Betrachtung über den Propheten Jesaja (Synopsis)

Einleitung

Betrachtung über den Propheten Jesaja (Synopsis)

Jesaja nimmt die erste Stelle ein; er ist in der Tat der vollständigste aller Propheten, und vielleicht auch der reichste. Wir finden bei ihm mehr den ganzen Gedankenkreis Gottes bezüglich Israels, während andere Propheten sich nur mit einzelnen Teilen aus der Geschichte dieses Volkes beschäftigen.

Welch ein Gemälde enthüllt sich in dieser Weissagung vor unseren Blicken! Traurig in einer Hinsicht und doch auch zu gleicher Zeit lieblich und herrlich; dem ersten Schimmer der Morgenröte gleich, welcher nach einer langen, kalten und finsteren Nacht den glänzenden Tag ankündigt, der bald die ganze Gegend erhellen wird, deren Schönheiten das Auge jetzt nur spärlich inmitten der noch herrschenden Dunkelheit erblickt. Was wird es sein, wenn die Sonne sie mit ihrem lebenswarmen, hellen Glanze bestrahlt! Man erfreut sich an diesem dämmernden Lichte: es redet von der Güte, der Tätigkeit und den Absichten jenes Gottes, welcher alle Dinge zur Erfüllung Seiner gnädigen und herrlichen Ratschlüsse erschaffen hat. Dennoch sehnt man sich nach der Offenbarung der vollständigen Erfüllung dieser Ratschlüsse, wenn alles in den Wirkungen und Folgen der Güte Gottes ruhen wird.

So ist die Prophezeiung. Sie erweckt Schmerz und Betrübnis, weil sie die Sünde, die Undankbarkeit und Torheit des Volkes Gottes uns aufdeckt. Zugleich aber offenbart sie auch das Herz jenes Gottes, dessen Liebe nie ermüdet, der Sein Volk liebt und das Wohl desselben bezweckt, obgleich Er seine Sünde nach dem Maße Seiner eigenen Liebe empfindet. Es ist das Herz Gottes, welches spricht. Dieser doppelte Charakter der Prophezeiung verbreitet Licht über den zweifachen Zweck, den sie verfolgt, und hilft uns, sie zu verstehen. Zunächst und vor allem wendet sie sich an den jeweiligen Zustand des Volkes und weist ihm seine Sünde nach. Daher setzt sie stets voraus, daß das Volk sich im Abfall befindet; denn wenn Israel die Segnungen Gottes im Frieden genießt, so ist es unnötig ihm seinen Zustand zu offenbaren. Zweitens aber, während des Zeitraumes, in welchem das Volk noch anerkannt wird, redet die Prophezeiung von einer sofortigen Wiederherstellung, sofern es Buße tut, um es dadurch zu ermutigen, zu Jehova umzukehren; auch kündigt sie die Befreiung an. Indessen kannte Gott das Herz Seines Volkes genau und wußte wohl, daß es Seinem Ruf nicht folgen würde. Um aber den Glauben des Überrestes aufrechtzuerhalten, der inmitten des Unglaubens treu bleibt, sowie zur Unterweisung Seines Volkes zu allen Zeiten, fügt Gott Verheißungen hinzu, die durch die Ankunft des Messias sicherlich in Erfüllung gehen werden. Diese Verheißungen werden bisweilen in Verbindung gebracht mit den Umständen einer nahen und teilweisen Befreiung, bisweilen auch mit der Verwerfung des in Niedrigkeit gekommenen Christus, wodurch die Sünde des Volkes ihren Gipfelpunkt erreicht hat. Es ist nun wichtig, zwischen dem Teil einer Stelle, der sich auf solche nahe bevorstehende Begebenheiten bezieht, und demjenigen Teile unterscheiden zu können, welcher von der völligen Befreiung spricht, die das prophetische Auge durch jene naheliegenden Ereignisse hindurch in weiter Ferne erblickt. Diese Unterscheidung bildet die Hauptschwierigkeit bei der Auslegung der Prophezeiung.

Ich möchte zu dem früher Gesagten noch hinzufügen, daß, obwohl der Gegenstand der Prophezeiung durchaus kein Bild ist, dennoch Bilder nicht nur häufig angewandt werden, sondern sogar oft in einer und derselben Stelle neben buchstäblich zu nehmenden Ausdrücken vorkommen. Daher kann man bei der Erklärung der prophetischen Bücher keine genaue Regel aufstellen, um zwischen bildlicher und buchstäblicher Bedeutung zu unterscheiden. Hier ist, wie immer beim Studium der Heiligen Schrift, die Hilfe des Heiligen Geistes notwendig, um den wahren Sinn einer Stelle herauszufinden. Was ich hier sage, ist ebensogut auf andere Teile der Schrift anwendbar, sogar wenn es sich um die feierlichsten Umstände handelt. Psalm 22 z. B. besteht aus einer fortlaufenden Mischung von Bildern, die den moralischen Charakter gewisser Tatsachen darstellen, mit anderen Ausdrücken, welche im buchstäblichen Sinne zu nehmen sind. Das Verständnis des Psalmes bietet gar keine Schwierigkeit. Wenn es z. B. heißt: „Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt; sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“, so gibt der Ausdruck Hunde den Charakter derjenigen an, von denen hier die Rede ist. Einer solchen Redeweise begegnet man in allen Sprachen. Sagt man z. B. „Er entwarf ein schönes Bild von der Tugend“, so sind die Worte „er entwarf ein Bild“ natürlich bildlich zu verstehen. Ich sage dies nur, damit man bei der Auslegung der Prophezeiung nicht aus dem eine Schwierigkeit mache, was zur Natur der menschlichen Sprache gehört.

Ich gehe nunmehr zu dem Inhalt dieses so wichtigen Buches der Prophezeiung über. Seine Einteilung ist folgende: Die 4 ersten Kapitel stehen für sich da und bilden eine Art Einleitung. Das 5. steht auch allein; es richtet das Volk im Blick auf die Fürsorge, die Gott für dasselbe an den Tag gelegt hatte. Die Einzelheiten dieses Gerichts werden wir jedoch erst im 9. Kapitel von Vers 8 an aufgezählt finden. Das 6. Kapitel enthält das Gericht des Volkes im Hinblick auf die zukünftige Herrlichkeit des Messias; daher wird auch ein Überrest erwähnt und anerkannt. Das 7. Kapitel führt den Messias, lmmanuel, den Sohn Davids, ausdrücklich ein sowie das Gericht über das Haus Davids dem Fleische nach, so daß es einerseits infolge der unumschränkten Gnade eine gesicherte Hoffnung gibt, andererseits aber das Gericht über die letzte menschliche Stütze des Volkes ergeht. Im 8. Kapitel sehen wir, wie der Assyrer das Land mit Verwüstung überschwemmt, zugleich aber auch, wie Immanuel (der im 7. Kapitel angekündigt wurde) dessen Pläne schließlich vereitelt. Inzwischen gibt es einen vom Volke geschiedenen Überrest, der mit diesem lmmanuel verbunden ist 1. Ferner werden die qualvollsten Umstände erwähnt, durch die das abtrünnige Volk zu gehen hat und die in der vollen Segnung enden, welche die Gegenwart Immanuels herbeiführt. Dieser Gegenstand endet mit dem 7. Verse des 9. Kapitels, so daß wir hier in der Tat die ganze Geschichte der Juden in Verbindung mit Christo vor uns haben. Im 8. Verse wird die allgemeine Geschichte der jüdischen Nation wieder aufgenommen, welche vom Beginn des 6. Kapitels an durch jene wichtige Episode, die Einführung Immanuels, unterbrochen worden war. Der Geist Gottes weist aus der Geschichte der damaligen Zeit die verschiedenen Gerichte Jehovas nach und führt endlich das letzte Werkzeug dieser Gerichte ein, nämlich den Assyrer, die Zuchtrute Jehovas. Und dann wird die sofortige Befreiung in Aussicht gestellt, als eine Ermunterung für den Glauben und als ein Vorbild der schließlichen Zerstörung der Macht, welche in den letzten Tagen die Zuchtrute Jehovas bilden wird. Nachdem Jehova den Verwüster geschlagen hat, zeigt uns das 9. Kapitel den Sproß Davids, zunächst in Seinem moralischen Charakter, und dann in den Resultaten Seiner Herrschaft: der Fülle des Segens und der Gegenwart Jehovas, die dann in Zion, inmitten Seines Volkes, wiederhergestellt sein wird.

Damit ist die ganze Geschichte der Juden in ihren Hauptzügen dargestellt bis zu ihrer Wiedereinsetzung als das Volk Gottes in der Fülle des Segens, indem sie Jehova Selbst in ihrer Mitte haben. Jedoch muß beachtet werden, daß dabei weder vom Antichristen noch von der Herrschaft des Tieres, noch auch von der Zeit der Drangsal als solcher, die Rede ist, weil sich dieses auf den Zeitraum bezieht, währenddessen die Juden von Gott nicht anerkannt werden, obwohl Er Sich mit ihnen beschäftigt, wohingegen die vorliegende Prophezeiung von der Zeit spricht, da sie anerkannt werden. Nur in allgemeinen Ausdrücken wird darauf hingedeutet, daß Gott Sein Angesicht vor dem Hause Jakob verbergen werde; und der Gerechte harrt auf Ihn.

Vom 13. Kapitel an bis zum Ende des 27. haben wir das Gericht der Heiden, sowohl dasjenige Babylons als auch der übrigen Nationen, namentlich aber derer, welche zu allen Zeiten zu Israel in Beziehung standen; sodann die Stellung Israels nicht allein in der Mitte der letzteren, sondern auch inmitten all der anderen Nationen in den letzten Tagen (Kap. 18); und endlich das Gericht der ganzen Welt (Kap. 24) und die völlige Segnung Israels im Tausendjährigen Reiche (Kap. 25 – 27).

Die Kapitel 28 – 35 berichten aufs Eingehendste alles, was den Juden in den letzten Tagen widerfahren wird. Jede dieser Weissagungen schließt mit einem Zeugnis von der Herrlichkeit Gottes in Israel.

In den Kapiteln 36 – 39 führt uns der Heilige Geist einen Abschnitt aus der Geschichte der Regierung Hiskias vor: die Auferstehung des Sohnes Davids gleichsam vom Tode; die Vernichtung des Assyrers, ehe es ihm nur gelang, Jerusalem anzugreifen; und drittens die Gefangenschaft in Babylon. Diese drei Begebenheiten bilden die drei Hauptgrundlagen der ganzen Geschichte und des ganzen Zustandes der Juden in den letzten Tagen.

Der letzte Abschnitt des Buches, vom 40. Kapitel bis zum Schlusse, bildet einen ganz besonderen Teil der Prophezeiung. Gott offenbart hier die Tröstung Seines Volkes und dessen moralische Beziehungen zu Ihm sowie den Grund Seines Haderns mit ihm, sei es im Blick auf die Stellung, die Er dem Volke als Seinem auserwählten Knechte den Nationen gegenüber gegeben hat, sei es mit Bezug auf Israels Verwerfung Christi, des einzig wahren, auserwählten Knechtes, der Gottes Willen völlig erfüllt hat 2. In Verbindung damit wird ein Überrest geoffenbart, der auf diesen wahren Knecht hört, und die Geschichte der Umstände erzählt, durch welche dieser Überrest gehen wird. Demzufolge sehen wir zugleich auch den Zustand des Volkes in den letzten Tagen enthüllt, welcher durch die Erscheinung Jehovas im Gericht ein Ende nimmt. Die Stellung, die Israel den götzendienerischen Nationen gegenüber einnimmt, gibt Veranlassung zur Erwähnung Babylons, seiner Zerstörung und der Befreiung des gefangenen Juda durch Cyrus. Diese Abgötterei ist einer der Gegenstände, über welche Gott mit Seinem Volke rechtet. Ein anderer, noch ernsterer Gegenstand ist die Verwerfung Christi. Indessen müssen wir ein näheres Eingehen hierauf bis auf die Besprechung der einzelnen Kapitel aufschieben.

Die Prophezeiung setzt, wie bereits bemerkt, voraus, daß der Zustand des Volkes Gottes ein schlechter ist, selbst wenn das Volk auch noch als solches anerkannt wird und daher die Prophezeiung empfängt. Es ist nicht notwendig, ein kraftvolles Zeugnis an ein Volk zu richten, welches glücklich in den Wegen des Herrn wandelt, oder den Glauben eines geprüften Überrestes durch Hoffnungen, die auf die unwandelbare Treue und die Vorsätze Gottes gegründet sind, aufrechtzuerhalten, wenn alle in vollkommenem Frieden die Früchte Seiner Güte infolge ihrer Treue genießen. Den Beweis dieses einfachen und leicht verständlichen Grundsatzes findet man in jedem der Propheten.

Es scheint nicht, daß die Propheten, deren Weissagungen in der Heiligen Schrift aufgezeichnet sind, irgendwelche Wunder verrichtet haben. Das Gesetz war damals noch in Kraft, und seine Autorität wurde äußerlich anerkannt. Es gab nichts Neues aufzurichten; die Autorität Jehovas bildete die Grundlage des öffentlichen religiösen Systems des Landes, gemäß den von Ihm Selbst in Verbindung mit Seinem Tempel festgestellten Satzungen. Die praktische Erfüllung der religiösen Pflichten war es, worauf die Propheten drangen. Unter den zehn abgefallenen Stämmen dagegen wirkten Elia und Elisa Wunder, um die Autorität Jehovas wieder zur Geltung zu bringen; so groß sind die Treue Jehovas und Seine Langmut Seinem Volke gegenüber! Ein neuer Gegenstand des Glaubens erfordert Wunder. Alles aber, was sich auf das bereits anerkannte Wort gründet und nicht als ein neuer Gegenstand des Glaubens aufgenommen zu werden braucht, erfordert keine Wunder, wie sehr auch das bereits vorhandene Licht vermehrt werden mag. – Das Wort empfiehlt sich von selbst dem Gewissen derjenigen, die von Gott belehrt sind; und wenn es neue Offenbarungen gibt, so gereichen sie denjenigen zum Troste, welche das praktische Zeugnis schon angenommen und so die Autorität dessen anerkannt haben, der von seiten Gottes redet.

Laßt uns nunmehr das Buch Jesaja im einzelnen betrachten.

Fußnoten

  • 1 Dieser Punkt wird im Matthäusevangelium ausführlich behandelt. Die Stelle selbst wird in Hebräer 2 angeführt. Das, wovon Jes 8,13-18 handelt, ist in Wirklichkeit die auf den Schauplatz tretende Geschichte des Evangeliums. Petrus führt Vers 14 an; Paulus, in Römer 9 , den Stein des Anstoßes; Matthäus erwähnt Jes 9,1.2 in Verbindung mit der Erscheinung Christi in Galiläa.
  • 2 Dieser Ausdruck Knecht liefert gewissermaßen den Schlüssel zu diesem ganzen Teile der Prophezeiung. Zunächst ist es Israel; dann tritt in Jes 49 der Herr an die Stelle Israels, und zuletzt ist es der Überrest. Doch davon später.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel