Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Kapitel 22

Betrachtung über Lukas (Synopsis)

In diesem Kapitel beginnen die Einzelheiten des Lebensendes unseres Herrn. Die Hohenpriester suchen, indem sie das Volk fürchten, wie sie Ihn umbringen mögen. Judas, unter dem Einflusse Satans stehend, bietet sich als Werkzeug an, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich Seiner während der Abwesenheit der Menge zu bemächtigen. Das Passah naht heran, und der Herr setzt das fort, was in den damaligen Umständen zu Seinem Werke der Liebe gehörte. Ich möchte die Punkte, die dem Charakter unseres Evangeliums eigentümlich sind, sowie die Veränderung hervorheben, die in unmittelbarer und direkter Verbindung mit dem Tode des Herrn eintrat. So wünschte Jesus dieses letzte Passah mit Seinen Jüngern zu essen, weil Er nicht mehr davon essen wollte, bis es erfüllt sein würde im Reich Gottes, nämlich durch Seinen Tod. Er will auch nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, bis das dem Gewächs des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt. Er sagt hier nicht wie anderswo, bis Er es neu trinken werde in dem Reiche Seines Vaters, sondern nur, dass Er „nicht mehr davon trinken werde, bis das Reich Gottes komme“. Geradeso wie die Zeiten der Nationen als eine gegenwärtige Sache betrachtet werden, finden wir hier auch das Christentum, das Reich so wie es jetzt ist, nicht aber das Tausendjährige Reich. Beachten wir auch, welch einen rührenden Ausdruck der Liebe zu Seinen Jüngern wir hier haben. Sein Herz bedurfte dieses letzten Zeugnisses der Liebe, bevor Er sie verließ.

Der Neue Bund ist auf das Blut gegründet, das hier getrunken wird. Um den Alten Bund war es geschehen. Blut war nötig, um den Neuen zu errichten. Der Bund selbst wurde indes noch nicht errichtet (er wird mit Israel errichtet werden); aber von Seiten Gottes war alles dafür geschehen. Das Blut wurde nicht vergossen, um einem Bunde des Gerichts Kraft zu verleihen, sondern für jene, welche Jesum aufnahmen, während sie der Zeit entgegenharrten, wo der Bund selbst mit Israel errichtet werden soll.

Die Jünger, die dem Worte Jesu, dass einer von ihnen Ihn verraten werde, Glauben schenken, aber sich selbst nicht kennen, befragen sich untereinander, wer es wohl sein könne, der diese schreckliche Tat vollbringen werde (V. 23 u. f.). Und indem sie zugleich auf eine fleischliche Weise an das Reich denken, streiten sie sich um den ersten Platz in demselben, und zwar in Gegenwart des Kreuzes und an demselben Tische, an dem der Herr ihnen die letzten Pfänder Seiner Liebe gibt. Wahrheit des Herzens war vorhanden; aber was für Herzen, um als Wohnstätten der Wahrheit zu dienen! Was den Herrn Selbst betrifft, so hatte Er den niedrigsten Platz eingenommen, und dieser - der vortrefflichste Platz für die Liebe - gehörte Ihm allein. Seine Jünger sollten Ihm so nahe wie möglich nachfolgen; und Seine Gnade erkannte an, dass sie es getan hätten, als wenn Er ihr Schuldner gewesen wäre für die Sorge, die sie Ihm während der Zeit Seiner Drangsal hienieden hatten zuteil werden lassen. Er brachte dies in Erinnerung; und am Tage des Reiches sollten sie als Häupter Israels, in dessen Mitte sie Ihm gefolgt waren, auf zwölf Thronen sitzen.

Allein es handelte sich jetzt darum, durch den Tod zu gehen; und da die Jünger Ihm bis hierhin gefolgt waren und als auf der Erde lebende Menschen Ihm nicht weiter zu folgen vermochten - welch eine Gelegenheit bot sich da dem Feinde, sie zu sichten! Alles, was einem lebenden Christus angehörte, war von Grund aus zerstört, und der Tod war da. Wer konnte hindurchgehen? Satan war bereit, dies zu benutzen, und begehrte ihrer, um sie zu sichten. Jesus sucht nicht Seinen Jüngern diese Sichtung zu ersparen. Es war nicht möglich; denn Er musste Selbst durch den Tod gehen, und ihre Hoffnung war in Ihm. Sie können nicht entrinnen: das Fleisch muss auf die Probe des Todes gestellt werden. Doch Jesus bittet für sie, damit der Glaube eines der Seinigen, den Er besonders nennt, nicht aufhöre. Simon, ein von Natur feuriger Mann, war mehr als alle anderen der Gefahr ausgesetzt, in die ein falsches Vertrauen auf das Fleisch ihn wohl führen, in der es ihn aber nicht aufrecht erhalten konnte. Und dennoch, da er der Gegenstand dieser Gnade von Seiten des Herrn war, sollte sein Fall das Mittel zu seiner Stärke werden. Wissend, was das Fleisch ist und die Vollkommenheit der Gnade kennend, werde er fähig sein, seine Brüder zu stärken. Petrus behauptet, etwas tun zu können; aber gerade in dem, was er tun zu können meinte, sollte er gänzlich zu Fall kommen. Der Herr warnt ihn mit wenigen Worten vor dem, was er wirklich tun würde.

Dann nimmt Jesus Anlass, den Jüngern im Voraus mitzuteilen, dass allem ein naher Wechsel bevorstehe. Während Seiner Gegenwart hienieden, als der wahre Messias, Emmanuel, hatte Er sie vor allen Schwierigkeiten geschützt. Als Er sie durch Israel sandte, hatte es ihnen an nichts gemangelt. Jetzt aber kündigt Er ihnen an (denn das Reich kam noch nicht in Macht), dass sie gleich Ihm der Verachtung und der Gewalttätigkeit ausgesetzt sein würden und, menschlich geredet, für sich selbst sorgen müssten. Dem stets voreiligen Petrus, der die Worte Jesu buchstäblich nahm, wurde gestattet, seine Gedanken durch Vorzeigung zweier Schwerter bloßzulegen. Der Herr wehrt ihm mit einem Worte, das zeigte, dass es nutzlos war, weiterzugehen. Die Jünger waren damals nicht fähig, Ihn zu verstehen. Was Ihn Selbst betrifft, so folgt Er mit vollkommener Ruhe Seinen täglichen Gewohnheiten.

Gedrängt im Geiste durch das, was nahe bevorstand, ermahnt Er Seine Jünger zu beten, dass sie nicht „in Versuchung hineinkommen“ möchten, d. h. dass die Zeiten, in welchen sie, wandelnd mit Gott, auf die Probe gestellt werden würden, nicht ein Anlass für sie werden möchten, sich von Gott zu entfernen, anstatt Ihm zu gehorchen. Denn es gibt in der Tat solche Zeiten (wenn Gott es erlaubt), in denen durch die Macht des Feindes alles auf die Probe gestellt wird.

Dann tritt in der schlagendsten Weise die Abhängigkeit Jesu als Mensch in den Vordergrund. Die ganze Szene in Gethsemane wie auch das Kreuz in Lukas zeigt uns den vollkommen abhängigen Menschen. Er betet, Er unterwirft Sich dem Willen Seines Vaters. Ein Engel stärkt Ihn: das war der Dienst der Engel dem Sohne des Menschen gegenüber. Nachher ist Er in ringendem Kampfe und betet heftiger 1. Als abhängiger Mensch ist Er vollkommen in Seiner Abhängigkeit. Die Tiefe Seiner Leiden vertieft Seinen Verkehr mit dem Vater. Die Jünger wurden schon durch den bloßen Schatten dessen überwältigt, was Jesum zum Gebet veranlasste. Sie nehmen ihre Zuflucht zu der Vergessenheit, die der Schlaf gewährt; aber mit der Geduld der Gnade wiederholt der Herr Seine Warnung. Dann naht sich die Schar derer, die Ihn zu fangen kamen (V.47 u. f.); und Petrus, der sich selbst vertraut, wenn er gewarnt wird, und der sich beim Herannahen der Versuchung dem Schlafe übergibt, während Jesus betet, schlägt mit dem Schwerte drein, während Jesus Sich wie ein Schaf zur Schlachtbank führen lässt; und dann, ach! verleugnet er, während Jesus die Wahrheit bekennt. Allein so unterworfen der Herr dem Willen Seines Vaters auch sein mag, so zeigt Er dennoch deutlich genug, dass Seine Macht nicht von Ihm gewichen ist. Er heilt die Wunde, die Petrus dem Knechte des Hohenpriesters geschlagen hat, und dann lässt Er Sich abführen, indem Er Sich begnügt, der Schar zu bemerken, dass dieses „ihre Stunde und die Macht der Finsternis“ sei. Welch eine traurige und schreckliche Vereinigung von Dingen!

In allen diesen Vorgängen sehen wir die völlige Abhängigkeit des Menschen sowie die Macht des Todes, die als eine Versuchung in ihrer ganzen Kraft gefühlt wird; zugleich aber begegnen wir, abgesehen von dem, was sich in der Seele des Herrn und vor Seinem Vater zutrug, worin wir die Wirklichkeit dieser beiden Dinge erblicken können, der vollkommensten Ruhe und der sanftesten Gelassenheit den Menschen gegenüber, kurz, einer Gnade, die sich nie widersprach. So auch, wenn Petrus, wie ihm vorausgesagt worden, den Herrn verleugnet hat, blickt dieser ihn im passenden Augenblick an. Das ganze Gepränge Seines ungerechten Verhörs zieht Seine Gedanken nicht ab, und Petrus bricht infolge jenes Blickes zusammen (V. 62). Wenn Fragen an Ihn gerichtet werden, hat Er wenig zu sagen; denn Seine Stunde war gekommen. Dem Willen Seines Vaters unterworfen, nimmt Er den Kelch aus Seiner Hand. Seine Richter erfüllten nur den Willen Gottes und bringen Ihm den Kelch dar. Auf die Frage, ob Er der Christus sei, antwortet Er nicht; es war nicht mehr an der Zeit, das zu tun. Sie würden Ihm doch weder geglaubt noch Ihm geantwortet haben, wenn Er Fragen, die die Wahrheit ans Licht gestellt haben würden, an sie gerichtet hätte; auch würden sie Ihn nicht losgelassen haben. Aber wie wir es oft beim Lesen dieses Evangeliums gesehen, legt Er das deutlichste Zeugnis von dem Platze ab, den der Sohn des Menschen von jener Stunde an einnehmen werde. Er sollte sitzen zur Rechten der Macht Gottes. Auch ist zu bemerken, dass dies der Platz ist, den Er gegenwärtig einnimmt; und die, die Ihn umringen, ziehen augenblicklich den richtigen Schluss aus Seinen Worten, indem sie fragen. „Du bist also der Sohn Gottes?“ Er legt Zeugnis von dieser Wahrheit ab, und alles ist beendet; d. h. Er lässt die an Ihn gestellte Frage, ob Er der Messias sei, unerörtert; denn das war für Israel vorbei, da Er hinging, um zu leiden. Er ist der Sohn des Menschen, der aber von da an nur in die Herrlichkeit eintritt; und Er ist der Sohn Gottes.

Fußnoten

  • 1 Beim Vergleichen dieser Stelle mit der Schilderung derselben Ereignisse in den anderen Evangelien finden wir Elemente von dem tiefsten Interesse, die den Charakter dieses Evangeliums in der deutlichsten Weise hervortreten lassen. Der Kampf des Herrn in Gethsemane ist in Lukas viel ausführlicher beschrieben als irgendwo anders; aber an dem Kreuze sehen wir Seine Erhabenheit über die Leiden, in denen Er war: da ist kein Ausdruck der Leiden: Er steht über ihnen. Indes ist es auch nicht, wie in Johannes, die göttliche Seite des Gemäldes. Dort wird von keinem Kampf in Gethsemane gesprochen, sondern sobald der Herr sich zu erkennen gibt, weichen Seine Häscher zurück und fallen zu Boden. Auf dem Kreuze hören wir kein: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“, sondern Er übergibt Gott Seinen Geist. Anders ist es in Lukas. In Gethsemane haben wir den Mann der Schmerzen vor uns, einen Menschen, der das, was Ihm bevorstand, in seiner ganzen Tiefe fühlte und der zu Seinem Vater emporblickte. „Als er in ringendem Kampfe war, beteten er heftiger.“ An dem Kreuze finden wir Den, der Sich als Mensch dem Willen Seines Vaters unterworfen hat und der, wie groß auch der Schmerz und das Leiden sein mögen, in vollkommener Ruhe über allem steht. Er fordert die weinenden Frauen auf, über sich selbst zu weinen, nicht aber Ihn, den grünen Baum; denn das Gericht war im Anzuge. Er bittet für diejenigen, die Ihn kreuzigten. Er verkündigt dem armen Räuber, der bekehrt wurde, Frieden und himmlische Freude. Er ging in das Paradies ein, ehe das Reich kam. Dieselbe Sache tritt in besonderer Weise in dem Augenblick Seines Todes hervor. Es heißt nicht: „Er gab seinen Geist auf“, sondern: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Er vertraut Seinen Geist im Tode - als ein Mensch, der Gott als Seinen Vater kennt und an Ihn glaubt - Ihm an, den Er also kannte. In Matthäus haben wir Sein Verlassensein von Gott und Sein Gefühl davon. Dieser Charakter des Evangeliums Lukas, indem es Christum in bestimmter Weise als vollkommenen Menschen darstellt, und der vollkommene Mensch Selbst sind voll des tiefsten Interesses. Er ging durch Seine Trübsale mit Gott und stand dann in vollkommenem Frieden über ihnen allen; Er vertraute vollkommen auf Seinen Vater, selbst im Tode - auf einem Pfade, der bis dahin von keinem Menschen betreten worden war.
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