Betrachtungen über das erste Buch Mose

Jakobs Flucht nach Haran

Betrachtungen über das erste Buch Mose

In der Schule Gottes (1)

Wir kommen jetzt zu der Reise Jakobs, wie er fern vom elterlichen Haus einsam und heimatlos auf der Erde umherwandert. Hier beginnen die besonderen Wege Gottes mit ihm. Während einerseits Jakob anfängt, die bitteren Früchte seines Verhaltens gegenüber Esau zu ernten, sehen wir andererseits, wie Gott sich über alle Schwachheit und Torheit seines Dieners erhebt und in seinen Handlungen mit ihm seine unumschränkte Gnade und seine unendliche Weisheit entfaltet. Gott wird immer seine Vorsätze ausführen, wenn auch durch unterschiedliche Mittel. Wenn aber ein Kind Gottes in Ungeduld und Unglauben sich der Regierung Gottes entziehen will, kann es sich darauf gefasst machen, durch traurige Erfahrungen und eine schmerzende Zucht hindurchgehen zu müssen. So war es bei Jakob. Er hätte nicht nach Haran zu fliehen brauchen, wenn er es Gott überlassen hätte, für ihn zu handeln. Gott hätte sich sicher mit Esau beschäftigt und ihn das Teil finden lassen, das für ihn bestimmt war, und Jakob hätte den Frieden verspüren können, den eine völlige Unterwerfung unter die Hand Gottes schenkt.

Aber gerade hier offenbart sich immer wieder die außerordentliche Schwachheit unserer Herzen. Wir wollen etwas tun, anstatt der Hand Gottes stillzuhalten, und durch unser Handeln hindern wir Gott, seine Gnade und seine Macht für uns verwenden zu können. „Lasst ab und erkennt, dass ich Gott bin!“ (Ps 46,11), ist ein Befehl, dem wir nur gehorchen können, wenn die Macht der Gnade in uns tätig ist. „Lasst eure Milde kundwerden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden“. Und was wird das Ergebnis sein? „Der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christus Jesus“ (Phil 4,5–7).

Während wir die Früchte unserer Wege, unserer Ungeduld und unseres Unglaubens ernten müssen, benutzt Gott in seiner Gnade unsere Schwachheit und Torheit, um uns seine zärtliche Gnade und seine vollkommene Weisheit gründlicher verstehen zu lassen. Ohne irgendwie Ungeduld und Unglauben zu rechtfertigen, stellt dies in wunderbarer Weise die Güte unseres Gottes heraus und dient unserem Herzen selbst dann zum Trost, wenn wir vielleicht wegen unserer Verirrungen durch schwierige Umstände gehen müssen. Gott steht über allem, und überdies ist es sein besonderes Vorrecht, aus dem Bösen Gutes, „aus dem Fresser Fraß, und aus dem Starken Süßigkeit“ (Ri 14,14) hervorkommen zu lassen. Wie wahr es daher auch sein mag, dass Jakob wegen seiner Ungeduld und seines Betruges gezwungen war, in der Verbannung zu leben, so ist es andererseits doch ebenso wahr, dass er niemals die Bedeutung von „Bethel“ kennengelernt hätte, wenn er unter dem väterlichen Dach geblieben wäre. In jedem Abschnitt der Geschichte Jakobs finden sich diese beiden Seiten. Hatte seine Torheit ihn aus dem Haus seines Vaters getrieben, so brachte sie ihn andererseits dahin, in einem gewissen Maß die Glückseligkeit und Feierlichkeit des „Hauses Gottes“ zu schmecken.

Bethel, das Haus Gottes

„Und Jakob zog aus von Beerseba und ging nach Haran. Und er gelangte an einen Ort und übernachtete dort; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn an sein Kopfende und legte sich nieder an jenem Ort“ (V. 10.11). Hier befindet sich Jakob, der heimatlose Flüchtling, genau in der Stellung, in der Gott ihm begegnen und seine Ratschlüsse der Gnade und Herrlichkeit ihm zeigen konnte. Nichts könnte klarer die Nichtigkeit und Ohnmacht des Menschen ausdrücken, als die Lage, in der wir Jakob hier sehen. Er liegt unter freiem Himmel in der Hilflosigkeit des Schlafes und hat nur einen Stein als Kopfkissen. „Und er träumte: Und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und siehe, der HERR stand über ihr und sprach: Ich bin der HERR, der Gott Abrahams, deines Vaters, und der Gott Isaaks; das Land, auf dem du liegst, dir will ich es geben und deinen Nachkommen. Und deine Nachkommen sollen wie der Staub der Erde werden, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden und nach Süden; und in dir und in deinen Nachkommen sollen gesegnet werden alle Familien der Erde. Und siehe, ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan was ich zu dir geredet habe“ (V. 12–15). Hier haben wir in der Tat „Gnade und Herrlichkeit“. Die „auf die Erde gestellte Leiter“ leitet naturgemäß das Herz zu Gedanken über die Offenbarung der Gnade Gottes in der Person und dem Werk des Sohnes. Auf der Erde wurde das wunderbare Werk erfüllt, das die feste, ewige Grundlage aller Ratschlüsse bezüglich Israel, der Versammlung und der Welt bildet. Auf der Erde war es, wo Jesus lebte, wirkte und starb, damit Er durch seinen Tod alles wegräumte, was der Erfüllung der Ratschlüsse Gottes bezüglich der Segnung des Menschen im Weg stand.

Aber „die Spitze der Leiter rührte an den Himmel“. Sie bildete das Bindeglied zwischen Himmel und Erde, und die Worte „die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder“ geben uns ein schönes und treffendes Bild von ihm, durch den Gott herabstieg in die Tiefe des menschlichen Elends, und durch den Er auch den Menschen für immer in seine Gegenwart versetzt hat. Gott hat für die Erfüllung seiner Pläne jede nötige Maßnahme getroffen.

Die unumschränkte Gnade Gottes

Der Prophet Hosea berichtet uns von der Zeit, in der die durch die Leiter Jakobs angedeuteten Dinge ihre volle Erfüllung finden werden. „Und ich werde an jenem Tag einen Bund für sie schließen mit den Tieren des Feldes und mit den Vögeln des Himmels und mit den kriechenden Tieren der Erde; und ich werde Bogen und Schwert und den Krieg aus dem Land zerbrechen und werde sie in Sicherheit wohnen lassen. Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue; und du wirst den HERRN erkennen. Und es wird geschehen an jenem Tag, da werde ich erhören, spricht der HERR: Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde wird das Korn und den Most und das Öl erhören; und sie, sie werden Jisreel erhören. Und ich will sie mir säen im Land und will mich über LoRuchama erbarmen. Und ich will zu Lo-Ammi sagen: ‚Du bist mein Volk'; und es wird sagen: ‚Mein Gott'“ (Hos 2,20–25). Auch die Worte des Herrn in Johannes 1,51: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen“, enthalten eine Anspielung auf das Traumgesicht Jakobs.

Dieser Traum ist eine wunderbare Offenbarung der Gnade Gottes im Blick auf Israel. Wir haben etwas von dem wahren Charakter Jakobs kennengelernt und das zeigt uns, dass er nur auf dem Weg der Gnade gesegnet werden konnte. Weder seine Geburt noch sein Charakter verliehen ihm irgendwelche Ansprüche. Wenn man die Souveränität Gottes außer Acht lässt, hätte Esau auf Geburt und Charakter Ansprüche stützen können, aber Jakob besaß nichts dergleichen. Wenn daher Esau seine Rechte nur auf Kosten der Souveränität Gottes behaupten konnte, konnte Jakob nur aufgrund dieser Souveränität Rechte besitzen. Er konnte so wenig irgendeinen Anspruch stellen, dass er sich auf nichts anderes stützen konnte als auf die freie und unumschränkte Gnade Gottes. Die Offenbarung, die der Herr hier seinem Knecht gibt, spricht deshalb einfach davon, was Er, der HERR, noch tun würde. Wir lesen: „Ich bin der HERR – ich will geben – ich will behüten – ich will zurückbringen – ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan was ich zu dir geredet habe“ (V. 13–15). Alles ist von Gott selbst, und zwar ohne irgendeine Bedingung, denn wo die Gnade handelt, gibt es kein „Wenn“ und kein „Aber“. Wo es noch ein „Wenn“ gibt, herrscht nicht die Gnade. Wohl kann Gott den Menschen in eine verantwortliche Stellung setzen, in der Er sich notwendigerweise mit einem „Wenn“ an ihn richten muss. Aber der auf einem steinernen Kopfkissen eingeschlafene Jakob befand sich nicht in einer Stellung der Verantwortlichkeit, sondern in tiefer Hilflosigkeit und Schwachheit, deshalb war er in der Lage, eine Offenbarung der reichen und bedingungslosen Gnade zu empfangen.

Wir können es nur als großen Segen betrachten, dass wir uns in einer Stellung befinden, wo wir keine andere Stütze haben als Gott selbst, und dass ferner jede wahre Segnung und jede wirkliche Freude, die wir empfangen, den Charakter und die unumschränkten Rechte Gottes als Ursprung haben. Nach diesem Grundsatz wäre es ein unersetzlicher Verlust für uns, auf einem von uns selbst gewählten Boden zu stehen, denn dann müsste Gott sich auf dem Boden der Verantwortlichkeit an uns wenden, und alles wäre für uns verloren. Jakob war in einem so traurigen Zustand, dass nur Gott für ihn handeln konnte. Und beachten wir, dass er sich aus Mangel an Erkenntnis dieser Wahrheit immer wieder in Trübsale und Schwierigkeiten brachte.

Furcht in der Gegenwart Gottes

Gottes Offenbarung seiner selbst und unser Ruhen in dieser Offenbarung sind zwei verschiedene Dinge. Gott offenbarte sich Jakob in unendlicher Gnade, aber kaum war dieser aus seinem Schlaf erwacht, als er seinen wahren Charakter zeigte und bewies, wie wenig er in Wirklichkeit den kannte, der sich ihm soeben in wunderbarer Weise offenbart hatte. „Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies ist die Pforte des Himmels“ (V. 17). Er fühlte sich nicht zu Hause in der Gegenwart Gottes, und so ist es immer, wenn das Herz nicht ganz zerbrochen ist und der Mensch sich selbst nicht aufgegeben hat. Gott ist gern bei einem zerbrochenen Herzen, und ein zerbrochenes Herz ist glücklich in der Nähe Gottes. Aber das Herz Jakobs war noch nicht so weit. Auch hatte er noch nicht gelernt, wie ein kleines Kind in der vollkommenen Liebe dessen zu ruhen, der sagen konnte: „Jakob habe ich geliebt“ (Siehe Mal 1,2; Röm 9,13). „Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“ (1. Joh 4,18). Wo diese Liebe nicht erkannt und verwirklicht wird, zeigt sich stets Unbehagen und Angst. Das Haus und die Gegenwart Gottes sind nicht Furcht erregend für eine Seele, die die Liebe Gottes kennt, wie sie sich in dem vollkommenen Opfer Christi gezeigt hat. Diese Seele sagt: „HERR, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit“ (Ps 26,8). Und: „Eins habe ich von dem HERRN erbeten, danach will ich trachten: zu wohnen im Haus des HERRN alle Tage meines Lebens, um anzuschauen die Lieblichkeit des HERRN und nach ihm zu forschen in seinem Tempel“ (Ps 27,4). Und weiter: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, HERR der Heerscharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen des HERRN „ (Ps 84,2.3). Wenn das Herz in der Erkenntnis Gottes gegründet ist, wird es auch das Haus Gottes lieben, welchen Charakter es auch tragen mag, sei es Bethel oder der Tempel zu Jerusalem, oder die Versammlung Gottes, die aus allen wahren Gläubigen, „aufgebaut zu einer Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22), besteht. Jakobs Erkenntnis von Gott und seinem Haus war zu dieser Zeit noch sehr gering, und der Bund, den er in den letzten Versen unseres Kapitels mit Gott schließen will, ist typisch und zeigt uns, wie wenig er den Charakter Gottes kannte.

„Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Weg, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Haus meines Vaters, so soll der HERR mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem, was du mir geben wirst, werde ich dir gewisslich den Zehnten geben“ (V. 20–22). Beachten wir die Worte Jakobs. Er sagt: „Wenn Gott mit mir ist“. Und doch hatte Gott gerade mit Nachdruck versichert: „Ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wo du hingehst, und dich zurückbringen in dieses Land usw.“ Trotz dieser Zusicherung ist Jakob unfähig, sich über ein „Wenn“ zu erheben, oder im Blick auf die Güte Gottes höhere Gedanken zu fassen als solche, die sich auf Brot und Kleider“ beziehen. Das waren die Gedanken eines Mannes, der eben erst das herrliche Bild von der Himmelsleiter geschaut hatte, über der der Herr stand und ihm unzählbare Nachkommen und ein ewiges Besitztum verhieß. Jakob war unfähig, die Wirklichkeit und Fülle der Gedanken Gottes zu begreifen. Er maß Gott an sich selbst und täuschte sich daher. Jakob war noch nicht mit seiner eigenen Kraft am Ende und hatte folglich noch nicht mit Gott angefangen.

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