Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Kapitel 20

Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Es war in der Tat zu befürchten, dass das fleischliche Herz des Menschen diese Ermunterung, die in Form einer Belohnung für alle seine Mühe und seine Opfer gegeben wurde, in einem lohnsüchtigen Geist auffassen und Gott zu seinem Schuldner zu machen suchen würde. Deshalb stellt der Herr in dem nun folgenden Gleichnis den Grundsatz der Gnade und der Unumschränktheit Gottes sowohl hinsichtlich derer, die Er beruft, als auch betreffs dessen, was Er gibt, in sehr bestimmter Weise fest. Von dieser Berufung und Gnade Gottes macht Er die Gaben derer abhängig, die Gott in seinen Weinberg einführt.

Man wird bemerken, dass die Antwort des Herrn an Petrus auf dessen Vorstellung hin erfolgt, dass sie auf den Ruf Christi alles verlassen hatten, um Ihm nachzufolgen. Der Beweggrund war Christus selbst. Darum sagt Er: „Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid.“ Er spricht auch von solchen, die „um seines Namens willen“ also gehandelt hatten. Da war dies der Beweggrund. Die Belohnung ist eine Ermunterung für uns, wenn wir um Christi willen bereits auf dem Weg sind; von diesem Gesichtspunkt aus wird die Belohnung im Neuen Testament immer betrachtet 1. Der, welcher zur elften Stunde berufen wurde, war für den Eintritt in die Arbeit von dieser Berufung abhängig; und wenn sein Herr in seiner Güte ihm ebensoviel geben wollte wie den anderen, so hätten sich diese darüber freuen sollen. Die ersten beriefen sich auf die Gerechtigkeit; aber sie hatten nach der Übereinkunft mit dem Hausherrn empfangen. Die letzten genossen die Gnade ihres Herrn. Und es ist zu beachten, dass sie den Grundsatz der Gnade und des Vertrauens auf dieselbe angenommen hatten. „Was irgend recht ist, werde ich euch geben“, hatte der Herr gesagt. Der wichtigste Punkt in unserem Gleichnis ist dieser: Vertrauen auf die Gnade des Hausherrn, und Gnade als der Boden, auf dem die Arbeiter tätig sind. Aber wer verstand das? Ein Paulus mochte, da Gott ihn nicht früher berief, erst spät in die Arbeit eintreten und nichtsdestoweniger zu einem mächtigeren Zeugnis der Gnade werden, als jene Arbeiter, die seit dem Anbruch des Tages des Evangeliums gearbeitet hatten.

Hernach setzt der Herr den Gegenstand seiner Unterredung mit den Jüngern fort. Er geht nach Jerusalem hinauf (wo der Messias hätte aufgenommen und gekrönt werden sollen), um verworfen und getötet zu werden, aber um dann aufzuerstehen. Und wenn die Söhne Zebedäi kommen, um die beiden ersten Plätze im Reich zu beanspruchen, erwidert Er ihnen, dass Er sie zwar zu Leiden führen könne, dass Er aber die ersten Plätze in seinem Reich, den Ratschlüssen Gottes gemäß, nur denen zu geben vermöge, für die sie der Vater bereitet habe (V. 20 u. f.). Wunderbare Selbstverleugnung! Er arbeitet für den Vater, für uns, und Er verfügt über nichts. Er kann denen, die Ihm nachfolgen, Anteil an seinen Leiden geben; alles andere wird aber nach den Ratschlüssen des Vaters ausgeteilt werden. Doch welch eine Herrlichkeit ist gerade das für Christus, und welch eine Vollkommenheit zeigt sich hier in Ihm! Und weiter, welch ein Vorrecht ist es für uns, nur diesen Beweggrund zur Nachfolge zu haben und an seinen Leiden teilzunehmen! Und wie wird uns hier Gelegenheit geboten, unsere fleischlichen Herzen zu läutern, indem wir angeleitet werden, nur für einen leidenden Christus zu wirken, sein Kreuz zu teilen und betreffs der Belohnung uns Gott völlig zu überlassen!

Der Herr benutzt diese Gelegenheit auch, um zu zeigen, welche Gefühle sich für seine Nachfolger geziemen; sie hatten die Vollkommenheit derselben in Ihm selbst gesehen. In der Welt trachtet man nach Machtvollkommenheit; aber die Gesinnung Christi war die Gesinnung eines Dieners und führte dahin, den letzten Platz zu wählen und sich ganz für andere hinzugeben. Welch schöne und herrliche Grundsätze, deren Vollkommenheit in völligem Glanz in Christus offenbart worden ist! Auf alles zu verzichten, um vertrauensvoll von der Gnade Dessen abhängig zu sein, dem wir dienen, und dementsprechend bereit, den niedrigsten Platz einzunehmen und so aller Diener zu sein – diese Gesinnung sollte alle die beseelen, die teilhaben an dem Reich, so wie dasselbe jetzt durch den verworfenen Herrn aufgerichtet worden ist. Das ist es, was seinen Nachfolgern geziemt 2.

Mit dem 28. Verse endigt dieser Teil des Evangeliums, und die Schluss-Szene des Lebens unseres hochgelobten Heilandes hebt an. In Vers 29 3 beginnt die letzte Offenbarung Jesu an Israel als Sohn Davids, des HERRN, der wahre König Israels, der Messias. Er beginnt seine Laufbahn in dieser Beziehung zu Jericho, an dem Ort, wo Josua in das Land eingetreten war, und auf dem der Fluch so lang geruht hatte. Er öffnet die blinden Augen seines Volkes, die Augen derer, die an Ihn glaubten und Ihn, obwohl Er verworfen war, als den Messias aufnahmen; denn das war Er in Tat und Wahrheit. Die Blinden begrüßen Ihn als Sohn Davids; und Er antwortet ihrem Glauben, indem Er ihre Augen öffnet. Dann folgen sie Ihm nach – ein Bild des wahren Überrestes seines Volkes, der Ihn erwarten wird.

Fußnoten

  • 1 Tatsächlich stellt die Schrift die Belohnung stets als eine Ermunterung hin für solche, die aus höheren Beweggründen den Weg Gottes betreten haben und infolgedessen durch Leiden und Trübsale gehen. So war es bei Moses. So hat selbst Christus, dessen Beweggründe in vollkommener Liebe wir kennen, dennoch für die vor Ihm liegende Freude dass Kreuz erduldet und der Schande nicht geachtet. Er war „der Anfänger und Vollender“ auf dem Pfad des Glaubens.
  • 2 Bemerkenswert ist die Art und Weise, in welcher die Söhne Zebedäi und ihre Mutter gerade in dem Augenblick um den höchsten Platz nachsuchen, wo der Herr sich anschickt, ohne Vorbehalt den niedrigsten einzunehmen. Ach, wie viele Beispiele derselben Gesinnung erblicken wir täglich! Die Folge war, dass ans Licht trat, wie gänzlich Jesus sich von allem entäußert hatte. Die Grundsätze des himmlischen Reiches sind diese: Vollkommene Selbstverleugnung, zufrieden zu sein, sich gänzlich hinzugeben. Das ist die Frucht der Liebe, die nicht das Ihrige sucht: eine Nachgiebigkeit, die aus der Tatsache entspringt, dass man nicht sich selbst sucht; stille Unterwerfung, wenn man verachtet wird; Sanftmut und Niedriggesinntheit des Herzens. Die Liebe erzeugt zugleich den Geist des Dienstes für andere sowie die Demut, die mit dieser Stellung zufrieden ist. Der Herr hat, indem Er sein Leben zum Lösegeld für viele gab, diesen Dienst der Liebe bis zum Tode erfüllt.
  • 3 Die Geschichte des Blinden zu Jericho bildet in den drei ersten Evangelien den Anfang der letzten Umstände des Lebens Christi, die Ihn zum Kreuze führten, nachdem der allgemeine Inhalt und die Belehrungen jedes einzelnen Evangeliums zu Ende geführt sind; daher wird Er als Sohn Davids angeredet und Ihm, als solchem, dem Volk Israel gegenüber zum letzten Mal von Gott Zeugnis gegeben.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel