Betrachtungen über das erste Buch Mose

Kain und Abel

Betrachtungen über das erste Buch Mose

Der Religiöse und der Gläubige

Je mehr man die einzelnen Abschnitte des ersten Buches Mose betrachtet, umso stärker wird der Eindruck, dass hier im Keim die ganze Bibel, ja die Geschichte der Menschheit verborgen liegt.

So zeigt uns das 4. Kapitel in Kain und Abel die ersten Beispiele eines religiösen Weltmenschen und eines wahren Gläubigen. Da sie außerhalb Edens geboren und Söhne des gefallenen Adam waren, konnten sie nichts besitzen, was sie in ihrer Natur voneinander unterschieden hätte. Beide waren Sünder. Beide hatten eine gefallene Natur. Keiner war schuldlos. Wenn der Unterschied zwischen Kain und Abel in ihrer Natur gelegen hätte, so wäre das ein Beweis davon gewesen, dass sie weder die gefallene Natur ihres Vaters in sich trugen noch an seinen Umständen teilhatten, so dass für die Gnade und für den Glauben kein Raum geblieben wäre.

Manche lehren, dass jeder Mensch mit Eigenschaften und Fähigkeiten geboren wird, die ihn bei richtiger Benutzung befähigen, zu Gott zurückzukehren. Damit wird jedoch die uns hier gezeigte Tatsache geleugnet. Kain und Abel waren nicht innerhalb, sondern außerhalb des Paradieses geboren. Sie waren nicht Söhne eines unschuldigen, sondern eines gefallenen Adam. Sie traten in die Welt mit der Natur ihres Vaters, und in welcher Entwicklungsstufe diese Natur sich auch zeigen mochte, sie blieb doch immer die gefallene, verdorbene und unheilbare Natur.

„Was aus dem Fleisch geboren ist, ist (nicht nur „fleischlich“, sondern) Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist (nicht nur „geistlich“, sondern) Geist“ (Joh 3,6).

Wenn es jemals für die verschiedenen Eigenschaften, Fähigkeiten, und Neigungen der Natur eine schöne Gelegenheit gab, sich zu offenbaren, so war es die Lebenszeit Kains und Abels. Wenn noch irgendetwas in der Natur vorhanden war, wodurch sie ihre verlorene Reinheit wiedererlangen und sich den Rücktritt in das verlorene Paradies erkaufen konnte, dann war jetzt der Augenblick dafür gekommen. Aber es gab nichts Derartiges. Beide Männer waren verloren. Sie waren „Fleisch“. Sie waren nicht rein. Adam verlor seine Reinheit, und er hat sie nie wiedererlangt. Er kann nur als das gefallene Haupt eines gefallenen Geschlechts betrachtet werden, das durch seinen „Ungehorsam in die Stellung von Sündern“ versetzt worden ist (Röm 5,19). Er wurde die verdorbene Quelle, aus der die verdorbenen Ströme einer ruinierten und schuldigen Menschheit ausgeflossen sind, der abgestorbene Stamm, aus dem die Zweige einer sittlich und geistlich toten Menschheit hervorgesprosst sind.

Freilich sehen wir, wie bereits bemerkt, dass er ein Gegenstand der Gnade war, der einen lebendigen Glauben an den verheißenen Erretter besaß, aber das war nichts Natürliches, sondern etwas von Gott Gewirktes. Da es nichts Natürliches war, konnte es auch nicht durch Fähigkeiten der Natur weitergegeben werden. Es war durchaus nicht erblich. Adam konnte seinen Glauben dem Kain oder Abel nicht vermachen. Dass er ihn besaß, war einfach die Frucht göttlicher Liebe. Er war durch göttliche Macht in seine Seele eingepflanzt worden, und Adam besaß keine göttliche Macht, ihn einem anderen zu geben. Alles Natürliche konnte Adam auf natürlichem Weg weitergeben, aber weiter nichts. Und da der Vater in einem Zustand des Verfalls war, so konnten die Söhne sich nur in demselben Zustand befinden. Sie müssen die Natur dessen teilen, aus dem sie hervorgegangen sind „wie der von Staub ist, so sind auch die, die von Staub sind“ (1. Kor 15,48).

Adam und Christus – zwei „Stammväter“ der Menschheit

In Römer 5,12–21 finden wir, dass der Apostel das ganze menschliche Geschlecht unter zwei Häuptern zusammengefasst betrachtet. Ich möchte bei dieser Stelle nicht länger stehen bleiben, sondern führe sie nur an in Verbindung mit dem vorliegenden Thema. Auch das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes gibt uns eine ähnliche Unterweisung. In dem ersten Menschen haben wir Sünde, Ungehorsam und Tod, in dem zweiten Menschen Gerechtigkeit, Gehorsam und Leben. Wie wir von dem ersten Menschen eine Natur empfangen, so auch von dem zweiten Menschen. Ohne Zweifel entfaltet jede Natur ihre eigenen besonderen Tätigkeiten. Sie offenbart bei jedem Menschen ihre eigenen besonderen Kräfte. Dennoch hat jeder Mensch teil an der wirklichen, deutlich in Erscheinung tretenden, wenn auch abstrakten, Natur.

So wie wir durch die Geburt eine Natur von dem ersten Menschen empfangen, werden wir auch durch die neue Geburt der Natur des zweiten Menschen teilhaftig. Als Geborene besitzen wir die Natur des ersten, als Wiedergeborene die des letzten Adam. Ein neugeborenes Kind hat teil an Adams Natur, obwohl es völlig unfähig ist, die Handlung auszuführen, die Adam in die Stellung eines verlorenen Wesens brachte. Ebenso ist ein neugeborenes Kind Gottes, eine eben erst bekehrte Seele seiner Natur teilhaftig, obwohl sie mit der Ausübung des vollkommenen Gehorsams „des Menschen Christus Jesus“ nicht das Geringste zu tun gehabt hat. Tatsächlich ist mit der ersten Natur Sünde, mit der zweiten Gerechtigkeit verbunden, und zwar im ersten Fall die Sünde des Menschen, im zweiten die Gerechtigkeit Gottes. Aber mögen auch die Eigenschaften sein wie sie wollen, das Teilhaben an einer wirklichen Natur ist vorhanden. Das Kind Adams hat teil an der menschlichen Natur und ihren Eigenschaften, und das Kind Gottes besitzt die göttliche Natur und ihre Eigenschaften. Die erste Natur ist „nach dem Willen des Mannes“ (Joh 1,13), die zweite nach dem Willen Gottes, wie Jakobus uns durch den Heiligen Geist belehrt: „Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt“ (Jak 1,18).

Zwei Opfer

Aus dem Gesagten geht hervor, dass Abel sich im Naturell durchaus nicht von seinem Bruder Kain unterschied. Worin lag denn nun ihre große Verschiedenheit? Die Antwort ist so einfach, wie das Evangelium der Gnade Gottes sie machen kann. Die Verschiedenheit lag nicht in ihnen selbst, sondern ausschließlich in ihren Opfern. Die Geschichte Abels zeigt, auf welchem Boden allein der Mensch Gott nahen kann, und welches die Grundlage seiner Stellung vor Gott und seines Verhältnisses zu ihm ist. Sie belehrt uns deutlich, dass wir nicht aufgrund von etwas, was die Natur hervorbringt, Gott nahen können, sondern dass wir außerhalb unser selbst und in der Person und dem Werk eines Anderen die wahre Grundlage unserer Verbindung mit dem heiligen Gott suchen müssen. Das 11. Kapitel des Hebräerbriefes stellt uns den ganzen Gegenstand klar und umfassend vor Augen. „Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain, durch das er Zeugnis erlangte, dass er gerecht war, wobei Gott Zeugnis gab zu seinen Gaben; und durch diesen redet er noch, obgleich er gestorben ist“ (V. 4). Hier werden wir belehrt, dass es sich nicht um die Menschen, sondern nur um ihre „Opfer“ handelt. Es ging nicht um den Opfernden, sondern um das, was er opferte. Hier liegt der große Unterschied zwischen Kain und Abel. Und jetzt wollen wir die Art ihrer Opfer untersuchen.

Das Opfer Kains

„Und es geschah nach Verlauf einer Zeit, da brachte Kain dem HERRN eine Opfergabe von der Frucht des Erdbodens; und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht“ (Kap. 4,3–5). Diese Stelle hebt den Unterschied klar hervor. Kain opferte dem HERRN von der Frucht einer verfluchten Erde, und zwar ohne Blut, das den Fluch hätte beseitigen können. Er brachte ein unblutiges Opfer dar, weil er keinen Glauben hatte. Hätte er Glauben gehabt, so hätte er schon in jener frühen Zeit gelernt, dass „es ohne Blutvergießung keine Vergebung gibt“ ist (Heb 9,22). Das ist eine große Grundwahrheit. „Der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23). Kain war ein Sünder, und deshalb stand der Tod zwischen ihm und dem HERRN. Aber sein Opfer zeigte nicht die geringste Anerkennung dieser Tatsache, keine Darbringung eines geopferten Lebens, um den Ansprüchen der Heiligkeit Gottes zu begegnen oder seinem eigenen Zustand als Sünder zu entsprechen. Er behandelte den HERRN wie jemand seinesgleichen, der die sündbefleckte Frucht einer verfluchten Erde annehmen konnte. Er verriet völlige Unwissenheit hinsichtlich der Forderungen Gottes, und er kannte auch nicht seinen eigenen Charakter und seine Stellung als verlorener und schuldiger Sünder und den wahren Zustand der Erde, deren Frucht zu opfern er sich anmaßte. Wohl könnte die Vernunft fragen: „Was für ein annehmbareres Opfer könnte ein Mensch darbringen als das, was er durch die Arbeit seiner Hände im Schweiß seines Angesichts errungen hat?“ Aber Gott denkt ganz anders, und der Glaube befindet sich stets in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Gott lehrt, und der Glaube erfasst es, dass ein geopfertes Leben erforderlich ist. Anders ist es unmöglich, Gott zu nahen.

So sehen wir auch, dass der Dienst des Herrn Jesus für die Herstellung unserer Beziehungen zu Gott völlig nutzlos gewesen wäre, wenn Er nicht am Kreuz gestorben wäre. Zwar ging Er während seines ganzen Lebens umher und tat Gutes, aber sein Tod war es, der den Vorhang zerriss (Mt 27,51). Nur sein Tod konnte das bewirken. Selbst wenn Er bis heute weitergelebt und fortwährend Gutes getan hätte, so wäre dennoch der Vorhang geschlossen geblieben und hätte den Anbeter gehindert, ins „Allerheiligste“ einzutreten. Dies zeigt uns, auf welch einem falschen Boden Kain als Opfernder und als Anbeter stand. Ein Sünder, der, ohne Vergebung empfangen zu haben, in die Gegenwart des HERRN trat, um ein unblutiges Opfer darzubringen, konnte sich nur der höchsten Anmaßung schuldig machen. Freilich hatte er sich abgemüht, um sein Opfer zustande zu bringen, aber welchen Wert hatte das? Konnte die Mühe eines Sünders den Fluch und Makel der Sünde wegwischen? Konnte sie den Anforderungen eines heiligen Gottes genügen? Konnte sie eine passende Grundlage für die Annahme eines Sünders bieten? Vermochte sie dem Tod seinen Stachel oder dem Hades seinen Sieg zu rauben? Nichts von alledem! „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung“. Kains Opfer ohne Blut war wie jedes andere Opfer dieser Art völlig wertlos. Es bewies, dass er sowohl über seinen eigenen Zustand als auch hinsichtlich des Charakters Gottes völlig unwissend war. „Gott wird nicht von Menschenhänden bedient, als ob er noch etwas nötig habe“ (Apg 17,25). Kain meinte jedoch, auf diese Weise Gott nahen zu können. Und jeder nur äußerlich religiöse Mensch denkt dasselbe. Kain hat im Lauf der Zeit viele Millionen Nachfolger gehabt. Der Kain-Gottesdienst hat sich über die ganze Erde verbreitet. Es ist der Gottesdienst jeder unbekehrten Seele, und er wird gepflegt durch jedes falsche Religionssystem unter der Sonne.

Der Mensch möchte gern Gott zu einem Empfänger machen, statt ihm den Platz eines Gebers einzuräumen, aber das kann nicht sein. Denn „Geben ist seliger als Nehmen“ (Apg 20,35), und sicher muss Gott den gesegneteren Platz haben. „Ohne allen Widerspruch aber wird das Geringere von dem Besseren gesegnet“ (Heb 7,7). Wer könnte ihm zuerst geben? Gott kann die geringste Gabe von einem Herzen annehmen, das die tiefe Wahrheit gelernt hat, die in den Worten enthalten ist: „Von dem deinigen haben wir dir gegeben“. Aber sobald der Mensch sich anmaßt, der „erste“ Geber zu sein, lautet die Erwiderung Gottes: „Wenn mich hungerte, ich würde es dir nicht sagen“ (Ps 50,12). Denn „er wird nicht von Menschenhänden bedient, als ob er noch etwas nötig habe, da er selbst allen Leben und Odem und alles gibt“ (Apg 17,25). Unmöglich kann der große Geber aller Dinge etwas bedürfen. Alles, was wir ihm darbringen können, ist Danksagung, aber diese kann nur dargebracht werden in der klaren Erkenntnis, dass alle unsere Sünden weggetan sind, und dies kann wiederum nur erkannt werden durch den Glauben an die Kraft eines vollbrachten Sühnopfers. Die folgenden Schriftstellen zeigen, unter Gebet gelesen, den wahren Zustand des Menschen vor Gott und die rechte Grundlage der Anbetung: Psalm 50; Jesaja 1,11–18; Apostelgeschichte 17,22–34.

Das Opfer Abels

Betrachten wir jetzt das Opfer Abels: „Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett“ (Kap. 4,4). Er verwirklichte durch Glauben die herrliche Wahrheit, dass man Gott durch ein Opfer nahen kann, dass ein Sünder den Tod eines anderen zwischen sich und die Folgen seiner Sünden stellen kann, und dass den Ansprüchen der Natur Gottes und den Eigenschaften seines Charakters durch das Blut eines fleckenlosen Schlachtopfers (dargebracht, um den Forderungen Gottes und den Bedürfnissen des Sünders zu genügen) begegnet werden kann. Das ist in Kürze die Lehre vom Kreuz, in welchem allein das Gewissen eines Sünders Ruhe finden kann, weil Gott darin vollkommen verherrlicht worden ist.

Jeder von Gott überführte Sünder muss fühlen, dass Tod und Gericht „als Lohn seiner Taten“ (Lk 23,41) ihm bevorstehen, ein Verhängnis, das er durch eigene Kraft nicht verhindern kann. Er mag sich abmühen und arbeiten, mag im Schweiß seines Angesichts ein Opfer zustande bringen, mag Gelübde ablegen und Vorsätze fassen. Er mag seine Lebensweise ändern und mag enthaltsam, sittlich, aufrichtig und (nach menschlicher Auffassung des Wortes) religiös sein. Mit einem Wort, er mag etwas oder alles tun, was im Bereich menschlicher Möglichkeit liegt, aber trotz alledem stehen ihm Tod und Gericht bevor. Er ist nicht imstande, diese beiden dunklen Wolken, die sich an seinem Horizont zusammengezogen haben, zu zerstreuen. Es ist für einen Sünder unmöglich, sich durch eigene Werke in Leben und Triumph zu versetzen, ja, gerade seine Werke dienen nur dazu, um ihn für Tod und Gericht zuzubereiten.

Hier ist nun der Punkt, wo das Kreuz eintritt. In ihm sieht der überführte Sünder die Vorsorge Gottes für seine Schuld und seine Bedürfnisse. Hier kann er auch sehen, dass Tod und Gericht weggeräumt und Leben und Herrlichkeit an ihre Stelle gesetzt sind. Christus hat für den wahren Gläubigen die Aussicht auf Tod und Gericht entfernt und den Gesichtskreis mit Leben, Gerechtigkeit und Herrlichkeit ausgefüllt. „Er hat den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2. Tim 1,10). Er hat Gott verherrlicht, indem Er das beseitigt hat, was uns für immer von seiner heiligen Gegenwart getrennt hätte. „Jetzt aber ist er einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbart worden zur Abschaffung der Sünde“ (Heb 9,26). Das alles tritt bildlich in „dem vorzüglicheren Opfer“ Abels vor unsere Augen. Abel versuchte nicht, die Wahrheit über seinen Zustand und den Platz, der ihm als schuldigem Sünder zukam, beiseitezuschieben; er versuchte nicht, die Schärfe des kreisenden Schwertes abzuwenden und sich die Rückkehr zu dem Baum des Lebens zu erzwingen, und er maßte sich nicht an, ein Opfer ohne Blut darzubringen und die Frucht einer verfluchten Erde dem HERRN anzubieten. Er betrat den realen Boden eines Sünders und stellte als solcher den Tod eines Schlachtopfers zwischen sich und seine Sünden, und zwischen seine Sünden und die Heiligkeit eines die Sünde hassenden Gottes. Das war ganz einfach. Abel verdiente den Tod und das Gericht, aber er fand einen Stellvertreter.

So ist es mit jedem Sünder, der sich hilflos fühlt, sich selbst verurteilt und von seinem Gewissen überführt ist. Christus ist sein Stellvertreter, sein Lösegeld, sein herrliches Opfer, sein Alles. Er wird wie Abel fühlen, dass die Frucht des Feldes ihm nie helfen kann, und dass er auch dann ein schuldbeladenes Gewissen haben würde, wenn er Gott die schönsten Früchte der Erde darbrächte, da es ja „ohne Blutvergießung keine Vergebung“ gibt. Die edelsten Früchte und Blumen sind nicht imstande, das Gewissen auch nur von einem einzigen Flecken zu reinigen. Nur das vollkommene Opfer des Sohnes Gottes kann dem Gewissen Ruhe geben. Alle, die durch den Glauben diese göttliche Wahrheit erfassen, werden einen Frieden besitzen, den ihnen die Welt weder geben noch nehmen kann. Der Glaube ist es, der die Seele in den Besitz dieses Friedens bringt. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). „Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain“ (Heb 11,4).

Glaube und Gefühl

Das ist nicht eine Sache des Gefühls, wozu es so viele machen möchten. Es handelt sich lediglich um den Glauben an eine vollendete Tatsache, der durch die Macht des Heiligen Geistes in der Seele eines Sünders gewirkt wurde. Dieser Glaube unterscheidet sich durchaus von einem bloßen Gefühl des Herzens oder einer Zustimmung des Verstandes. Gefühl ist kein Glaube und die Zustimmung des Verstandes ist ebenfalls kein Glaube, wenn manche Menschen auch zu einer solchen Meinung neigen. Welch ein schrecklicher Irrtum ist das! Er macht den Glauben zu einer rein menschlichen Sache, während er in Wirklichkeit ein Grundsatz Gottes ist. Er stellt ihn praktisch auf dieselbe Stufe mit dem Menschen, während er tatsächlich von Gott kommt. Der Glaube ist auch nicht zeitgebunden. Er ist ein unvergänglicher Grundsatz, der seinen Ursprung in Gott selbst hat. Der Glaube erfasst die Wahrheit Gottes und bringt die Seele in seine Gegenwart.

Gefühl und Empfindung können sich niemals über die Quelle erheben, aus der sie hervorkommen, und diese Quelle ist das Ich. Der Glaube dagegen hat es mit Gott und seinem ewigen Wort zu tun und ist ein lebendiges Band, das das Herz mit Gott verbindet, der ihn schenkt. Edle menschliche Gefühle können die Seele nicht mit Gott verbinden. Sie sind weder göttlich noch ewig, sondern menschlich und veränderlich. Sie gleichen dem Wunderbaum Jonas, der in einer Nacht aufschoss und in einer Nacht verdorrte. Das ist nicht das Wesen des Glaubens. Dieser Grundsatz hat teil an dem ganzen Wert, der ganzen Macht und Realität der Quelle, aus der er hervorkommt, sowie an dem Gegenstand, mit dem er es zu tun hat. Er rechtfertigt die Seele (Röm 5,1), reinigt das Herz (Apg 15,9), wirkt durch die Liebe (Gal 5,6), überwindet die Welt (1. Joh 5,4). Gefühle und Empfindungen können nie solche Ergebnisse erzielen. Sie gehören der Natur und der Erde an, während der Glaube Gott und dem Himmel angehört. Sie sind mit dem Ich beschäftigt, während der Glaube mit Christus beschäftigt ist. Sie schauen nach innen und nach unten, während der Glaube nach außen und aufwärts schaut. Sie lassen die Seele in Dunkelheit und Zweifel, während der Glaube sie zu Licht und Frieden leitet. Sie haben es mit ihrem eigenen veränderlichen Zustand zu tun, während der Glaube es mit der unveränderlichen Wahrheit Gottes und dem ewig gültigen Opfer Christi zu tun hat.

Ohne Zweifel wird der Glaube Gefühle und Empfindungen hervorrufen, und zwar durch den Geist gewirkte Gefühle und Empfindungen, aber die Früchte des Glaubens dürfen nicht mit dem Glauben selbst verwechselt werden. Ich bin weder gerechtfertigt durch Gefühle, noch durch Glauben und Gefühle, sondern einfach durch Glauben. Und warum? Weil der Glaube Gott glaubt, wenn Er spricht. Er nimmt ihn beim Wort, er nimmt ihn so an, wie Er sich in der Person und dem Werk des Herrn Jesus Christus offenbart hat. Das ist Leben, Gerechtigkeit und Friede. Gott ergreifen wie Er ist, ist die Summe aller gegenwärtigen und ewigen Segnungen. Wenn die Seele Gott findet, so hat sie alles gefunden, was sie jemals bedarf, aber Gott kann nur erkannt werden durch seine eigene Offenbarung sowie durch den Glauben, den Er selbst schenkt, und der außerdem stets die Offenbarung Gottes als seinen eigentlichen Gegenstand sucht.

So können wir in etwa die Bedeutung und Tragweite des Ausspruchs begreifen: „Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain“. Kain hatte keinen Glauben, und darum brachte er ein Opfer ohne Blut dar. Abel hatte Glauben und opferte daher sowohl Blut als Fett; diese beiden Dinge stellen bildlich die Darbringung des Lebens sowie die Vortrefflichkeit der Person Christi dar. Das Blut deutet das erste an, das Fett das letztere. Weder Blut noch Fett durften unter der mosaischen Haushaltung gegessen werden. Das Blut ist das Leben, und der Mensch unter dem Gesetz hatte kein Anrecht auf das Leben. Im 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums werden wir jedoch belehrt, dass wir ohne den Genuss des Blutes kein Leben in uns haben. „Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes des Menschen esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch selbst“ (Joh 6,53). Christus ist das Leben. Außer ihm gibt es kein Leben. Außer Christus ist alles Tod. „In ihm war Leben“ (Joh 1,4), und in sonst niemand.

Am Kreuz gab Er sein Leben hin, und als Er am Fluchholz hing, wurde die Sünde diesem Leben zugerechnet. Indem Er sein Leben aufgab, wurde daher auch die ihm zugerechnete Sünde weggetan, sie ist in seinem Grab zurückgeblieben, aus dem Er siegreich in der Macht eines neuen Lebens auferstand. Dieses Leben ist jetzt ebenso fest mit der Gerechtigkeit verbunden, wie die Sünde dem am Kreuz hingegebenen Leben zugerechnet wurde. Wenn wir dies genau beachten, wird in unseren Seelen das Bewusstsein von der vollkommenen Abschaffung der Sünde durch den Tod Christi vertieft werden, und wir wissen, dass alles, was dahin zielt, auch zu einer Befestigung unseres Friedens und zu einer größeren Verherrlichung Christi in Verbindung mit unserem Zeugnis und Dienst führen muss.

Der Wert des Opfers

Wir haben in der Geschichte Kains und Abels bereits auf den interessanten und wichtigen Punkt hingewiesen, dass jeder von beiden völlig eins war mit dem von ihm dargebrachten Opfer. Es handelt sich in beiden Fällen nicht um die opfernde Person, sondern ausschließlich um den Charakter ihres Opfers. Daher lesen wir von Abel, dass Gott Zeugnis gab zu seinen „Gaben“. Er legte kein Zeugnis ab von Abel, sondern von dem Opfer Abels, und dies bezeichnet klar den wahren Grund des Friedens und der Annahme eines Gläubigen vor Gott.

In unseren Herzen, ist stets der Hang, unseren Frieden und unsere Annahme auf etwas in uns selbst zu gründen, wenn wir auch zugeben mögen, dass dieses Etwas durch den Heiligen Geist gewirkt ist. Daraus entsteht das beständige Auf-Sich-Schauen, während der Heilige Geist uns dahin leiten möchte, dass wir von uns wegblicken. Für den Gläubigen ist nicht die Frage wichtig: „Was bin ich?“, sondern „Was ist Christus?“ Wenn er in dem Namen Jesu zu Gott gekommen ist, so ist er mit Christus völlig einsgemacht und in seinem Namen angenommen, und er kann ebenso wenig verworfen werden wie der, in dessen Namen er gekommen ist. Ebenso wenig wie Person und Werk Christi infrage gestellt werden können, kann das Heil des schwächsten Gläubigen infrage gestellt werden. Daher ruht die Sicherheit des Gläubigen auf einer Grundlage, die durch nichts erschüttert werden kann. Obwohl er in sich selbst ein wertloser Sünder ist, ist er in dem Namen Christi gekommen und dadurch mit Christus einsgemacht, in Christus und wie Christus angenommen und in dasselbe „Bündel des Lebens“ mit Christus eingeschlossen. Gott zeugt nicht von ihm, sondern von seiner Gabe, und seine Gabe ist Christus. Wie beruhigend ist das! Es ist unser Vorrecht, in der Zuversicht des Glaubens jeden Ankläger auf Christus und sein vollendetes Sühnopfer verweisen zu können. Unsere ganze Kraft ist in ihm. In ihm rühmen wir uns den ganzen Tag. Wir vertrauen nicht auf uns selbst, sondern auf ihn, der alles für uns getan hat.

Der Mörder

Doch der fleischliche Sinn beweist gleich seine Feindschaft gegen diese Wahrheit, die das Herz eines Gläubigen so sehr erfreut. So war es bei Kain. „Und Kain ergrimmte sehr, und sein Angesicht senkte sich“ (Kap. 4,5). Das, was Abel mit Frieden erfüllte, erfüllte Kain mit Wut. Kain verachtete in seinem Unglauben den einzigen Weg, auf dem ein Sünder zu Gott kommen konnte. Er weigerte sich, Blut zu opfern, ohne das keine Vergebung sein kann, und als er deswegen in seinen Sünden nicht angenommen wurde, Abel aber in seiner Gabe annehmlich war, „ergrimmte er sehr, und sein Angesicht senkte sich“. Wie hätte es auch anders sein können? Gott konnte Kain nicht mit seinen Sünden annehmen, und Kain wollte nicht das Blut bringen, das allein Sühnung tun kann. Deshalb wurde er verworfen, und als ein Verworfener bringt er in seinen Wegen die Früchte einer verdorbenen Religion hervor. Er verfolgt und ermordet den wahren Zeugen, den angenommenen, gerechtfertigten Abel, den Mann des Glaubens, und in dieser Tat zeigt er sich als das erste Musterbeispiel aller Anhänger falscher Religion in jedem Zeitalter. Zu allen Zeiten und an allen Orten haben die Menschen sich mehr aus religiösen als aus anderen Gründen zu Verfolgungen hinreißen lassen. Es ist die Weise Kains. Die vollkommene, bedingungslose Rechtfertigung durch den Glauben allein macht Gott zu allem und den Menschen zu nichts. Das liebt der Mensch nicht. Es verursacht ein „Senken seines Angesichts“ und ruft seinen Zorn wach. Nicht dass er einen Grund für seinen Zorn vorbringen könnte, denn wir haben gesehen, dass es sich überhaupt nicht um den Menschen handelt, sondern nur um den Boden, auf dem er vor Gott erscheint. Hätte die Annahme Abels sich auf etwas in ihm selbst gegründet, so wäre der Zorn Kains noch irgendwie zu rechtfertigen gewesen, aber da Abel ausschließlich auf Grund seines Opfers angenommen wurde und Gott nicht ihm, sondern seiner Gabe Zeugnis gab, so fehlte dem Zorn Kains wirklich jede Grundlage. Dies wird denn auch deutlich in den Worten des HERRN: „Ist es nicht so, dass es sich erhebt, wenn du recht tust?“ (V. 7) Das Recht tun bezog sich auf das Opfer. Abel tat wohl, indem er sich hinter ein annehmbares Opfer stellte. Kain aber handelte böse, indem er ein Opfer ohne Blut darbrachte, und sein späteres Verhalten war nur das folgerichtige Ergebnis seines falschen Gottesdienstes.

„Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel; und es geschah, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn“ (Kap. 4,8). So ist es immer gewesen: das Geschlecht Kains verfolgte und tötete stets das Geschlecht Abels. Sowohl der Mensch und seine Religion als auch der Glaube und sein Gottesdienst sind im Lauf der Jahrhunderte stets gleich geblieben, und wo irgend sie einander begegneten, hat es Kampf gegeben.

Kain und seine Nachkommen

Die Mordtat Kains war die Folge und naturgemäße Frucht seines falschen Gottesdienstes. Die Grundlage war schlecht, und das darauf aufgerichtete Gebäude war nicht weniger schlecht. Auch blieb er nicht bei der Mordtat, sondern nachdem er das Urteil darüber vernommen hatte, entfernte er sich aus der Gegenwart Gottes, indem er durch Unwissenheit über Gott hinsichtlich einer Vergebung verzweifelte. Er baute eine Stadt, und in seiner Familie finden wir die Pfleger der nützlichen und verschönernden Künste: Ackerbauer, Musiker und Metallarbeiter. Aus Unwissenheit über den Charakter Gottes hielt er seine Sünde für zu groß, um vergeben werden zu können. Nicht dass er wirklich seine Sünde erkannt hätte, sondern er war unwissend über Gott. Gerade in seinen Gedanken über Gott offenbarte er die schreckliche Frucht des Sündenfalls. Er verlangte nicht nach Vergebung, weil er nicht nach Gott verlangte. Er hatte kein Gefühl von seinem wirklichen Zustand, kein Verlangen nach Gott und keine Einsicht darüber, wie ein Sünder Gott nahen kann. Er war durch und durch verdorben und auf einem ganz verkehrten Weg. Er hatte nur den einen Wunsch, aus der Gegenwart Gottes wegzugehen und sich in der Welt und ihrem Treiben zu verlieren. Er meinte, gut ohne Gott leben zu können und begann daher so gut er konnte, die Welt zu verschönern, um sie zu einem angenehmen Ort und sich selbst zu einem angesehenen Mann zu machen, obwohl die Welt in den Augen Gottes unter dem Fluch lag, und er selbst „unstet und flüchtig“ war (V. 14).

Das war „der Weg Kains“, und auf diesem Weg eilen auch jetzt Millionen dahin, die in ihrem Charakter keineswegs das religiöse Element entbehren, sondern die Gott gern etwas opfern, gern etwas für ihn tun und es für richtig halten, ihm die Ergebnisse ihrer Arbeit darzubringen. Aber Hand in Hand damit geht die Anstrengung, die Welt zu veredeln und das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Das Heilmittel Gottes kann reinigen, aber man hat es verworfen, die Anstrengung des Menschen will verbessern und an dessen Stelle treten. Das ist „der Weg Kains“ (Jud 11).

Wir brauchen nur um uns her zu blicken, um zu sehen, wie dieser Weg heute die Oberhand gewinnt. Obgleich die Welt mit dem Blut eines Größeren als Abel, mit dem Blut Christi selbst, befleckt ist, versucht der Mensch doch, einen angenehmen Aufenthaltsort aus ihr zu machen. Wie in den Tagen Kains die Klänge „der Lautenspieler und Pfeifer“ den Schrei des Blutes Abels erstickten, so hört auch jetzt das Ohr des Menschen lieber andere Laute, als die Sprache Golgathas, und sein Auge blickt lieber auf andere Dinge, als auf den gekreuzigten Christus. Nicht nur wird den Bedürfnissen des Menschen als Geschöpf entsprochen, sondern der menschliche Erfindungsgeist ersinnt auch unaufhörlich Dinge, die ihm begehrenswert erscheinen. Ja, er begehrt sie nicht nur, sondern bildet sich ein, dass das Leben ohne sie unerträglich sein würde. So kann z. B. eine Reise, die vor einigen Jahrzehnten noch Tage und Wochen dauerte, heute in Stunden gemacht werden, und doch beklagt man sich, wenn sich die Ankunft verzögert. Der Mensch will keine Beschwerden mehr auf sich nehmen. Er benutzt die Errungenschaften der Zivilisation und Technik, als könnte er in seiner eigenen Weise jenes herrliche Zeitalter herbeiführen, wo „das Meer nicht mehr ist“ (Off 21,1).

In Verbindung hiermit gibt es eine Fülle so genannter Religion. Der Mensch will im Allgemeinen nicht ohne Religion sein. Viele sind daher bereit, ein Siebtel ihrer Zeit der Religion, oder, wie sie meinen, ihren ewigen Interessen, zu widmen. Es bleiben ihnen dann ja noch sechs Siebtel für zeitliche Interessen zur Verfügung. Aber ob sie für die Zeit oder für die Ewigkeit arbeiten, sie tun es in Wirklichkeit für sich selbst. Das ist „der Weg Kains“.

Wie ganz anders ist der Weg des Mannes des Glaubens! Abel fühlte den Fluch und erkannte ihn an. Er sah die durch die Sünde entstandene Verunreinigung, und in heiliger Glaubensenergie opferte er das, was der Sünde in Gott entsprechender Weise begegnete. Er suchte und fand einen Zufluchtsort in Gott selbst, und anstatt eine Stadt auf der Erde zu bauen, fand er nur ein Grab in ihr. Die Erde, die nach außen den Geist und die Wirksamkeit Kains und seiner Familie zeigte, war mit dem Blut eines gerechten Mannes befleckt, und heute ist die Erde, auf der wir leben, befleckt mit dem Blut des Sohnes Gottes. Das gleiche Blut, das die Versammlung rechtfertigt, verdammt die Welt. Der Gläubige sieht den dunklen Schatten, den das Kreuz Jesu über all den Glanz dieser vergänglichen Welt wirft. „Die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1. Kor 7,31). Schon bald wird alles vorüber sein. Dem „Weg Kains“ wird der „Irrtum Balaams“ in vollendeter Form folgen, diesem wiederum der „Widerspruch Korahs“, und dann? Der Abgrund wird seinen Mund öffnen, um die Gottlosen zu verschlingen, und sich wieder schließen, um sie dem „Dunkel der Finsternis in Ewigkeit“ zu übergeben (Jud 11–13).

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