Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Kapitel 15

Betrachtung über Matthäus (Synopsis)

Dieses Kapitel zeigt uns den Menschen und Gott, den inneren Gegensatz der Lehre Jesu zu derjenigen der Juden; und daher wird das jüdische System von Gott verworfen. Wenn ich hier von dem jüdischen System rede, so verstehe ich darunter den ganzen sittlichen Zustand der Juden, der durch ihre Heuchelei zu einem System gestempelt wurde. Durch diese Heuchelei suchten sie zwar das Böse zu verbergen, in Wirklichkeit aber vermehrten sie es nur in den Augen des Gottes, vor den sie hintraten. Sie bedienten sich seines Namens, um unter dem Vorwand der Frömmigkeit selbst unter die Forderungen des natürlichen Gewissens herabzusinken. Auf diesem Weg wird ein religiöses System das große Werkzeug der Macht des Feindes, und das umso mehr, wenn das, wovon dieses System noch den Namen trägt, von Gott eingesetzt worden ist. Aber dann ist das Gericht des Menschen besiegelt; das Judentum zeigt uns, was der Mensch unter Gottes Gesetz und Behandlung ist.

Das Gericht, das der Herr über dieses System der Heuchelei ausspricht, stellt einerseits die daraus hervorgehende Verwerfung Israels ans Licht und gibt anderseits Anlass zu einer viel weitergehenden Unterweisung; und indem diese das Herz des Menschen ergründet und ihn nach dem, was aus demselben hervorkommt, beurteilt, zeigt sie, dass dieses Herz eine Quelle alles Bösen ist, und dass daher alle wahre Sittlichkeit in der Überzeugung von und in dem Bekenntnis der Sünde ihre Grundlage haben muss; denn ohne diese Überzeugung und dieses Bekenntnis ist das Herz stets unwahr und schmeichelt sich selbst vergeblich. Der Herr geht deshalb auch allem auf den Grund. Er tritt aus den besonderen und zeitlichen Beziehungen des jüdischen Volkes heraus, um von der wahren Sittlichkeit zu reden, die allen Zeitaltern angehört. Die Jünger beobachteten die Überlieferungen der Ältesten nicht (V. 1. 2). Um diese kümmerte der Herr sich nicht, aber Er benutzte die Anklage der Pharisäer, um ihrem Gewissen die Wahrheit vorzustellen, dass das durch die Verwerfung des Sohnes Gottes herbeigeführte Gericht sich schon auf Grund jener Beziehungen rechtfertige, die zwischen Gott und Israel bestanden. Die Schriftgelehrten und Pharisäer machten durch ihre Überlieferungen das Gebot Gottes in einem höchst wichtigen Punkte wirkungslos, in einem Punkt, von dem alle irdischen Segnungen für die Kinder Israel abhingen. Zugleich benutzt Jesus ihre eigenen Satzungen, um die vollendete Heuchelei, den Eigennutz und Geiz derer bloßzustellen, die vorgaben, die Nation zu leiten und deren Herz zur Sittlichkeit und zur Anbetung des HERRN heranzubilden. Jesajas hatte bereits das Gericht über sie angekündigt.

Dann zeigt Er der Menge (V. 10 u. f.), dass es sich um das handle, was der Mensch ist, und um das, was aus seinem Herzen, aus seinem Innern hervorgeht, und Er beschreibt die schlechten Ströme, die aus dieser verdorbenen Quelle hervor fließen. Aber die einfache Wahrheit von dem menschlichen Herzen, so wie Gott es kennt, ist den Selbstgerechten dieser Welt ein Ärgernis und war selbst den Jüngern unverständlich. Nichts ist so einfach wie die Wahrheit, wenn sie gekannt wird, nichts so schwer, so dunkel wie die Wahrheit, wenn das Herz des Menschen, der sie nicht besitzt, sich ein Urteil über sie bilden soll. Denn er urteilt nach seinen eigenen Gedanken, und in diesen ist die Wahrheit nicht. Mit einem Wort, Israel, und besonders das religiöse Israel, und wahre Sittlichkeit werden einander gegenübergestellt; der Mensch erscheint unter der ihm zukommenden Verantwortlichkeit und in seinen wahren Farben vor Gott.

Jesus erforscht das Herz. Da Er aber in Gnade wirkt, handelt Er nach dem Herzen Gottes und offenbart dieses Herz, indem Er für den einen wie für den anderen über die festgesetzten Grenzen der Beziehungen Gottes zu Israel hinausgeht. Eine göttliche Person, Gott, kann sich wohl innerhalb des Bundes, den Er gegeben hat, bewegen, kann aber nicht auf denselben beschränkt werden. Und die Untreue seines Volkes gegenüber diesem Bund ist gerade die Veranlassung zu offenbaren, dass Er über jenen Platz hinausgeht. Zugleich sieht man hier, wie eine Religion von Überlieferungen dahin führt, das sittliche Urteil zu verblenden. Was war klarer und einfacher als die Tatsache, dass das, was aus Mund und Herz hervorging, einen Menschen verunreinigte, nicht aber das, was er aß? Aber infolge des bösen Einflusses der pharisäischen Belehrung, die äußere Formen an die Stelle der inneren Reinheit setzte, konnten die Jünger es nicht verstehen.

Der Herr beendet damit seine Unterredungen mit den Gelehrten Jerusalems und verlässt das Gebiet Israels, um jene Orte zu besuchen, die von den jüdischen Vorrechten am weitesten entfernt lagen. Er begibt sich in die Gegenden von Tyrus und Sidon (V. 21), in jene Städte, die Er selbst in Kap. 11 als Beispiele weitester Entfernung von der Buße angeführt hatte, verhärteter selbst als Sodom und Gomorra.

Aus diesen Gegenden kommt eine Frau (V. 22 u. f.). Sie gehörte nach den Grundsätzen, die Israel von anderen Völkern unterschieden, einem verfluchten Geschlecht an (5. Mo 7,1–2). Sie war eine Kanaaniterin. Sie kommt, um die Hilfe Jesu zugunsten ihrer Tochter zu erbitten, die von einem Dämon besessen war. Indem sie diese Gnade von dem Herrn erbittet, redet sie Ihn mit dem Titel an, den der Glaube dem Herrn in seiner Verbindung mit den Juden zuerkannte; sie nennt Ihn: „Sohn Davids“. Das gibt Veranlassung zu einer vollständigen Entwicklung der Stellung des Herrn sowie der Bedingungen, unter denen der Mensch hoffen konnte, an den Ergebnissen seiner Güte teilzuhaben, ja, führt zu der Offenbarung Gottes selbst.

Als Sohn Davids hatte der Herr nichts mit einer Kanaaniterin zu schaffen. Er antwortet ihr deshalb nicht. Seine Jünger wünschen zwar, dass ihrer Bitte willfahrt werde, um sie loszuwerden und ihrer Zudringlichkeit ein Ende zu machen. Der Herr aber erwidert ihnen, dass Er nur gesandt sei zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Das war in der Tat so. Was auch die Ratschlüsse Gottes sein mochten, die bei Gelegenheit seiner Verwerfung offenbart wurden (siehe Jes 49), war Er doch der Diener der Beschneidung um der Wahrheit Gottes willen, um die den Vätern gemachten Verheißungen zu erfüllen (Röm 15,8).

Die Frau aber begehrt in einfacher und gerader Sprache (dem natürlichen Ausdruck ihrer Gefühle) die erbarmungsvolle Dazwischenkunft Dessen, der helfen konnte, und auf Dessen Macht sie ihr Vertrauen setzte. Der Herr antwortet ihr, dass es sich nicht gezieme, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden zu geben. Das war in der Tat, insofern der Herr zu Israel gekommen war, eine seiner wahren Stellung angemessene Antwort. Die Verheißungen gehörten den Kindern des Reiches; der Sohn Davids war der Diener dieser Verheißungen. Konnte Er als solcher den Vorzug des Volkes Gottes beiseite setzen?

Allein der Glaube, der seine Kraft aus dem dringenden Bedürfnis schöpft, und der keine andere Hilfsquelle findet als in dem Herrn selbst, nimmt das Demütigende seiner Stellung an und denkt, dass sich bei dem Herrn Brot genug finde, um auch den Hunger derer zu stillen, die kein Anrecht darauf haben. Er harrt aus, weil die Not gefühlt wird und Vertrauen auf die Macht Dessen vorhanden ist, der in Gnade gekommen war.

Was hatte der Herr in seiner scheinbaren Härte getan? Er hatte die arme Frau zu dem Gefühl und zu dem Ausdruck ihres wahren Platzes vor Gott geführt, d. h. zu der Wahrheit im Blick auf sie selbst. War es denn wirklich wahr, dass Gott nicht so gut war, wie sie glaubte? nicht so reich an Erbarmen gegen den Hilflosen, dessen einzige Hoffnung und Stütze dieses Erbarmen war? Das wäre eine Leugnung des Charakters und der Natur Gottes gewesen, wovon Jesus der Ausdruck und der wahre Zeuge auf Erden war – eine Leugnung seiner selbst und des Zweckes seiner Sendung, Er konnte nicht sagen: „Gott hat kein Krümel für solche, wie du bist.“ Er antwortet aus der Fülle seines Herzens: „Frau, dein Glaube ist groß! dir geschehe, wie du willst.“ Gott überschreitet die engen Grenzen seines Bundes mit den Juden, um in seiner unumschränkten Güte nach seiner eigenen Natur zu handeln. Er überschreitet sie, um Gott in Güte zu sein, und nicht nur der HERR in Israel. Diese Güte aber erweist sich gegen eine Seele, die angesichts derselben zu der Erkenntnis gebracht wird, dass sie kein Recht daran hat. Zu dieser Erkenntnis hatte die scheinbare Härte des Herrn sie geleitet; sie empfing alles aus Gnaden, weil sie in sich selbst ganz unwürdig war.

In dieser und nur in dieser Weise empfängt jede Seele die Segnung. Das Gefühl der Not genügt nicht; dieses Gefühl hatte die Frau von Anfang an und wurde durch dasselbe zu Jesu getrieben. Es genügt auch nicht zu erkennen, dass der Herr Jesus der Not entsprechen kann; die Frau kam in diesem Bewusstsein. Nein, wir müssen in der Gegenwart der einzigen Quelle der Segnung sein und dort zu dem Gefühl gebracht werden, dass, obgleich wir da sind, wir kein Recht haben, sie uns zunutze zu machen. Das ist eine schreckliche Lage; wenn man aber so weit gekommen ist, dann ist alles Gnade. Gott kann dann nach seiner eigenen Güte handeln; und Er entspricht jedem Wunsch, den das Herz für sein Glück hegen mag.

Wir sehen hier also Christus als einen „Diener der Beschneidung, um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen“, und zugleich, „damit die Nationen Gott verherrlichen möchten um der Begnadigung willen, wie in Röm 15,8+9 geschrieben steht. Die letztgenannte Wahrheit stellt zugleich den wahren Zustand des Menschen und die gänzliche und vollkommene Gnade Gottes ans Licht. Dieser Gnade gemäß handelt Er, während Er zugleich seinen Verheißungen treu bleibt; und die Weisheit Gottes wird in einer Weise entfaltet, die Unsere Bewunderung hervorruft.

Man sieht, wie sehr die Einführung der Geschichte der Kanaaniterin an dieser Stelle den vorliegenden Teil unseres Evangeliums entwickelt und erläutert. Der Anfang des Kapitels stellt den sittlichen Zustand der Juden vor uns, die Falschheit pharisäischer und priesterlicher Religiosität; dann zeigt es, was der wahre Zustand des Menschen als Mensch ist und was aus dem Herzen des Menschen hervorquillt; und schließlich enthüllt es das in Jesu offenbarte Herz Gottes. Die Handlungsweise Jesu mit der Kanaaniterin zeigt die Treue Gottes betreffs seiner Verheißungen, und die schließlich gewährte Segnung offenbart die volle Gnade Gottes in Verbindung mit der Offenbarung des wahren, von dem Gewissen anerkannten Zustandes des Menschen – eine Gnade, die sich über den Fluch, der auf dem Gegenstand dieser Gnade ruhte, ja selbst über alles erhebt, um sich einen Weg bis zu dem Bedürfnis zu bahnen, das dar Glaube ihr darbringt.

Jetzt verlässt der Herr die Gegend von Tyrus und Sidon (V. 29 u. f.) und begibt sich nach Galiläa, an den Ort, wo Er mit dem verachteten Überrest der Juden in Verbindung war. Hier, wo weder Zion, noch der Tempel, noch Jerusalem ist, befindet sich Jesus bei den Armen der Herde, bei dem in tiefer Finsternis sitzenden Volke (Jes 8 u. 9). Dorthin folgen seine Erbarmungen diesem armen Überrest und sind zugunsten desselben wieder tätig. Er erneuert nicht nur die Beweise seines zärtlichen Mitgefühls; sondern auch seiner Gegenwart, der Gegenwart Dessen, der die Armen seines Volkes mit Brot sättigte. Doch handelt Er hier nicht nach der verwaltenden Macht, die Er seinen Jüngern verleihen konnte (wie in Mt 14,15–19), sondern nach seiner eigenen Vollkommenheit und indem Er von sich aus tätig ist. Er sorgt für den Überrest seines Volkes, weshalb sieben Körbe voll Brocken gesammelt werden (V. 37). Auch geht Er hinweg, ohne dass sich irgendetwas anderes ereignete.

Wir haben hier also gesehen, wie eine sich nie verändernde Sittenlehre und Wahrheit im Innern an die Stelle der Heuchelei äußerer Formen treten, wie das gesetzlich religiöse Gefühl und das Herz des Menschen sich als eine Quelle von Bösem (und nichts als Bösem) erweist, und wie endlich das Herz Gottes sich offenbart, indem es sich über alle Zeitverwaltungen erhebt, um in Christus volle Gnade ans Licht zu stellen. Diese Verwaltungen oder göttlichen Haushalte werden, obwohl durchaus anerkannt, beiseite gesetzt, und indem das geschieht, zeigt es sich deutlich, was der Mensch und was Gott ist. Es ist ein wunderbares Kapitel, sowohl bezüglich dessen, was im Blick auf Gott ewige Wahrheit ist, als auch bezüglich dessen, was der Mensch ist gemäß der Offenbarung Gottes über ihn. Und man beachte, dass dies Anlass gibt zur Offenbarung der Versammlung (Gemeinde) im folgenden Kapitel, die, anstatt ein neuer Haushalt zu sein, gegründet ist auf das, was Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, ist. Im 12. Kapitel wurde Christus, was den israelitischen Haushalt betrifft, verworfen, und im 13. Kapitel trat das Reich der Himmel an dessen Stelle. Hier, im 15. Kapitel, wird der Mensch und was er aus dem Gesetz gemacht hatte, beiseite gesetzt, und Gott handelt in seiner eigenen Gnade, erhaben über allen Verwaltungen. Danach kommt die Versammlung und schließlich das Reich in Herrlichkeit.

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