Betrachtung über das Buch Hohelied (Synopsis)

Kapitel 1

Betrachtung über das Buch Hohelied (Synopsis)

Kapitel 1 gibt uns in der klarsten und einfachsten Weise die Zusicherung des völligen Genusses der Segnung; aber obwohl Liebe vorhanden ist, wird doch alles mehr durch Verlangen als durch Frieden gekennzeichnet. Nachher finden wir Herzensübungen, die zu einem vollen Verständnis der Liebe des Geliebten führen. In diesem Verständnis gibt es ein Fortschreiten, und zwar trotz der Fehler und der Herzensträgheit, die der Liebe, die in Tätigkeit ist, einen neuen Wert verleihen. Dieselbe Art der Unterweisung finden wir in den Psalmen, wo die ersten Verse häufig die Lehre und das Ergebnis angeben, zu denen man durch die nachher geschilderten einzelnen Umstände gelangt ist. Neben dem Friedvollen, das die auf einem gekannten Verhältnis beruhende Liebe kennzeichnet, kommt ein anderes Zeichen der Liebe in Übung, solange jenes Verhältnis noch nicht förmlich besteht. Das Herz beschäftigt sich mit den Eigenschaften, mit den Charakterzügen des Geliebten. Ist man einmal in den Besitz des geliebten Gegenstandes gekommen, so ist man mehr mit dem Gegenstand selbst beschäftigt. Ohne Zweifel bilden die Eigenschaften eine Quelle des Glückes; doch wenn auch die Stellung den Genuss dieser Eigenschaften vermittelt, denkt man doch mehr an die Person, die sie offenbart, als an die Eigenschaften. Gnade, Güte und ähnliche kostbare Dinge mögen das Herz anziehen und beschäftigen, wenn aber die Beziehung einmal besteht, so ist es die Person, an die wir denken. Die Eigenschaften gehören uns dann sozusagen von selbst.

Die Geliebte spricht im Hohenlied viel von den Eigenschaften ihres Geliebten; sie redet gern davon für sich und zu anderen. Man könnte einwenden, dass der Geliebte das noch mehr tue als sie, obwohl Er doch das Verhältnis, in dem Er zu ihr steht, genau kennt. Es ist so; aber warum? Gerade weil sie noch nicht in jenem Verhältnis steht, ist es seine Freude, ihr immer aufs neue zu versichern, welchen Wert sie in seinen Augen hat. Überdies entspricht das der Stellung von Mann und Frau, und das um so mehr, weil es sich hier tatsächlich um Christus selbst handelt. In einem gewissen Sinn genügt Christus sich selbst. Er braucht nicht zu gehen und zu anderen von dem zu reden, was in seinem Herzen ist. Seine Liebe ist eine Liebe, die ihre Quelle in der Gnade hat. Aber es ist unendlich kostbar für uns – wenn wir im Blick auf unsere völlige Unwürdigkeit an der Möglichkeit seiner Liebe zweifeln möchten, gerade weil sie so unschätzbar tief und reich ist – ja, es ist ebenso ergreifend wie kostbar zu sehen, wie Er immer wieder seiner Kenntnis und Schätzung des Wertes der Braut Ausdruck gibt: ihre Schönheit ist vollkommen in seinen Augen, Er kennt ihre Gestalt und beachtet alle Einzelheiten derselben; ein Blick von ihr hat Ihm das Herz geraubt; seine Taube, seine Vollkommene ist die Eine, kein Makel ist an ihr (Hld 4, 7; 6, 9). In diesen immer wiederkehrenden Versicherungen erblicken wir auf seiten des Bräutigams vollkommene Gnade. Sie bilden den Hauptinhalt seiner Unterredungen mit ihr, es ist das, was ihr Herz bedarf.

Ihre Herzensübungen sind viel mannigfaltiger; da gibt es sogar Verfehlungen und Kümmernisse, die aus ihren Mängeln und Fehlern entspringen. Andererseits zeigt sich ein augenscheinlicher Fortschritt in ihrer Gewissheit. Das Lied beginnt mit der Erklärung der Braut, dass ihr Herz dieses Zeugnisses bedürfe. Sie erkennt an, dass sie schwarz ist infolge der sengenden Sonnenstrahlen der Trübsal. Sie sucht Schutz in der Gegenwart ihres Geliebten, der seine Herde am Mittag lagern lässt. Sie möchte Ihm allein gehören. Sie fürchtet sich jetzt, unter den Hirten Israels umherzugehen. Doch wenn der Geist des Herrn sie an die früheren Zeugnisse des Gesetzes und der Propheten erinnert, so bleibt ihr Herz nicht stumm, und das Herz des Geliebten fließt über in der Bezeugung des Wertes, den sie in seinen Augen hat. Wie genau dies alles auf den Überrest in den letzten Tagen passt, liegt auf der Hand. Der Schluss des Kapitels enthält Liebesbezeugungen, die den Gedanken darstellen, der die Lehre dieses Buches bildet.

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