nach allen Seiten hin klar und zeigt dann die Stellung, die Er selbst einnahm. Zunächst weist Er auf ihre nationale Stellung hin, die sie nach ihrem natürlichen Gewissen und nach den ihnen gehörenden Vorrechten, als unter Verantwortlichkeit stehend, Gott gegenüber einnahmen. Das Endergebnis wird ihre Beiseitesetzung sowie die Einführung anderer in den Weinberg des Herrn sein (Mt 21,28–46). Dann stellt der Herr den Zustand der Juden mit Bezug auf die Gnade des Reiches dar, sowie die Einführung von Sündern aus den Heiden (Kap. 22,1–10). Auch hier ist das Ergebnis die Beiseitesetzung und die Zerstörung der Stadt 2. Endlich bieten die Herodianer, diese Freunde der Römer, und die Pharisäer, die Feinde Roms und vorgeblichen Freunde Gottes, Gelegenheit, die wahre Stellung der Juden, sowohl der heidnischen kaiserlichen Macht als auch Gott gegenüber, zu beleuchten.

In der Unterredung mit den Sadducäern zeigt der Herr die Gewissheit der den Vätern gegebenen Verheißungen und die Verbindung, in welcher Gott mit ihnen stand hinsichtlich des Lebens und der Auferstehung. Danach stellt Er den Schriftgelehrten den wahren Sinn des Gesetzes vor sowie die Stellung, die Er, der Sohn Davids, dem 110. Psalm gemäß, einnahm, und die in Verbindung stand mit seiner Verwerfung durch die Ihn umringenden Führer der Nation.

Fußnoten

  • 1 Verachtung und Gewalttat sind die beiden Formen der Verwerfung des Zeugnisses Gottes und des treuen Zeugen. Sie hassen den einen und lieben den anderen, oder Sie hangen dem einen an und verachten den anderen.
  • 2 Von Mt 21,28 bis zum Ende des Kapitels haben wir die Verantwortlichkeit der Nation, als im Besitz ihrer ursprünglichen Vorrechte betrachtet, nach welchen sie hätte Frucht bringen sollen. Da dies aber nicht geschehen ist, so werden andere an ihre Stelle gesetzt. Das ist jedoch nicht die Ursache des an Jerusalem vollzogenen Gerichts, welches damals die Zerstörung der Stadt bewirkte und am Ende der Tage in noch schrecklicherer Weise ausgeübt werden wird. Der Tod Jesu, des Letzten derer, die ausgesandt wurden, um Frucht zu suchen, führt das Gericht über seine Mörder herbei (Mt 21,33-41). Die Zerstörung Jerusalems ist die Folge der Verwerfung des Zeugnisses vom Reich, das als ein Ruf der Gnade an sie ergangen war. In dem ersten Fall handelt es sich um das Gericht über die Weingärtner: die Schriftgelehrten, Hohenpriester und Leiter des Volkes, wogegen das wegen der Verwerfung des Zeugnisses vom Reich ausgeübte Gericht viel weiter geht (siehe Kap. 22,7). Die einen verachten die Botschaft, die anderen misshandeln die Boten: und nachdem die Gnade also verworfen ist, wird die Stadt verbrannt und ihre Bewohner werden ausgerottet. Vergleiche Mt 23,36 und die geschichtliche Prophezeiung in Lk 21. Dieser Unterschied wird in allen drei Evangelien festgehalten.
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