Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Kapitel 15

Betrachtung über Lukas (Synopsis)

Nachdem der Herr so die Verschiedenheit in dem Charakter der beiden Haushaltungen des Gesetzes und der Gnade sowie die Umstände des Übergangs aus der einen Haushaltung in die andere entwickelt hat, geht Er über zu erhabeneren Grundsätzen, zu den Quellen der Haushaltung, die durch die Gnade eingeführt wurde. Hier wie in den vorhergehenden Kapiteln stehen diese beiden Haushaltungen im Gegensatz zueinander; aber dieser Gegensatz erhebt sich hier zu seiner herrlichen Quelle in der Gnade Gottes selbst, die der elenden Selbstgerechtigkeit des Menschen gegenübergestellt wird.

Die Zöllner und Sünder nahten sich zu Jesu, um Ihn zu hören. Die Gnade hatte für diejenigen, die ihrer bedurften, ihren wahren Wert. Die Eigengerechtigkeit stieß das, was nicht so verabscheuungswürdig war wie sie selbst, und zu gleicher Zeit Gott in Seiner Natur der Liebe von sich zurück. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten wider Den, der der Zeuge dieser Gnade war, indem Er sie erfüllte. Ich kann keine Betrachtung über dieses Kapitel anstellen, das, seitdem der Herr seinen Inhalt verkündet hat, die Freude so vieler Seelen und der Gegenstand so vieler Zeugnisse der Gnade gewesen ist, ohne mich über die Gnade zu verbreiten, die in ihrer Anwendung auf das Herz vollkommen ist. Nichtsdestoweniger muss ich mich hier auf die Hauptgrundsätze beschränken und ihre Anwendung denen überlassen, die das Wort verkündigen. Es ist dies eine Schwierigkeit, die sich beständig in diesem Teile des Wortes darbietet.

Der Hauptgrundsatz, den der Herr zunächst vor uns stellt und auf den Er die Rechtfertigung der Wege Gottes gründet (wie traurig ist der Herzenszustand, der dies notwendig macht, und wie wunderbar die Gnade und die Geduld, die ihn mitteilen!) - dieser Hauptgrundsatz, sage ich, ist, dass Gott Seine Freude daran findet, Gnade zu üben. Welch eine Antwort auf die abscheuliche Gesinnung der Pharisäer, die dieserhalb einen Einwand erhoben! Es ist der Hirt, der sich freut, wenn das verlorene Schaf wieder gefunden ist; es ist das Weib, das Freude empfindet, wenn es die Drachme in seiner Hand hält, und es ist der Vater, der erfreut ist, wenn der Sohn in seinen Armen liegt. Welch ein Ausdruck von dem, was Gott ist! Und wer könnte uns dies mitteilen wie Jesus! Hierauf allein kann alle Segnung des Menschen sich gründen; und hierin allein wird Gott verherrlicht in Seiner Gnade. Aber in dieser Gnade zeigen sich zwei unterschiedliche Teile: die Liebe, die sucht, und die Liebe, mit der man aufgenommen wird.

Die beiden ersten Gleichnisse schildern den ersten Charakter, die Tätigkeit dieser Gnade. Der Hirt sucht sein Schaf, das Weib ihr Geldstück; das Schaf und das Geld sind in keiner Weise tätig. Wie das Weib, so sucht auch der Hirt so lange, bis er das Verlorene findet, weil er Interesse an dem Gegenstande hat. Das Schaf, das von seinem Umherirren ermüdet ist, hat keinen Schritt zu tun bei seiner Rückkehr. Der Hirt legt es auf seine Schultern und trägt es heim. Glücklich, sein Schaf wieder erhalten zu haben, nimmt er die ganze Last auf sich. Das ist die Gesinnung des Himmels, wie auch das Herz des Menschen auf der Erde sein mag; es ist das Werk Christi, des Guten Hirten. Das Weib zeigt uns die Mühe, die Gott Sich in Seiner Liebe gibt, so dass ihr Werk mehr dasjenige des Heiligen Geistes vorstellt. Sie zündet ein Licht an und kehrt das Haus aus, bis sie das verlorene Geldstück wieder findet. Ebenso handelt Gott in der Welt bei dem Suchen der Sünder. Die hassende und hassenswürdige Eifersucht der Eigengerechtigkeit findet keinen Raum in der Gesinnung des Himmels, da wo Gott wohnt, und wo Er in dem Glück, das Ihn umgibt, den Abglanz Seiner eigenen Vollkommenheiten wieder hervorstrahlen lässt.

Aber obwohl weder das Schaf noch die Drachme etwas zu ihrem Wiederfinden beitragen, so geht doch in dem Herzen eines Zurückgeführten ein wirkliches Werk vor; allein dieses Werk - so notwendig es auch ist, um Frieden zu finden oder selbst ihn zu suchen - ist nicht das, worauf dieser Friede sich gründet. Daher werden im dritten Gleichnis die Umkehr und die Annahme des Sünders geschildert; in den beiden ersten finden wir das Werk der Gnade dargestellt, das in seiner Wirkung vollkommen ist und durch die Macht Gottes allein getan wird. In dem dritten kehrt der Sünder mit Gefühlen zurück, die wir jetzt zu untersuchen gedenken - mit Gefühlen, die, obwohl durch die Gnade erzeugt, sich nicht eher bis zu der Höhe der in seiner Aufnahme geoffenbarten Gnade erheben, bis er zurückgekehrt ist. - Zunächst schildert uns das Wort seine Entfernung von Gott. Ebenso schuldig in dem Augenblick, als er die väterliche Schwelle überschritt und seinem Vater den Rücken wandte, wie zu der Zeit, da er mit den Schweinen Träber aß, wird hier der durch die Sünde betrogene Mensch in dem niedrigsten Zustande seiner Entwürdigung dargestellt, in die ihn die Sünde gebracht hat. Nachdem er das, was ihm der Natur nach zugefallen ist, verschwendet hat, treibt ihn die Not, in der er sich befindet, nicht zu Gott sondern veranlasst ihn, sich mit dem zufrieden zu geben, was das Land Satans (wo nichts geschenkt wird) darzubieten vermag, und er befindet sich unter den Schweinen. Allein die Gnade wirkt, und der Gedanke an das Glück im Hause seines Vaters und an die Güte, die alles um sie her beglückt, erwacht in seinem Herzen. Wo der Geist Gottes wirkt, da ist die Überzeugung vorhanden, dass wir verloren gehen, und ein vielleicht schwaches, aber wahres Gefühl von der Güte Gottes und von dem Glücke, das in Seiner Gegenwart zu finden ist, obwohl wir aber unserer Annahme noch nicht gewiss sein mögen; und wir bleiben dann nicht an dem Platze, wo wir verloren gehen. Ein Gefühl über Sünde, Selbstgericht und Demütigung ist vorhanden, aber noch nicht das Gefühl von dem, was die Gnade Gottes wirklich ist. Die Gnade zieht an - man geht zu Gott; aber man würde zufrieden sein, eine Aufnahme zu finden wie ein Tagelöhner - ein Beweis, dass das Herz, obwohl die Gnade darin wirkt, Gott noch nicht begegnet ist. Der Fortschritt in der Seele mag wirklich sein, aber er gibt nie Frieden. Die Rückkehr zu Gott verleiht dem Herzen eine gewisse Ruhe; aber man weiß nicht, welche Aufnahme man nach der gänzlichen Abkehr von Gott, deren man sich schuldig gemacht hat, zu erwarten hat. Je mehr sich der verlorene Sohn dem Hause näherte, desto lauter musste sein Herz schlagen bei dem Gedanken an das Zusammentreffen mit seinem Vater. Doch der Vater kommt der Ankunft des Sohnes zuvor und handelt gegen ihn nicht nach dessen Verdienst, sondern nach seinem eigenen Herzen als Vater, und das ist die einzige Richtschnur der Wege Gottes gegen uns. Er hängt am Halse seines Sohnes, während dieser noch in seinen Lumpen ist und ehe er Zeit hat zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner!“ Der Sohn, der Gegenstand einer solchen Aufnahme, konnte nicht mehr in dieser Weise reden; es ist die Sprache eines Herzens, das sich vorher ausmalt, wie es wohl empfangen werden wird, aber nicht diejenige eines Herzens, das mit Gott zusammengetroffen ist. Ein solches weiß, wie es empfangen worden ist. Der verlorene Sohn nahm sich vor, jene Worte zu sagen (wie man auch heute von einer „schwachen Hoffnung“ und einem „geringen Plätzchen“ spricht), aber als er anlangte, tat er es nicht, obwohl sein Bekenntnis vollkommen war. Wie hätte er es auch tun können? Das Herz des Vaters hatte die Stellung des Sohnes entschieden durch seine eigenen Gefühle sowie durch seine Liebe gegen ihn und durch den Platz, den sein Herz ihm bei sich selbst gab. Die Stellung des Vaters entschied diejenige des Sohnes. Das war es, worauf sich das Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohne gründete; allein es war nicht alles. Der Vater liebte seinen Sohn, gerade so wie er war; allein er führte ihn in diesem Zustande nicht in das Haus ein. Dieselbe Liebe, die ihn als Sohn aufnahm, wollte, dass er auf eine Weise in das Haus eintrete, wie sie dem Sohne eines solchen Vaters entsprechend war. Die Diener werden aufgefordert, das beste Kleid zu bringen und es ihm anzuziehen. In dieser Weise in unserer Nichtswürdigkeit von Gott geliebt und aufgenommen, werden wir mit Christo bekleidet, um in das Haus des Vaters eingeführt zu werden. Wir bringen das Kleid nicht mit, Gott versieht uns damit; es ist eine durchaus neue Sache, und wir werden die Gerechtigkeit Gottes in Christo. Das ist das beste Kleid des Himmels! Alle übrigen im Hause haben teil an der Freude, ausgenommen der Selbstgerechte, der wahre Jude. Die Freude ist die Freude des Vaters; allein das ganze Haus teilt sie. Der älteste Sohn ist nicht in dem Hause. Er ist in der Nähe desselben, aber er will nicht hineinkommen. Er will nichts zu tun haben mit der Gnade, die den armen Verlorenen zum Gegenstand der Freude, der Liebe macht. Nichtsdestoweniger wirkt diese Gnade; der Vater geht hinaus und bittet ihn, hereinzukommen. Gerade so hat Gott in dem Evangelium gegen die Juden gehandelt; doch die menschliche Gerechtigkeit, die nur Selbstsucht und Sünde ist, verwirft die Gnade. Gott aber will Seine Gnade nicht aufgeben, denn sie geziemt Ihm. Gott will Gott sein, und Gott ist Liebe.

Das ist es, was an die Stelle der Anmaßungen der Juden tritt, die den Herrn und die Erfüllung der Verheißungen in Ihm verworfen haben. Das, was uns Frieden gibt und unsere Stellung kennzeichnet, sind nicht die in uns gewirkten Gefühle, wiewohl diese wirklich vorhanden sind, sondern die Gefühle Gottes Selbst.

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